XXX

Die Schlacht gegen Ogé und Chavannes hatte der Provinzialversammlung des Nordens einen gehörigen Schrecken versetzt, weshalb sie, sowohl aus Rachsucht als auch zur Abschreckung der übrigen affranchis, von den spanischen Behörden die Auslieferung der beiden Männer und ihrer Gefährten forderte.

«Die spanischen Behörden werden sie ihnen niemals aushändigen», versicherte Lambert Beauvais voller Überzeugung.

«Das hoffe ich», entgegnete Beauvais, weniger optimistisch.

Am nächsten Tag erfuhren sie, dass sie nicht nur den Weißen von Cap Français übergeben, sondern darüber hinaus vor ein Sondergericht gestellt worden waren, das sie zum Tode verurteilt hatte. Außer sich vor Sorge traf Joseph bei Minette ein, die ihm anbot, ihn auf der Stelle nach Cap Français zu begleiten. Abends kam Labadie persönlich vorbei und brachte ihnen das Geld für die Reise. Minette gab Lise und den kleinen Jean in Jasmines Obhut, bevor sie gemeinsam mit Joseph ihren Platz in der Kutsche einnahm. Es war eine anstrengende Fahrt. Nachdem sie einen ganzen Tag durchgeschüttelt worden waren, erreichten sie vollkommen erschöpft Cap Français.

Dort herrschte ein beispielloser Trubel.

Cap Français mit seinen von breiten Balkonen geschmückten Steinhäusern, seinen malerischen kleinen Straßen und den nach neuestem Pariser Geschmack ausgestatteten Läden übertraf Port-au-Prince sowohl durch die Pracht seiner Wohnhäuser als auch in der Zahl der Schiffe, die das Meer bedeckten. Minette und Joseph hatten sogar den Eindruck, dass die Menschenschar hier dichter, geschäftiger und bunter war.

Die Nachricht, die sie erreicht hatte, stimmte. Das erfuhren sie, sobald sie das Hotel betraten. Ein hellhäutiger Mulatte kam ihnen entgegen, um ihnen das Gepäck abzunehmen.

«Wollen Sie ein Zimmer?»

«Nein, zwei Zimmer.»

«Ah …! Und Sie sind sicher auch hier, um die Hinrichtung von Ogé und Chavannes zu sehen, genau wie all die anderen?»

Minette sah zu Joseph hinüber, der leichenblass wurde. Sie nahm seine Hand.

«Wann findet das Spektakel denn statt?», fragte sie gespielt gleichgültig.

«Na, morgen früh. Es heißt, sie wurden zum Tod durch Rädern verurteilt. Die Weißen sind wütend und haben sich geschworen, keine Gnade walten zu lassen …»

Sie gingen die Treppe hoch in den ersten Stock, wo der dicke Mulatte ihnen zwei nebeneinanderliegende Zimmer anwies.

Nachdem er sie allein gelassen hatte, nahm Minette Josephs Gesicht in beide Hände.

«Du darfst dich jetzt nicht verrückt machen, hörst du. Der Wirt hat vielleicht übertrieben. Wir werden bald Genaueres erfahren. Ruh dich aus. Ich werde mich ein wenig frisch machen, dann gehen wir zusammen hinaus.»

Mutlos setzte sich Joseph auf sein Bett; vor sich sah er eine Szene, die gewiss schrecklich sein musste, denn seine Hände zitterten. Plötzlich vergrub er das Gesicht in den angewinkelten Armen und ließ sich nach hinten fallen.

«Ruhig, ganz ruhig», sagte Minette und streichelte ihm über das Haar.

Dann seufzte sie und ging in ihr eigenes Zimmer. Sie gab sich nicht die Mühe, sich frisch zu machen. Auf Zehenspitzen schlich sie an Josephs geschlossener Zimmertür vorbei und lief die Treppe hinunter. Ein Paar war gerade angekommen: zwei ältere Schwarze, die von einem jungen Sklaven zu anderen Zimmern geführt wurden. Minette hielt nach dem dicken Mulatten Ausschau und entdeckte ihn hinter einem Tresen, wo er etwas in ein Heft schrieb. Sie ging zu ihm.

«Wird es den Farbigen denn erlaubt sein, der Hinrichtung von Ogé und Chavannes beizuwohnen?», erkundigte sie sich, wobei sie ihre Sorge mit einem strahlenden Lächeln überspielte.

«Natürlich. In der Zeitung wurde gestern eigens erwähnt, dass wir dazu eingeladen sind.»

«Dann werde ich hingehen», versprach sie, immer noch lächelnd.

«Das wird kein schöner Anblick …»

«Glauben Sie?»

Sie ging wieder nach oben und klopfte an Josephs Tür. Er öffnete.

«Weißt du was», sagte sie, «wir gehen heute Abend nicht nach draußen, sondern ruhen uns lieber aus. Morgen ist immer noch Zeit genug, um Erkundigungen einzuholen …»

Wie von Sinnen stieß er sie zur Seite und stürmte die Treppe hinunter.

«Joseph, wo willst du hin?»

Er floh, ohne ihr zu antworten.

Sie ging in ihr Zimmer und legte sich hin. Ihr Kopf dröhnte, und ihr Herz schlug in rasantem Tempo. Sie stöhnte leise und drehte sich auf die Seite. So überraschte sie der Schlaf. Als sie wieder erwachte, brach schon der Morgen an. Beim Gedanken an Joseph zuckte sie zusammen. Sie verließ das Zimmer und klopfte an seiner Tür. Als sie keine Antwort erhielt, drehte sie den Knauf. Die Tür ging auf, der Raum war leer. Hastig zog sie sich um und eilte nach unten. Der dicke Mulatte war früh auf den Beinen und ging bereits seinen Beschäftigungen nach.

«Bitte, haben Sie meinen Bruder gesehen?»

«Ihren Bruder? Ah, ja …»

Er lachte.

«Er ist noch nicht wieder zurück. Er muss die Nacht dort verbracht haben, wo die jungen Leute seines Alters hingehen. Es gibt hier einige berühmte Freudenhäuser, ja, gleich nebenan soll es eine Schwarze geben, die für eine piastre-gourde pro Kopf nackt vor den Gästen tanzt … So etwas sollte ich einem jungen Fräulein wie Ihnen nicht erzählen, aber ich will Sie nur beruhigen. Die jungen Männer gehen gern in fröhliche Lokale … Ach, sehen Sie, da kommt er ja.»

Und in welchem Zustand: Seine Kleidung war zerknittert, sein Haar zerwühlt, er war schmutzig, dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, und sein Gang war unsicher!

Der dicke Mulatte lachte erneut.

«Ach, diese jungen Leute sind doch alle gleich!»

Minette zog Joseph mit sich, ohne ihm auch nur eine Frage zu stellen. Er wirkte so verlegen, wenn er sie ansah, dass sie ihn allein ließ und in ihr Zimmer zurückging. Wo kam er her? In welchen Spelunken hatte er die Nacht verbracht? Womit hatte er Bekanntschaft gemacht, dass er jetzt so verändert wirkte? Sein Blick wich dem ihren aus, und hinter seinem gezwungenen Lächeln und seinen schroffen Gesten schien er eine neue Gemütsverfassung verbergen zu wollen, die für ihn selbst noch erschreckender zu sein schien.

Zwei Stunden hing Minette solchen Gedanken nach, bevor sie zu Joseph hinüberging. Die Tür stand einen Spalt offen. Sie schob sie auf: Er lag fest schlafend auf dem Bauch, ein Bein hing aus dem Bett. Sie ging wieder, ohne ihn zu wecken, und trat allein auf die Straße hinaus.

Draußen schob sich die festlich gekleidete Menge bereits an den Läden vorbei in Richtung Paradeplatz.

Dort war ein Bereich aus gestampfter Erde abgesperrt worden. Die herbeiströmende Menge teilte sich: Die Weißen gingen nach rechts und die Farbigen nach links. Minette folgte den Leuten ihres Standes und näherte sich der Absperrung. Zwei riesige, in der Sonne funkelnde Räder lehnten an eisernen Stangen, die vier Henker gerade gebracht hatten.

«Wozu dienen denn die Eisenstangen?», erkundigte sich jemand.

«Es heißt, ihnen sollen bei lebendigem Leib die Knochen gebrochen werden.»

«Tut das sehr weh?»

«Das können Sie sie gleich selbst fragen.»

Als die beiden Gefangenen mit hinter dem Rücken zusammengebundenen Händen herangeführt wurden, versuchte Minette zu erraten, welcher von ihnen Vincent Ogé sein mochte. Beide hielten den Kopf hoch erhoben und blickten unverwandt in die neugierige Menge. Geschickt schlüpfte sie zwischen den Umstehenden hindurch, bis sie die vorderste Reihe erreichte, wo sie sich neben eine stattliche alte, schwarze Matrone stellte.

«Mein Gott», murmelte diese leise und bekreuzigte sich.

Die Zuschauer in der ersten Reihe berührten die Absperrung und waren nur wenige Meter von den Gefangenen entfernt. Rechts warteten ungeduldig die Weißen, links standen die Farbigen, in weniger großer Zahl, die Gesichter von Anspannung und Entsetzen gezeichnet.

Minette betrachtete die Gefangenen. Welcher war Vincent? Der eine war ein Mulatte mit lockigem Haar, der andere hatte dunklere Haut und erinnerte in seinem Äußeren eher an Joseph. Doch es war der Mulatte, der ihm ähnlich sah. In seinen fest auf die Menge gerichteten Augen spiegelte sich vornehmer Stolz. Als der Henker sich ihm näherte, trat ein rebellischer Ausdruck in seine Züge. In diesem Moment ähnelte er Joseph so sehr, dass Minette nicht länger an seiner Identität zweifelte. Das war er, Vincent Ogé. Nachdem der Henker die Fesseln an seinen Händen gelöst hatte, hob er sie zum Himmel und rief: «Vergesst nichts von dem, was ihr gleich sehen werdet, meine Brüder.»

Minette hatte Joseph schon so lange nicht mehr reden gehört, dass sie erschauerte. Ihr war, als hätte er gerade gesprochen und nicht sein Bruder. Es war die gleich tiefe, volltönende Stimme, die gleiche langsame, gepflegte Aussprache.

Jean-Baptiste Chavannes, dem man ebenfalls die Hände gelöst hatte, streckte sie nach der linken Seite der Absperrung.

«Ich klage die Weißen an», rief er mit furchterregender Stimme, «vor der Nachwelt klage ich die Weißen, unsere Henker, an, und unseren Brüdern hinterlasse ich als Vermächtnis den Auftrag, unser Martyrium zu rächen.»

Ein allgemeiner Aufschrei übertönte seine Stimme. Die Henker hatten die Gefangenen gepackt und banden sie mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen auf die Räder. Minette senkte den Kopf. Übelkeit erfasste sie. Sie legte eine Hand an ihren Hals und hob den Kopf. Im selben Moment zerriss ein entsetzlicher Schrei die Stille: Die Henker hoben die Eisenstangen in die Höhe und begannen damit, die Gliedmaßen der Verurteilten zu brechen. Bald verwandelten sich ihre Schreie in grausiges Gebrüll. Eine farbige Frau lehnte sich an einen Baum und übergab sich weinend. Minette hielt sich die Ohren zu und floh. Die Schreie verfolgten sie bis ins Hotel, bis ins Zimmer von Joseph, der aufwachte und sie aus angsterfüllten Augen anstarrte. Sie warf sich auf ihn und presste ihm schluchzend die Hände auf die Ohren.

«Hör nicht hin, Joseph … Hör nicht hin!»

Er warf sich auf den Boden, biss wie von Sinnen in seine Laken, in die Matratze und stieß verstörende Laute aus, die beinahe so klangen wie die der Gemarterten. Minette fiel auf die Knie.

«Sie werden sie rächen, warte es nur ab, sie werden sie rächen», wiederholte sie unablässig. «Ihre Qualen und ihr Tod werden nicht vergebens sein, unsere Brüder werden sie rächen, sie haben gesprochen, es wird nicht vergebens sein …»

Sie half ihm hoch. Weinend sackte er auf dem Bett zusammen und vergrub den Kopf unter dem Kissen, um nicht länger die seltsam gedämpften und immer erschütternderen Schmerzensschreie hören zu müssen, die noch die ganze Nacht hindurch anhalten und die Einwohner von Cap Français am Schlafen hindern sollten.

Als am nächsten Morgen die Dämmerung anbrach, verriet die Stille, die auf ihre Schreie, dann ihr Stöhnen folgte, dass die Verurteilten tot waren. Ihre Leichen wurden ihren Müttern übergeben, zwei alten, vor Grauen erstarrten Frauen, die man mit Gewalt in ihren Gemeinden festgehalten hatte und denen man nun Särge aushändigte, in denen Leichen mit zerschmetterten Gliedern lagen. Joseph blieb in Dondon bei Vincents Mutter, und Minette legte die lange Reise von Cap Français nach Port-au-Prince allein zurück.

Diesmal machte sie Halt in Arcahaie. Sie war mutlos, wie zerbrochen. Sie brauchte die Kraft und rohe Vitalität von Jean Lapointe. Sie ging zu Fuß nach Boucassin und stieg mit ihrer Tasche in der Hand den langen Abhang hinauf. Als das kleine Haus mit seiner einzigen Galerie in Sicht kam, wurde sie von einer solchen Flut an Erinnerungen überwältigt, dass sie am Wegrand zusammensackte und mit geschlossenen Augen nach Atem rang. Lucifer und Satan kamen aufgeregt bellend angelaufen, leckten ihr die Hände und sprangen eilig wieder fort, um ihren Herrn zu benachrichtigen.

Sie vermied es, als Erste den Bann zu brechen, und schob die Erinnerung an das in Cap Français erlebte Grauen bewusst von sich. Sie war nicht hier, um über solche Dinge zu reden. Sie gab sich ganz dem Vergnügen hin und genoss die egoistische Freude darüber, endlich glücklich zu sein. Die Fragen, mit denen er sie bestürmte, betrafen allein die Liebe: «Warst du je in Versuchung, einen anderen zu lieben? Bist du mir treu gewesen? Ist deine Stimme immer noch so schön?»

Fünf Tage währte der Zauber, dann kam der Verwalter in gestrecktem Galopp angeritten: In der Nacht waren sechs der besten Sklaven geflohen.

Lapointe bekam einen Wutanfall, ließ sein Pferd satteln und ritt zum Atelier, von wo gleich darauf Schreie herüberklangen. Minette horchte bestürzt. Diese Schreie erinnerten sie an die von Ogé und Chavannes. Sie wollte nicht glauben, dass ihr Geliebter die Ursache dafür war. Bleich stand sie, umgeben von zitternden Sklaven, auf der Galerie und wartete auf ihn. Ninninne trat neben sie.

«Mein Gott», sagte sie, «er ist so wütend. Zu viele Sklaven fliehen.»

Ihr Rücken krümmte sich, und sie schüttelte den alten Kopf, um den sie einen schwarzen madras geknotet hatte.

«Fleurette und Roseline sind als Erste weggelaufen …»

Plötzlich wehte vom Atelier her ein undefinierbarer Geruch herüber. Im selben Moment wandelten sich die Schreie in unartikuliertes Gebrüll.

«Der Scheiterhaufen!», sagte einer der Sklaven düster.

Aus Angst, sie könne wie beim ersten Mal das Haus verlassen, kehrte Lapointe kurz darauf zurück. Als er eintraf, packte sie gerade ihre Sachen, blass und noch stärker zitternd als seine Haussklaven.

«Was tust du da?», schrie er sie an.

«Ich gehe, und ich werde nie mehr wiederkommen.»

«Weil ich einen der Rädelsführer meiner Sklaven bestraft habe?»

«Du bist bloß ein grausamer Weißer in Verkleidung», erwiderte sie zornig.

«Eines Tages wirst du bereuen, mich beleidigt zu haben. Auch ich arbeite daran, unsere Rechte durchzusetzen.»

«Indem du Schwarze umbringst?»

«Das sind Sklaven.»

«Ach, sei still!»

Er versuchte sie zu besänftigen, indem er das Thema wechselte.

«Liebende sollten einander nur in Liebesdingen Vorwürfe machen.»

«Die Zeiten haben sich geändert, heutzutage will sich die Liebe in alles einmischen.»

Sie war so fest entschlossen, ihre Drohung in die Tat umzusetzen, dass er sie zu umarmen versuchte.

«Du wirst doch nicht wirklich gehen?»

«Lass mich. Fass mich nicht an. Ich hasse dich.»

Sie stieß ihn mit so viel Abscheu von sich, dass er sie überrascht ansah.

«Das ist das zweite Mal, dass du mich wegen der Sklaven verlässt. Eines Tages wirst du vielleicht ihretwegen zu mir zurückkommen.»

Plötzliche Wut erfasste ihn.

«So begreif doch, dass ich ohne sie nichts wäre, gar nichts … Ich muss um jeden Preis versuchen, sie zu halten.»

Als sie nicht antwortete, zuckte er mit den Schultern und half ihr aufs Pferd. Dann reichte er einem Sklaven die Zügel.

«Bring die Herrin zurück», wies er ihn an, und sein Lächeln war rätselhaft und zynisch zugleich.