XXXV

Vier Tage darauf endete die Stille in den Bergen. Der dröhnende, unheilverkündende Klang der Lambimuscheln schickte Botschaften in die entlegensten Winkel der Insel. Mit Spießen, Stöcken und Macheten bewaffnet, strömten Tausende Sklaven von den Hängen herab, verbündeten sich mit den Sklaven in den Ateliers und verbreiteten an ihrer Seite Schrecken und Tod.182 Mordend, plündernd und brandschatzend gelangten sie vor die Tore von Cap Français. Die weiße Bevölkerung griff zu den Waffen und zog den aufständischen Sklaven entgegen. Auch im Westen und Süden erhoben sich die Sklaven, mordeten, plünderten und brandschatzten unter anderen Anführern genau wie im Norden. Sie töteten ihre Herren, vergewaltigten deren Frauen und Töchter und schnitten ihnen anschließend die Kehle durch. Nicht einmal die Klöster achteten sie, und man sah fliehende Nonnen, die in ihrer Angst den Himmel um Beistand anflehten. Berauscht von Rachsucht und Hass, blieben sie dennoch einsichtig genug, als Erstes über die grausamsten Plantagenbesitzer herzufallen. So wurde das Haus von Monsieur de Caradeux geplündert und in Brand gesteckt. In einer Truhe versteckt, wo niemand auf den Gedanken gekommen war, nach ihm zu suchen, hörte er die entsetzten Schreie seiner Tochter, die von den Sklaven vergewaltigt wurde, hörte das Röcheln seines sterbenden Bruders und seines Schwiegersohns. Als das Haus in Flammen stand, kam er aus seinem Versteck und kroch zum Zimmer seiner Tochter. Sie lag bewusstlos da. Er hob sie auf, floh im Schutz der Nacht und ging an Bord eines Schiffes, das zur Abfahrt in die Vereinigten Staaten bereit lag. Mehr als tausend weiße Familien wurden an diesem Abend ermordet und unter den verkohlten Trümmern ihrer Häuser begraben.

Der Vulkan, vor dessen Existenz die Kolonisten lange Jahre die Augen verschlossen hatten, war ausgebrochen. Seine Lava, seine Asche bildete die unüberschaubare Masse der Sklaven, die die Berghänge herabrann und wie von einem Krater ausgespuckt aus Ateliers und Wäldern quoll. Und ihre bewaffneten Hände schlugen zu, schlugen endlich zurück, ohne Erbarmen …

Da die Weißen die Schuld für den schrecklichen Aufstand auch diesmal bei den Farbigen suchten, brachten sie sie in Scharen um. Freie Schwarze und Mulatten flohen vor der Verfolgung in die Berge. Es waren auf beiden Seiten Tage unbeschreiblichster Schrecken. Die Place de la Fossette in Cap Français füllte sich mit Galgen, an denen Schwarze und Mulatten baumelten, Freie wie Sklaven, häufig zu Unrecht verdächtigt.

Die Krankenhäuser quollen über von Verletzten. Die übereinandergeschichteten, nur notdürftig vergrabenen Toten verströmten einen abscheulichen Gestank. Wie um die Situation noch zu verschlimmern, brach das Gelbfieber aus, und Hunderte Familien starben, weil sie nicht versorgt werden konnten …

Praloto und Monsieur de Caradeux schmiedeten gemeinsam mit den weißen Pflanzern von Arcahaie den Plan, die Gemeinde im Handstreich einzunehmen, um die Verbindung zwischen den affranchis von Saint-Marc und den Konföderierten des Westens zu unterbrechen. Jean-Baptiste Lapointe, der durch Spione von diesem Vorhaben erfuhr, wählte die klügsten seiner Sklaven und sandte sie aus, um die Ateliers der Umgebung zum Aufstand zu bewegen. Er ließ Waffen verteilen und drängte sie, die Weißen in ihren Häusern zu überfallen und umzubringen.

Nach dem Gemetzel scharte er die rebellierenden Sklaven mit seinen eigenen hinter sich und zog an ihrer Spitze in den Marktflecken ein. Trotz ihres Argwohns blieb den Weißen nichts anderes übrig, als ihn als ihren Retter zu begrüßen, und tatsächlich kam er als Friedensstifter in den Ort und forderte die Sklaven öffentlich auf, wieder in ihre Ateliers zurückzukehren. Wie sollte man einem derart gefährlichen Farbigen Widerstand leisten?

Seit einiger Zeit war das kleine Haus in Boucassin, ebenso wie der luxuriöse Wohnsitz von Monsieur de Caradeux, zu einem wichtigen politischen Treffpunkt geworden. Dort versammelten sich, seit Lapointe aus dem spanischen Teil der Insel zurückgekehrt war, die rachsüchtigsten, hasserfülltesten affranchis. Geschickt fachte Lapointe ihren Hass immer weiter an, indem er ihnen anhand von Tatsachen bewies, wie sehr die Weißen sie hintergingen. Bald regierte er wie ein Diktator über sie, ließ sich erst zum Anführer der Nationalgarde, dann zum Befehlshaber der Gendarmerie und schließlich zum Bürgermeister von Arcahaie ernennen. Sämtliche Sklaven der Umgebung folgten blind seinen Befehlen. Er herrschte unangefochten, und sein Wille war Gesetz. Nun war es an den Weißen, den Kopf zu senken und sich zu fürchten. Er hatte sie in der Hand, und er würde sie nicht mehr freigeben. Er hatte sich geschworen, sie nach und nach für alle erlittenen Demütigungen, für alle Kränkungen und die ganze Verachtung, die man ihm und den anderen affranchis entgegengebracht hatte, bezahlen zu lassen.

Aber zuerst wollte er Minette wiedersehen und sie heiraten. Sie hatte ihn ebenso sehr in ihrer Gewalt wie er jetzt die Weißen. Verglichen mit ihr erschienen ihm alle anderen Frauen blass und nichtssagend. Selbst ihre Vorwürfe nötigten ihm Bewunderung und noch mehr Liebe ab. Wo war sie? War es dem schwarzen Sklaven, der sie getragen hatte, gelungen, sie zu retten? Außer sich vor Sorge verließ er Arcahaie und ritt zu den Konföderierten nach Croix des Bouquets. Der Erste, der ihn sah, war Pétion.

«Da kommt Jean Lapointe», rief er.

Minette, die noch nicht wieder genesen war, saß mit Zoé auf einem flachen Felsbrocken inmitten von Grün. Um sie herum schüttelten Wildblumen in der frischen Brise erschauernd ihre zarten Blütenköpfe. Das stürmische Pferd zügelnd, kam er im Schritttempo näher. Zu Minettes Füßen hielt er an. Eine Sekunde betrachteten sie einander schweigend.

«Ich habe dich gesucht …»

Sie antwortete nicht und drückte Zoés Hand.

Er saß ab und kam zwei Schritte auf sie zu.

«Ist dir bewusst, was geschehen ist?»

Sie sagte es mit leiser, tränenerstickter Stimme, dann stand sie auf und blieb reglos stehen, die Hände auf ihr Herz gedrückt.

«Sie haben meine Mutter und meine Schwester getötet.»

«Ich weiß.»

Sie hob den Kopf, sah ihn eine Sekunde lang an und warf sich in seine ausgebreiteten Arme. Dann brach sie in Tränen aus. Nach einer Minute schmerzte ihre kaum verheilte Wunde so sehr, dass sie die Augen schloss.

«Die Menschheit ist nach dem Bild der Geier geschaffen. Wir müssen kämpfen, Minette, ohne Tränen oder Gebete. Die Zeit des Mitgefühls ist vorbei, wie oft habe ich dir das nicht schon gesagt?»

Sie beruhigte sich und trocknete ihre Augen.

Beauvais, Lambert, Joseph, Pétion und einige andere kamen heran.

«Lapointe», sagte Beauvais, «dein letzter Streich in Arcahaie war eine Heldentat sondergleichen. Ohne dein Eingreifen wären die Verbindungswege zwischen den affranchis von Saint-Marc und denen des Westens unterbrochen gewesen. Dann wäre uns nichts anderes übrig geblieben als die bedingungslose Kapitulation. Lass mich dir danken …»

Er schüttelte ihm die Hand und ließ Rum ausschenken, mit dem sie gemeinsam auf den Sieg der Konföderierten anstießen. Abends führte Lapointe Minette ein Stück abseits und bat sie, mit ihm nach Boucassin zurückzukehren.

«Ich habe dir bewiesen, dass auch ich für unsere Sache kämpfe. Was wirfst du mir vor? Dass ich Sklaven besitze, dass ich sie schlage? Glaubst du denn, Ogé, Chavannes und alle, die hier versammelt sind, kämpften für ihre Befreiung? Jeder denkt an sich, kämpft für sich, und das ist schon eine gute Sache.»

Auch sie dachte schon lange so. Verzweiflung und die zahllosen Kämpfe hatten sie altern lassen. Ihr Idealismus bröckelte, und sie sah viele Dinge inzwischen klarer.

«Ich werde bald zu dir kommen, Jean», versprach sie.

«Und wenn du mich noch einmal verlässt, werde ich dich töten.»

Als er sie erneut in die Arme schließen wollte, gestand sie ihm, dass sie verletzt worden war und die Wunde noch schmerzte.

«Verletzt!», rief er. «Oh, aber du wirst wieder gesund werden. Gleich morgen soll dich ein Arzt untersuchen. Ich hole ihn persönlich her.»

Sie lächelte schwach und streichelte sein Gesicht.

«Wie viel Stärke du in dir hast!»

Er brach noch am gleichen Abend auf und ließ Minette, wenn auch nicht getröstet, so doch zumindest beruhigt zurück. Seine Vitalität und Energie hatten ihre Spuren auf ihrer verletzten Seele hinterlassen.

Am nächsten Tag kehrte er schon im Morgengrauen mit einem weißen Arzt zurück, den er Minettes Wunde sehen ließ. Sie war tief, schlecht versorgt und entwickelte bereits einen Wundbrand. Der Arzt legte einen Verband an und empfahl Ruhe. In Lapointes Gegenwart schwieg er, doch als er an Zoé vorbeiging, sagte er zu ihr: «Es ist eine böse Verletzung, und das junge Mädchen braucht tägliche Pflege, die es hier nicht bekommen kann.»

Zoé versuchte sie zu überreden, nach Arcahaie zu reisen. Sie weigerte sich. Was befürchtete sie? Das wusste sie selbst nicht. Bei ihren Freunden fühlte sie sich ruhig und geborgen, und obwohl ihre Wunde schmerzte, verspürte sie nicht den geringsten Wunsch, Croix des Bouquets zu verlassen. Vielleicht fürchtete sie sich, geschwächt und hilflos, wie sie war, vor neuen Verstimmungen, die sie ein weiteres Mal von Lapointe trennen würden. Nein, für sie wäre es besser, hier zu bleiben, dachte sie, und zu sehen, wie er, ungeduldig und verliebt, zurückgaloppiert kam. So war sie auch näher bei der Schlacht, enger eingebunden in Entscheidungen und Neuigkeiten. Denn jeden Tag kamen neue Nachrichten, und sie wurden immer atemberaubender. So erfuhren sie zwei Tage nach dem Besuch des Arztes, dass in Cap Français drei Zivilkommissare von Bord eines französischen Schiffes gegangen waren und sich, überrascht von den Zuständen in der Kolonie, nun bemühten, die Ordnung wiederherzustellen, indem sie Gespräche mit den Anführern der aufständischen Sklaven aufgenommen hatten.183

Beauvais bat um zwei Freiwillige, und Joseph und Pétion meldeten sich. Sie wurden nach Port-au-Prince geschickt und kehrten nachmittags mit ausführlicheren Informationen zurück. Ja, es stimmte, die Kommissare hatten Gespräche mit den Sklavenführern aufgenommen. Aber diese hatten im Ausgleich für ihre Unterwerfung für fünfzig Personen den Status von Freien gefordert, und die Pflanzer weigerten sich, ihnen dies zuzugestehen.

«Haben sie denn immer noch nicht genug von dem ganzen Morden?», rief Lambert. «Mein Gott, was sind das für Menschen!»

Und Minette verbarg bei der Erinnerung an die Leichenberge in der Rue Traversière ihr Gesicht in den Händen.

Doch all das musste enden, sie hatten endgültig genug davon. Sie trafen ihre letzten Vorbereitungen und beschlossen, gegen die Provinzialversammlung des Westens zu marschieren. Die Zahl ihrer Kämpfer war begrenzt. Viele waren am Tag des Massakers und in den Schlachten getötet worden. Der Morgen ihres Aufbruchs war für die Frauen ein herzzerreißender Moment. Marguerite Beauvais, die durch die erschütternden Erlebnisse ihr ungeborenes Kind verloren hatte, Louise Rasteau, Zoé und auch Minette weinten ohne Scham: Die Männer verkörperten alles, was ihnen auf der Welt noch geblieben war. Ihre Eltern waren tot, die Armee der affranchis war ihr größter Trost. Minette klammerte sich an Jean Lapointe, Zoé an ihren Bruder, Marguerite Beauvais an ihren Mann. Sie gingen von einem zum anderen, mahnten sie zur Vorsicht, schauten in ihr Marschgepäck und steckten ein paar letzte Süßigkeiten hinein. Minette drückte Joseph und Pétion an sich, küsste ein letztes Mal ihren Geliebten und floh ins Haus. Ein undefinierbarer Geschmack stieg ihr in den Mund, sie nahm ihr Taschentuch und spuckte hinein: Es war Blut. Mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht blickte sie vor sich hin und legte eine Hand auf die Stelle, an der ihre Brust verletzt worden war. Als sie den Hufschlag eines herangaloppierenden Pferdes hörte, eilte sie nach draußen: Ein nach Atem ringender Emissär war angekommen. Die Nachricht, die er brachte, war unglaublich: Drei weitere Kommissare waren mit einer sechstausend Mann starken Armee aus Frankreich eingetroffen, um ein für die Farbigen vorteilhaftes Dekret durchzusetzen.184 Alle waren außer sich vor Glück. Als die Konföderierten von Croix des Bouquets erfuhren, dass eine gemischte Kommission aus sechs Weißen und sechs affranchis gebildet worden war,185 stellten sie sich auf die Seite der Kommissare und des Gouverneurs und marschierten gegen Port-au-Prince. Zwei Tage dauerte der erbitterte Kampf, und als er endete, waren die Pflanzer geschlagen. Dies war endlich der große, der entscheidende Sieg, um den sie lange Jahre so hart gerungen hatten. Viele von ihnen waren gestorben, aber es hatten auch viele überlebt und konnten nun diesen Tag segnen und den Triumph ihrer Anliegen feiern. Von einem Volk im Freudentaumel empfangen, zog die Armee der affranchis in Begleitung der Kommissare und des Gouverneurs in die Stadt ein. Diesmal marschierte sie hoch erhobenen Hauptes und unter dem Beifall selbst der Weißen durch die Hauptstraßen zum Magistratsgebäude, wo ein Dekret unterzeichnet wurde, das ihnen ihre bürgerlichen und politischen Rechte zugestand.

Trotz dieses so befriedigenden Ausgangs blieben die Herzen voll Kummer. Der Grund dafür war der Anblick der Ruinen. Port-au-Prince war nicht mehr wiederzuerkennen. Feuer, Tod und Verzweiflung hatten überall ihre gewaltsamen Spuren hinterlassen. Die Mitglieder der Theatertruppe waren nach Frankreich abgereist, das Schauspielhaus selbst war nur noch ein Haufen verkohlter Trümmer. Die Krämerinnen der Rue Traversière, von denen die Hälfte umgebracht worden waren, schlugen sich nun als Hausiererinnen durch. Von den prächtigen Wohnsitzen in Bel-Air, den Läden, den Vaux-Halls blieb nur ein riesiger Ascheberg. Die Türen der Häuser waren herausgerissen und ihr Inneres geplündert worden, weit offen und leer standen sie da. Die ausgezehrte, zerlumpte Bevölkerung streifte verloren durch die Straßen. Waisenkinder streckten bettelnd die Hand aus und liefen weinend hinter den Passanten her, während Hunde mit eingefallenen Flanken an ihnen schnupperten.

Als die aus Croix des Bouquets zurückgekehrten Frauen der affranchis die Stadt erblickten, brachen sie in Tränen aus. Niemand, der sie willkommen hieß, kein Zuhause, keine Eltern mehr. Hin und wieder trat ein Bekannter auf sie zu, erzählte von den Verhungerten und Verdursteten, den Ermordeten und den Gefallenen. Tote, Tote, nichts als Tote. Welch ein Grauen!, dachte Minette. Als sie Scipion in der Menge entdeckte, entrang sich ihr ein erleichterter Aufschrei. Mit seiner Hilfe würde sie die Spur der Ihren wiederfinden.

«Ich habe auf dich gewartet, Demoiselle», sagte er nur.

Dann führte er sie zu einem Grab, das an einem riesigen, aus zwei Ästen zusammengenagelten Kreuz zu erkennen war. Schluchzend sank Minette darauf nieder. Wie jedes Mal, wenn sie sich anstrengte, stieg ihr der schale Geschmack von Blut in den Mund.

«Wieso, mein Gott, wieso?», flüsterte sie, den Blick starr auf das Kreuz gerichtet.