VI
Am nächsten Morgen klopfte Madame Acquaire in aller Herrgottsfrühe, noch bevor Jasmine die Waren nach draußen gebracht hatte, an ihre Tür und berichtete ihr mit triumphierender Miene von all den Lobeshymnen, die sie über Minettes Talent geerntet hatte. Sie nannte sogar die Namen einiger Kolonisten und erwähnte, dass Mademoiselle de Caradeux wünschte, Minette bei einer Soiree in ihrem Haus singen zu lassen.
«Ein Triumph, mein Kind, ein wahrer Triumph», sagte sie zu Minette. «Beim nächsten Konzert wirst du eine große Opernarie singen, und alle werden begeistert sein.»
Als sie sich verabschiedete, war Jasmine so zufrieden, dass es ihr überhaupt nicht in den Sinn kam, Madame Acquaire zu fragen, welche Gage man Minette im Schauspielhaus zu zahlen gedachte. Es war schon genug, dass man sie überhaupt auftreten ließ, sagte sie sich zur Entschuldigung. Keine allzu großen Ansprüche jetzt, sonst wird alles scheitern!
Fieberhaft wartete sie auf das öffentliche Urteil. Die Zeitung, obwohl Schwarzen und Mulatten gegenüber eigentlich wenig aufgeschlossen, schrieb in schmeichelhaften Worten über die «junge Person» von fünfzehn Jahren, die in der Rolle der Isabelle einen großen Triumph gefeiert habe. In dem Artikel wurden die liberalen Ansichten von Saint-Martins Truppe hervorgehoben, deren Mitglieder bereit gewesen seien, an der Seite eines farbigen Mädchens aufzutreten, und der Verfasser lobte diesen erfreulichen Wandel der Sitten, der die Eigenständigkeit der Schauspieler und ihre Geringschätzung des Kastenwesens bewies.
Obwohl der Artikel in erster Linie eine Lobeshymne auf Minettes Gesangskunst war, enthielt er unmissverständliche gesellschaftskritische Töne, und es bestand die Gefahr, dass er das Missfallen der Kolonisten erregte, die ihre Kastenpolitik aus materiellen Interessen vehement verteidigten. Sie könnten ohne Weiteres Protest einlegen und vom Gouverneur die Einhaltung der Gesetze verlangen. Zum Glück jedoch waren sie diesem spinnefeind, und so zeigten sie keinerlei Anzeichen von Unmut, sondern bewiesen durch ihre gleichgültige Reaktion vielmehr, welch geringe Bedeutung sie Schauspielern im Allgemeinen beimaßen, seien diese nun schwarz oder weiß. Es beeinträchtigte sie nicht persönlich und war letztlich allein Sache des Gouverneurs. Also stellten sie sich blind und erklärten, ein solches Talent fände man in den Kolonien so selten, dass sie der «jungen Person» auch bei ihrem nächsten Konzert Beifall zollen würden.
Der Gouverneur bestellte François Saint-Martin zu sich und ließ ihn der Ordnung halber versprechen, die Theaterbühne nicht mit «diesen Kreaturen» zu überschwemmen, sondern nur echte Talente zu protegieren.
«Sie werden mir zustimmen, Monsieur le Gouverneur, dass dieses junge Mädchen über ein ganz außergewöhnliches Talent verfügt», sagte der Leiter des Schauspielhauses.
«Mein lieber Monsieur Saint-Martin, Gouverneure sind Männer, und glauben Sie mir, sie haben Augen, um zu sehen, und Ohren, um zu hören. Diese ‹junge Person› ist hinreißend schön, und sie singt wie ein Engel. Fördern Sie sie, aber, um Himmels willen, sorgen Sie dafür, dass sie die Einzige bleibt …»
In seinen Augen lag ein heiteres Funkeln, das Saint-Martin seine wahren Ansichten verriet.
«Diese Frauen sind schön», fügte der Gouverneur hinzu, «und wie man mir zutrug, erweist der Königliche Intendant höchstselbst ihnen die Ehre, wenn auch für meinen Geschmack ein wenig zu … unverhohlen.»
Er entließ Saint-Martin mit einem Schulterklopfen und nannte ihn einen glücklichen Mann, was diesem ein Lächeln entlockte, denn er dachte bei sich, dass der Gouverneur mit seiner weißen Perücke und seinen fröhlichen Augen wie ein alter Schwerenöter wirkte, der nur zu gern hübsche Mädchen wie Minette auf der Bühne bewunderte.
Charles Mozard,59 der Eigentümer der Zeitung, war zwar selbst ein mäßig begabter Poet, doch verfügte er zumindest über genug Stil, das Talent anderer wertzuschätzen. Als Höfling, Sklavenhändler, Drucker, Verfasser von Theaterstücken und Dichter war er auf seinen Gebieten ebenso rührig wie Saint-Martin im Theater. Verheiratet mit einer bescheidenen Französin von geringer Schönheit, hatte er in jenem Jahr in Cap Français sein erstes Stück zur Aufführung gebracht: Die afrikanische Rache oder Auswirkungen von Hass und Eifersucht.60 Einige allzu suggestive Szenen, in denen von Aufbegehren und Rache die Rede war, missfielen den Behörden. Von dieser kühlen, ablehnenden Reaktion enttäuscht, und gekränkt, weil hinter vorgehaltener Hand sogar behauptet wurde, es mangele ihm an Talent, kehrte er nach Port-au-Prince zurück und wandte sich wieder seinen ursprünglichen Tätigkeiten zu. Minettes Anmut und Talent zu rühmen, bereitete ihm ein boshaftes Vergnügen, mit dem er sich für seine jüngste Enttäuschung rächte.
Die Zeitung triumphierend in der Hand, lief Madame Acquaire zum zweiten Mal an diesem Tag zu Jasmines Haus, wo sie Joseph Ogé und Minette antraf, die gerade Der Dorfwahrsager61 von Jean-Jacques Rousseau lasen. Es war Joseph, der in fiebriger Hast als Erster Charles Mozards Artikel überflog. Als er geendet hatte, faltete er die Zeitung zusammen, nahm Minette bei den Schultern und sah ihr in die Augen.
«Ich glaube, du hast gewonnen», sagte er, «ich bin stolz auf dich und so glücklich, als wäre ich dein … Bruder.»
«Aber du bist doch mein Bruder, Joseph.»
«Danke, Minette.»
Außer sich vor Freude, rief Lise nach Jasmine, hüpfte auf der Stelle, klatschte in die Hände und vergaß ausnahmsweise völlig, die junge Dame zu spielen, die sie doch so gern sein wollte. Jasmine, die gerade das hölzerne Tablett mit ihrer Ware nach draußen trug, ließ vor Aufregung alles fallen, was für laute Rufe und Gelächter sorgte. Während sich alle gemeinsam daranmachten, die Katastrophe zu beheben, verkündete Madame Acquaire Minette, dass man bald mit den nächsten Proben beginnen werde, da Saint-Martin hoffte, am 13. Februar eine neue Oper, Der Liebhaber von fünfzehn Jahren62, aufführen zu können, in der sie erneut die Hauptrolle übernehmen solle.
«Monsieur Saint-Martin hat vor, dich diesmal in einer Märchenkulisse auftreten zu lassen. Der Abend wird zu seinen Gunsten stattfinden, das heißt, er wird die Kosten für deine Kostüme übernehmen.»
Joseph sah zu Jasmine hinüber. Dann sollte Minette also nicht bezahlt werden. Sie würde zugunsten der anderen auftreten, und man würde sie zwar schützen, aber zugleich auch ausbeuten. Da er in dieser Frage nicht zu entscheiden hatte, wagte er in Gegenwart von Madame Acquaire auch nicht, seine Meinung zu äußern. Stattdessen wollte er warten, bis sie fort war, um Jasmine die Augen zu öffnen und Minette seinen Rat zu erteilen. Zu seiner Überraschung trat diese jedoch auf die Kreolin zu, sah ihr direkt ins Gesicht und fragte in kaum widerzugebendem Ton: «Und was ist mit mir, Madame Acquaire?»
Joseph sah erneut zu Jasmine hinüber, die genauso überrascht war wie er selbst, dann wandte er sich ab und lächelte.
«Ich will einen Benefizabend zu meinen Gunsten, Madame Acquaire», fügte Minette im selben Ton hinzu.
«Einen Abend zu deinen Gunsten … ja, natürlich. Ich muss mit dem Direktor darüber reden …»
Sie betrachtete Minette, als sähe sie sie zum ersten Mal.
«Tatsächlich, du bist kein kleines Mädchen mehr. Das müssen wir in Zukunft berücksichtigen …»
Ihr Blick huschte flüchtig zu Joseph und Jasmine hinüber, dann richtete er sich wieder auf Minette.
«Mach dir keine Sorgen, das wird sich alles finden», fügte sie hinzu und tätschelte ihr die Wange.
«Danke, Madame.»
Nachdem die Schauspielerin gegangen war, brach Joseph in Gelächter aus.
«Na, so was», sagte er zu Minette, «du bist ja eine richtige Geschäftsfrau!»
«Ich will mich nicht …», sie dachte nach, als suchte sie nach dem passenden Begriff, «… ausbeuten lassen», schloss sie. «Du hast mir erklärt, was dieses Wort bedeutet, und die Vorstellung erfüllt mich mit Abscheu.»
Jasmine lächelte, als sie sie hörte.
Mochte sie selbst auch nicht für den Kampf geschaffen sein, ihre ältere Tochter würde sich zu verteidigen wissen. Mit fünfzehn Jahren sah sie den Dingen bereits ins Gesicht und würde sich von niemandem herumkommandieren lassen.
«Minette braucht ja auch viel Geld», erklärte Lise im Ton eines Menschen, der schon im Voraus weiß, dass er Missfallen erregen wird, weil er ein Geheimnis verrät.
«Viel Geld», wiederholte Joseph und sah das junge Mädchen besorgt an, «wozu denn das?»
«Sei still», schrie Minette und stürmte auf ihre Schwester zu.
«Los, raus mit der Sprache», verlangte Jasmine, ebenso besorgt wie Joseph, «willst du dir Schmuck kaufen, Kleider und …»
Sie hielt inne und zögerte, als schmerze es sie, das Wort auszusprechen.
Lise sah ihre Schwester entschuldigend an. Minette wirkte angespannt, ihre Augen funkelten, und sie hatte die Fäuste geballt.
«Dann sag es eben, du kleine Närrin», fuhr sie sie zornig an. «Wenn du schon angefangen hast zu erzählen, dann bring es auch zu Ende.»
«Aber du willst doch nichts Böses. Wieso bist du so zornig?»
Sie wandte sich an ihre Mutter und Joseph.
«Sie will alle Sklaven kaufen, um sie dann freizulassen …», fuhr sie fort.
«Du dumme, kleine Närrin», schrie Minette und rannte ins Schlafzimmer, wo die anderen sie schluchzen hörten.
Joseph bat Jasmine um die Erlaubnis, ihr folgen zu dürfen, was sie ihm mit einem knappen Nicken gestattete. Der junge Mann trat an das Bett, auf dem sich Minette schluchzend zusammengerollt hatte, und kniete neben ihr nieder. Er hob ihren Kopf an, zog ein Taschentuch aus der Tasche und trocknete ihr damit die Augen.
«Es ist gut, sehr gut sogar, dass du so schöne und großzügige Gedanken hegst», sagte er. «Hör auf zu weinen. Ich habe heute ein Buch mitgebracht. Es stammt von einem Priester. Er heißt Abbé Raynal. Komm und hör dir an, was er über das Recht auf Freiheit und das Los der Sklaven schreibt …63 Danach besuchen wir drei gemeinsam meinen alten Lehrer Labadie. Ich bin mir sicher, du wirst ihn mögen …»
… Sie fanden den Greis an seinem Schreibtisch, auf dem sich Bücher mit gelehrten Titeln stapelten.
«Möchtest du auch so viel wissen?», fragte er Lise.
«Ich? Oh nein, dann würde ich verrückt.»
«Und was ist mit dir?», fragte er, den Blick auf Minette gerichtet.
«Ich glaube schon …» Sie zögerte kurz, dann fügte sie hinzu: «Monsieur.»
«Du brauchst mich nicht Monsieur zu nennen, mein Kind; vor dem Gesetz sind die Farbigen alle gleich.»
Er nahm sie bei der Hand und führte sie in den Garten, der an eine riesige Zuckerrohrplantage grenzte. Dort sangen Hunderte Stimmen die Lieder der Schwarzen. Er besitzt Sklaven und behandelt sie mit Menschlichkeit, hatte Joseph gesagt. Zweifellos davon beeinflusst, war ihnen, als klängen die singenden Stimmen weder dumpf noch monoton, sondern verkündeten stattdessen ein Bekenntnis zu Glaube und Dankbarkeit. Im Garten zwitscherten Vögel, die in Bambuskäfigen saßen, und in einem seichten, von Blumen umrahmten Becken spielten Goldfische miteinander Fangen.
Er ist reich, dachte Minette. Er ist so reich wie alle weißen Kolonisten. Und unwillkürlich erfüllte sie diese Feststellung mit Stolz.
Labadie sah zu, wie die jungen Mädchen sich an seinen Schätzen erfreuten. Wie er so aufrecht in seinem Garten stand, wirkte er klein. Sein seidiges weißes Haar rahmte eine vorspringende Stirn ein, unter der zwei graue Augen nachdenklich dreinblickten. Seine Ausdrucksweise war schlicht, aber gepflegt, und wenn man ihn reden hörte, hätte man meinen können, er sei in Frankreich unterrichtet worden.
«Die beiden haben wundervolle Stimmen», sagte er, als sie verstummten. «Ich verstehe, dass die Weißen, nach dem Vorbild der Götter, ein solches Talent ehren.»
Dann küsste er sie und schenkte ihnen Blumen und Süßigkeiten.
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, bat Lise Joseph, sie auf den Platz zu bringen, wo an diesem Abend mehrere Attraktionen geboten wurden. Voltigeure und Jongleure sollten ihre Künste vorführen. Auf Plakaten wurden die Preise genannt: «Eintritt: eine gourde-piastre für Weiße, zwei gourdins für Mulatten und zwei escalins für Schwarze.»64 Enttäuscht stellten sie fest, dass sie nicht genug Geld hatten, um den Eintritt zu bezahlen.
«Wie viel Geld hast du, Joseph?», fragte Lise.
«Sechs escalins.»
«Ich habe eine Idee. Wir reiben uns das Gesicht mit Ruß ein und geben uns als Schwarze aus.»
«Lise!», rief Minette.
Joseph hatte die Hände der Mädchen losgelassen und betrachtete Lise mit zusammengekniffener Miene.
«Was ist denn los, warum siehst du mich so an? Du machst mir Angst.»
Wortlos griff er wieder nach ihrer Hand.
An diesem Abend wurde Minette endgültig zu seiner Lieblingsschülerin.