Nachwort

Am 1. Januar 1804 schüttelten Saint-Domingues Revolutionäre die frühere Kolonialherrschaft ab und erklärten ihre Inselnation zur souveränen Republik Haiti. Dieser außerordentliche Akt absoluter Verweigerung verlieh dem Land einen anhaltenden Ausnahmestatus: Erste erfolgreiche Sklavenrevolution der Welt, Erster unabhängiger Staat der Karibik und Erste schwarze Republik des amerikanischen Kontinents. All diese «ersten Male» führten dazu, dass die Haitianer bis zum heutigen Tag durch diesen beispiellosen historischen Moment definiert und auf der Weltbühne an der langen Geschichte aus politischer Korruption, «Naturkatastrophen» und sozialen Unruhen gemessen werden, die auf die inzwischen zwei Jahrhunderte zurückliegende Revolution folgte.

Der Unabhängigkeitskrieg des 19. Jahrhunderts bildet nicht nur die Grundlage für den Zustand Haitis im 20. und 21. Jahrhundert, sondern hinterließ der jungen Nation zugleich ein höchst belastetes Erbe. In einer atlantischen Welt, die noch lange nach 1804 an der Unterwerfung Afrikas und seiner Nachfahren festhielt, stellte der von Schwarzen geäußerte Ruf nach Freiheit oder Tod das in der amerikanischen Sphäre dominierende Narrativ weißer Überlegenheit und Eroberung auf den Kopf. Haiti wurde zu einer einsamen Bastion radikaler Freiheit in einer «aufgeklärten» modernen Welt, die in ihrem Bild von universeller menschlicher Freiheit zynischerweise auch Raum für die Sklaverei ließ. Daher wurde die Revolution von den europäischen Kolonialmächten und den imperialistischen Vereinigten Staaten jahrzehntelang weitgehend ignoriert, verschwiegen oder auf sonstige Weise unterminiert – zumindest soweit es die Geschichtsschreibung betrifft.

In der literarischen Fiktion stellt sich die Lage anders dar. Seit dem frühen 19. Jahrhundert haben Schriftsteller aus Europa und dem amerikanischen Raum – wie die karibischen Intellektuellen Édouard Glissant und Alejo Carpentier, die französischen Dichter Alphonse de Lamartine und Victor Hugo, der amerikanische Romancier Madison Smartt Bell und die deutsche Autorin Anna Seghers – eine Vielzahl von Werken geschaffen, in denen sie die über ein Jahrzehnt währende Abfolge spektakulärer Ereignisse und heroischer Akteure der Revolution zu erklären versuchen. Die haitianischen Schriftsteller selbst jedoch haben das Thema, obwohl die Revolution und ihr vielfältiges Erbe in Straßennamen, Denkmälern, Anspielungen in politischen Debatten, Malerei und Musik allgegenwärtig ist, konsequent gemieden. Der Grund für diese auffallende Leerstelle ist sehr wahrscheinlich die Art und Weise, wie die Revolution bis heute von politischen Führern Haitis vereinnahmt und ausgeschlachtet wurde – das berüchtigtste Beispiel lieferte der Diktator François «Papa Doc» Duvalier, dessen totalitäres Regime (1957–1971) den politischen Hintergrund für einen Großteil von Marie Vieux-Chauvets literarischem Schaffen bildete.

Mit seinem Eintreten für eine noiristische («authentisch» schwarze) Lesart der Geschichte, der zufolge Haitis wohlhabende «mulattische» Elite seit Langem die politische Macht monopolisiert und Haitis schwarze Bevölkerungsmehrheit unterdrückt habe, trieb Duvalier eine bereits von verschiedenen Politikern vor ihm genutzte Strategie auf die Spitze. Bewusst setzte er ein heroisch-nationalistisches (und männliches) Narrativ der Revolution ein, um die Massen zu manipulieren und von den aktuellen politischen und sozialen Missständen Haitis abzulenken. Es scheint, als seien die haitianischen Schriftsteller vor dem Risiko zurückgeschreckt, solche Tendenzen durch ihr Schaffen zu legitimieren.

Der Tanz auf dem Vulkan (1957) bildet in dieser Hinsicht die große Ausnahme. Zu dem Zeitpunkt, als Marie Vieux-Chauvet ihren Roman verfasste, existierte kein anderes Prosawerk des 20. Jahrhunderts, das die haitianische Revolution in gleichem Maße thematisierte oder gar in den Vordergrund stellte. Aber auch dieser Roman befasst sich nicht unmittelbar mit den Ereignissen des offiziellen Unabhängigkeitskrieges. Vieux-Chauvet siedelt ihre Geschichte klar in vorrevolutionärer Zeit an – vor dem Ausbruch der eigentlichen Kämpfe, dem Auftreten der großen Helden und dem Beginn der entscheidenden historischen Ereignisse der Revolution. Mit ihrem Werk taucht sie ein in das eng miteinander verflochtene Leben jener Menschen unterschiedlicher ethnischer und gesellschaftlicher Herkunft und divergierender politischer Ansichten, die Saint-Domingue in den Jahren vor dem endgültigen Ausbruch des Konflikts bevölkerten. Sie vermittelt ihren Leserinnen und Lesern einen Eindruck von deren Dasein am Rand der Apokalypse. Wie schon in ihrem ersten Roman ist sie bestrebt, die kleinen, intimen Geschichten derjenigen zu erzählen, die diese turbulentesten Momente der haitianischen Vergangenheit durch- und überlebten, um dadurch zu einem besseren Verständnis von Haitis komplizierter Gegenwart beizutragen.

Marie Vieux-Chauvets Talent, Geschichte so zu darzustellen, dass sie ein Licht auf die Gegenwart wirft, ist weithin bekannt, und auch darüber hinaus nimmt sie in der haitianischen Literaturgeschichte eine ganz besondere Stellung ein. Als Verfasserin von fünf Romanen und zwei Theaterstücken gilt sie als eine der wichtigsten und innovativsten Stimmen des haitianischen Literaturkanons. Sie wurde mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet und genießt die Anerkennung zahlreicher haitianischer Schriftsteller, die sie als ihre Vorläuferin bezeichnen. Vor allem unter den Autorinnen in Haiti und der internationalen Diaspora ist ihr Einfluss bis heute spürbar. Zeitgenössische haitianische Schriftstellerinnen, darunter Edwidge Danticat, Kettly Mars oder Yanick Lahens, verweisen ausdrücklich auf Vieux-Chauvets Pionierleistung, die durch ihr literarisches Genie den Weg für das Erzählen von Geschichten bereitete, die die ganz persönlichen Alltagserfahrungen von Frauen unterschiedlicher Herkunft, Hautfarbe und gesellschaftlicher Stellung in den Mittelpunkt stellen.

Als Tochter des Senators und Botschafters Constant Vieux und dessen von den Jungferninseln stammender jüdischer Ehefrau Delia Nones gehörte die privilegierte, kultivierte Marie Vieux-Chauvet zur Bourgeoisie von Port-au-Prince. Das hübsche junge Mädchen besuchte den Annexe de l’École Normale d’Institutrices, eine Ausbildungsstätte für Grundschullehrerinnen, wo sie 1933 im Alter von siebzehn Jahren ihren Abschluss machte. Anschließend heiratete sie den angesehenen Arzt Aymon Charlier und bekam mit ihm drei Kinder. Nach ihrer Scheidung heiratete sie den Reisebürobesitzer und Tourismusminister Pierre Chauvet. Diese zweite Ehe hielt, bis sie Ende der 1960er-Jahre ins New Yorker Exil gehen musste. Während dieser mehr als dreißig Jahre widmete sich Marie Vieux-Chauvet ausschließlich dem Schreiben, anfangs von Theaterstücken, später mehrerer Romane, was sie zur produktivsten und gefeiertsten haitianischen Autorin ihrer Zeit (und womöglich bis in die Gegenwart) machte.

Ihre drei ersten Romane veröffentlichte Marie Vieux-Chauvet in rascher Folge: 1954 erschien Töchter Haitis, drei Jahre später Der Tanz auf dem Vulkan und wiederum drei Jahre später, 1960, Fonds des Nègres (Wiedersehen in Fonds des Nègres). Jedes dieser frühen fiktionalen Werke thematisiert mit kühner Schärfe Fragen der Ungleichbehandlung aufgrund von Klassenzugehörigkeit, ethnischer Herkunft, Sexualität und Geschlecht und strotzt geradezu von kaum verhüllten Verweisen auf die Korruption und Brutalität des haitianischen Staats. Gemeinsam bereiten diese drei Romane den Boden für das explosive, 1968 veröffentlichte Triptychon Liebe, Wut, Wahnsinn, Vieux-Chauvets schonungslose Anklage gegen totalitäre Staatsgewalt und deren spezielle Auswirkungen auf Frauen. Es sollte ihr letztes Werk sein, bevor sie Haiti verlassen musste. Im New Yorker Exil schrieb sie noch den Roman Les rapaces (Die Raubvögel), in dem sie unverhohlen die skrupellose Geschäftemacherei des haitianischen Regimes mit Blutkonserven und Leichen beschreibt. 1973 verstarb sie mit nur 57 Jahren an einem Hirntumor.

Neben ihrer eigenen schriftstellerischen Tätigkeit pflegte sie eine intensive Freundschaft zu einer Gruppe gefeierter, politisch engagierter Dichter, allesamt männlichen Geschlechts, die unter dem Namen Haïti Littéraire bekannt waren und die sich in ihrem Haus in einem wohlhabenden Vorort der Hauptstadt Port-au-Prince regelmäßig zum literarischen Salon trafen. Dank ihrer Familie und ihrer Ausbildung verfügte Marie Vieux-Chauvet über enge Beziehungen zur intellektuellen Elite Haitis der Jahrhundertmitte. Eine der wichtigsten davon war die Verbindung mit dem bedeutenden haitianischen Historiker Jean Fouchard, Autor der 1955 erschienen Monografie Le Théâtre à Saint-Domingue (Das Theater in Saint-Domingue), einer umfassend dokumentierten Studie über das koloniale Theaterleben im 18. Jahrhundert, auf der Der Tanz auf dem Vulkan beruht. Vieux-Chauvet und Fouchard verkehrten in denselben Kreisen in Port-au-Prince, sie wurden zu denselben Abendessen eingeladen, waren Mitglieder in denselben Privatclubs und besuchten dieselben gesellschaftlichen Ereignisse. Womöglich waren sie sogar über Ecken miteinander verwandt.

Neben seiner Abhandlung über das domingische Theater verfasste Jean Fouchard, der für seine akribischen Archivrecherchen zum politischen und gesellschaftlichen Leben der Kolonie bekannt ist, noch mehrere andere Bücher, darunter die beiden ebenfalls 1955 erschienenen zusammengehörenden Werke Artistes et Répertoires des Scènes de Saint-Domingue (Künstler und Repertoires der Bühnen von Saint-Domingue), in dem Künstlerbiografien und ein Verzeichnis der in Saint-Domingue aufgeführten Bühnenstücke versammelt sind, und Plaisirs de Saint-Domingue: Notes sur la Vie sociale, littéraire et artistique (Die Vergnügungen Saint-Domingues. Anmerkungen zum gesellschaftlichen, literarischen und künstlerischen Leben). Wie diese beiden Studien bietet auch Le Théâtre eine ausführliche Darstellung seines Themas. Dem Buch ist zu entnehmen, dass das Theater einen der wichtigsten Aspekte des domingischen Kulturlebens darstellte, und zwar nicht nur in den großen Städten der Kolonie, Cap Français und Port-au-Prince, sondern auch in den kleineren Hafenstädten. Fouchards Geschichte beschreibt jedes Detail, jede Anekdote, jede Atmosphäre dieser Theaterwelt – vom Bau der kolonialen Opern- und Konzerthäuser über die Streitigkeiten der wichtigsten Finanziers bis hin zu den Triumphen und Missgeschicken der beliebtesten Darsteller.

Eine dieser Darstellerinnen war das Bühnenwunder Minette, die Heldin von Marie Vieux-Chauvets Roman. Fouchard erzählt Minettes außergewöhnliche Geschichte in einem Abschnitt des vorletzten Kapitels, «Comédies locales et pièces en créole» («Heimische Komödien und Stücke in kreolischer Sprache».) Dieses Kapitel enthält die vielleicht farbigsten und poetischsten Schilderungen seines Buchs und bildet im Grunde den Höhepunkt des gesamten Werks. Unter dem schlichten Titel «Minette et Lise» («Minette und Lise») skizziert Fouchard in einer knappen Chronik den Aufstieg zweier junger Mädchen gemischter ethnischer Herkunft, der beiden Schwestern Minette und Lise, zu höchstem Ruhm in Saint-Domingue. Wie Fouchard erläutert, war Minette während ihrer Karriere, die mit dem Höhepunkt der domingischen Theaterbegeisterung zusammenfiel, der nahezu unangefochtene Star des Inselstaates. In den 1780er-Jahren spielte sie die Hauptrolle in einer Vielzahl unterschiedlicher Theater- und Opernproduktionen. Sie gab Gastspiele in der ganzen Kolonie, und überall wurde sie für ihr außergewöhnliches Talent und ihre große Schönheit gefeiert. Minettes Leben bietet für sich genommen schon genug Stoff für eine literarische Umsetzung, und so verwundert es nicht, dass Marie Vieux-Chauvet in ihrer Geschichte einen wahren erzählerischen Schatz erkannte.

Schon auf der ersten Seite von Der Tanz auf dem Vulkan verweist die Autorin auf ihre Anleihen aus Fouchards Werk. «Die beiden Protagonistinnen und alle weiteren Hauptfiguren haben wirklich gelebt», versichert sie, «und treten unter ihrem tatsächlichen Namen auf. Die wichtigsten Ereignisse in ihrem Leben sowie die geschilderten historischen Begebenheiten entsprechen den Tatsachen.» Es steht außer Frage, dass sie sich bei der Entwicklung ihrer Figuren und den entscheidenden Elementen der Handlung auf Fouchards gründliche und umfassende Recherchen in kolonialen Archiven und Bibliotheken in Paris, Rouen, Cherbourg und Nantes stützt. Spezielle Details zu einzelnen Künstlern und Kritikern, zu bestimmten Inszenierungen und zur Gestaltung der Räumlichkeiten können nur seiner Studie entnommen sein. Und tatsächlich ist auch das dem Roman vorangestellte Zitat ein direkter Auszug aus Fouchards Werk. Doch während Fouchard Minettes Leben lediglich ein zweiunddreißig Seiten umfassendes Unterkapitel von Le Théâtre widmet, verwandelt und erweitert Marie Vieux-Chauvet ihre Geschichte in einen fast fünfhundertseitigen Roman.

In Der Tanz auf dem Vulkan füllt Marie Vieux-Chauvet gewissermaßen die Lücken von Fouchards Darstellung. Ihr Roman ist eine fantasievolle Erkundung der Vergangenheit mit den Mitteln der Literatur. Einige Aspekte im Projekt des Historikers haben Vieux-Chauvet offensichtlich angesprochen, und sie fühlte sich sowohl genötigt als auch befähigt, diese eingehender zu behandeln. So schöpft ihr Roman zwar in der allgemeinen Darstellung der Theaterlandschaft und durch den Einbau zahlreicher Anekdoten zu den verschiedenen Akteuren dieses Universums eindeutig aus Le Théâtre, doch Vieux-Chauvet hat bei ihrer Schilderung von Minettes Geschichte einen ganz anderen Fokus als Fouchard.

Die entscheidende Abweichung liegt in der Darstellung der besonderen Formen von Rebellion und Verweigerung der Frauen in Saint-Domingue und von deren Folgen. Parallel zu Minettes einzigartigem Werdegang beleuchtet Marie Vieux-Chauvet die spezifischen Beiträge und Kämpfe einer Reihe unterschiedlicher Frauenfiguren. Dabei schildert sie die erotischen Strategien dieser Frauen ebenso wie die Kompromisse, die sie für ihr eigenes Überleben und das ihrer Kinder eingingen. Sie zeigt die Narben und Traumata, die diese mühevolle Befreiung mit sich brachte. Von Anfang bis Ende liegt Vieux-Chauvets Fokus auf den Frauen und ihren unterschiedlichen Lebenswegen, die sie so akribisch in den Vordergrund stellt. So werden beispielsweise in den letzten Kapiteln des Romans, die lediglich einige Tage umfassen, historische Ereignisse der Revolution geschildert, die sich in Wirklichkeit über mehrere Jahre erstreckten. Indem sich Marie Vieux-Chauvet solche literarischen Freiheiten erlaubt, indem sie die Chronologie umkehrt und wichtige Ereignisse des Krieges verdichtet, lässt sie die männlichen «Helden» der Revolution in den Hintergrund treten. Ebenso wenig ist ihr an einer akkuraten Darstellung der politischen Entscheidungen der neuen republikanischen Regierung in Frankreich während der chaotischen ersten Phase des Freiheitskampfs der Kolonie gelegen – den aufeinanderfolgenden Kommissionen und Dekreten in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts. Stattdessen konzentriert sie sich in Der Tanz auf dem Vulkan konsequent auf Geschichten, die in den Archiven nicht zu finden sind und nicht zu finden sein können. Ihr Roman bietet keine Geschichtsstunde, sondern in erster Linie einen kreativen, spekulativen Einblick in die Lebensläufe in jener Zeit, wie sie waren oder gewesen sein müssen.

Dazu präsentiert Marie Vieux-Chauvet ihren Lesern eine Reihe weiblicher Charaktere, deren Erfahrungen ein Schlaglicht auf die allgegenwärtigen Realitäten von Rassismus, sexueller Gewalt und wirtschaftlicher Not im Kontext der kolonialen Sklavengesellschaft werfen. Von der ersten Szene des Romans, in der women of colour als raffinierte Reaktion auf einen Erlass, der ihnen das Tragen von Schuhen verbietet, ihre Füße mit Juwelen schmücken, über die Ausbeutung von women of colour durch den weißen Theaterdirektor François Saint-Martin – darunter auch Zabeth, die Mutter seiner beiden Kinder – bis hin zu der uneindeutigen Beziehung zwischen dem freien mulattischen Sklavenhalter Jean-Baptiste Lapointe und seinen beiden Dienerinnen, sehen wir die zahllosen Facetten der Unterdrückung, mit denen sich Frauen auseinandersetzen mussten. Eines der eindringlichsten Beispiele dieser Art ist die Geschichte der alten Frau, die gezwungen war, sich zu prostituieren, um sich und ihre Familie aus der Sklaverei freikaufen zu können.

Marie Vieux-Chauvet schreibt auch über die geschlechtsspezifischen Widrigkeiten, mit denen Minettes eigene Mutter – die in Fouchards Chronik namenlos bleibt und von Vieux-Chauvet Jasmine getauft wird – zu kämpfen hat, über die Opfer, die sie bringen, und die Risiken, die sie auf sich nehmen musste, um die Freiheit ihrer beiden kleinen Töchter zu sichern. Jasmine, Minette und Lise gehören einer sozialen Schicht – einer Kaste – an, die im kolonialen Kontext als affranchis oder gens de couleur bezeichnet wurde, wobei der erste Begriff sich auf den freien Status ehemaliger Sklaven und ihrer Nachkommen bezog, während der zweite ihre multi-ethnische afrikanisch-europäische Abstammung in den Vordergrund rückte. Doch ob schwarz oder gemischter Abstammung, ob frei geboren oder freigelassen, diese Schicht nicht-weißer Menschen rüttelte allein durch ihre Existenz sowohl in biologischer als auch in soziologischer Hinsicht an den Grundfesten des Sklavenhaltersystems. Ihre Vertreter besetzten ein breites Spektrum an Positionen innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung, einige von ihnen erwarben sogar große Reichtümer in Gestalt von Ländereien und Sklaven und zeugten somit von der Instabilität und Willkür der auf ethnischen und sozialen Unterschieden gründenden Klassengesellschaft, die die herrschende koloniale Schicht zu verteidigen suchte.

Die freien people of colour der Kolonie lebten in dem Pulverfass Saint-Domingue – dem erwachenden Vulkan – in einer prekären Schwellensituation. Der Alltag dieser stetig anwachsenden Bevölkerungsgruppe wurde im 18. Jahrhundert durch ein kompliziertes Geflecht von Rassengesetzen geprägt und eingeschränkt, worauf Vieux-Chauvet in ihrem gesamten Roman immer wieder anspielt. Sie durften bestimmte Berufe nicht ausüben, hatten nicht das Recht, den Nachnamen ihrer weißen Verwandten anzunehmen, und unterlagen sogar strengen Vorgaben hinsichtlich der Waren, Kleidung und Möbel, die sie erwerben durften. Dies sind nur einige Beispiele für die verschlungenen und häufig absurden Gesetze der Kolonie – allesamt Hinweise auf die signifikante Bedrohung, die diese Bevölkerungsgruppe für das auf strikten Rassenhierarchien gründende Regime darstellte. Die restriktiven Gesetze sollten vor allem die Überzeugung festigen, dass alle nicht-weißen Einwohner von Saint-Domingue, unabhängig von ihrem Reichtum, ihrem sozialen Status oder ihrer tatsächlichen Hautfarbe, den weißen Bürgern der Kolonie untergeordnet waren.

So war es natürlich auch Minettes Status als Angehörige dieser Gruppe, der ihre Auftritte auf der Bühne und ihre beispiellose Berühmtheit gleichermaßen bemerkenswert wie skandalös machte. Die Frauen aus der Kaste der gens de couleur bewegten sich häufig auf gefährlichem Terrain, denn ihr Geschlecht beschnitt nicht nur ihre «beruflichen» Möglichkeiten, sondern machte sie auch besonders angreifbar für das übergriffige Sexualverhalten der weißen Männer. Vieux-Chauvet verdeutlicht dies in ihrer Schilderung von Minettes tief verwurzeltem Bewusstsein der Demütigungen, die sie jedes Mal erdulden muss, wenn sie als woman of colour das Risiko eingeht, vor einem weißen Publikum in Saint-Domingue aufzutreten. Das ausführliche Gespräch zwischen Minette und dem Theaterkritiker Charles Mozard führt uns diese Verletzlichkeit auf ergreifende Weise vor Augen. Trotz ihres wachsenden Ruhms sieht sich Minette gezwungen, sich vor einem mächtigen Kritiker zu rechtfertigen, dessen harsche Rezensionen ihren Erfolg und ihren Ruf herabwürdigen. Nach einem ersten (erfolglosen) Versuch, Mozard zu verführen, liefert sie sich rückhaltlos seiner Gnade aus. Sie erklärt ihm – und damit auch Marie Vieux-Chauvets Lesern –, dass die Hindernisse auf dem Weg zum Erfolg und die Folgen eines möglichen Scheiterns für sie als nicht-weiße Frau sehr viel gravierender sind als für ihre weißen Rivalinnen.

Neben den zusätzlichen Hürden, die Minette in ihrem Berufsleben zu überwinden hatte, erzählt Vieux-Chauvet auch von sehr konkreten physischen Gefahren, denen die junge Sängerin in dieser patriarchalen Gesellschaft ausgesetzt war. In der Szene, in der Minette den Theaterfinanzier François Mesplès zu Hause aufsucht, um von ihm eine Entlohnung zu fordern, die ihrem Status als Bühnenstar angemessen ist, demütigt er sie nicht nur durch seine rassistische und misogyne Haltung, im Raum steht auch die unverkennbare Drohung sexualisierter Gewalt. Durch die Porträts von Saint-Martin, Mozard, Mesplès und anderen Männern, gegen die sich Minette behaupten muss, um in dieser Welt zu überleben, sorgt Vieux-Chauvet dafür, dass ihre Leserinnen und Leser nie die Tatsache aus dem Blick verlieren, dass weiße Männer die sozialen und politischen Parameter des kolonialen Lebens ebenso kontrollierten wie die Wirtschaft und die Kultur, und da insbesondere das Theater.

Ein ähnlich kompliziertes Bild zeichnet Marie Vieux-Chauvet auch von den Männern in Minettes eigener Schicht, den freien gens de couleur, die sie, anders als den versklavten Teil der Bevölkerung, ins Zentrum ihrer Erzählung stellt. In ihrem Roman schildert sie das komplexe Verhältnis zwischen den freien nicht-weißen Bewohnern der Kolonie und den Sklaven anhand eines breiten Spektrums an Charakteren, zu denen grausame, kompromisslose Sklavenhalter wie Lapointe ebenso gehören wie wie Joseph Ogé und andere, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens entlaufenen Sklaven bei der Flucht helfen. Im Laufe des Romans lässt sie Minette im Labyrinth dieser unterschiedlichen sozialen Akteure allmählich ihren Weg finden, wobei die junge Frau durch den Kontakt mit Sklavinnen, deren Leiden sie aus nächster Nähe miterlebt, ein politisches Bewusstsein entwickelt und Gerechtigkeit schließlich vor allem als weiblichen Zusammenhalt begreift.

Mit jeder Figur bietet Vieux-Chauvet Einblick in die ganz individuellen Hoffnungen, Wünsche und Traumata, die die Entscheidungen des Einzelnen beeinflussen. Obwohl die ethnische Herkunft unverkennbar ein wesentlicher Faktor bei diesen Entscheidungen ist, führen die singulären Erfahrungen und persönlichen Geschichten der Figuren zu stark voneinander abweichendem Verhalten. So schildert Vieux-Chauvet die Korruption, Vorurteile und Fehleinschätzungen dieser Klasse ebenso ausführlich wie ihren Heroismus. Indem sie die gens de couleur als heterogene, ja instabile und inkohärente Gruppe präsentiert, erschafft sie eine ambivalente Erzählung, die auf eindringliche Weise eine völlig neue Sicht auf die Rolle ethnischer Zugehörigkeiten in der haitianischen Geschichte zum Ausdruck bringt. Durch ihre Darstellung der wechselnden Bündnisse und widersprüchlichen Handlungen der Akteure stellt sie die provokante These auf, dass es, ungeachtet aller rassifizierten Codes und Hierarchien, nicht die ethnische Herkunft, sondern vor allem Klassen- oder vielmehr Standesallianzen waren, die die Situation ihrer verschiedenen Protagonisten während des Übergangs von der Kolonie in die postkoloniale Zeit bestimmten.

Zu behaupten, die ethnische Zugehörigkeit der handelnden Akteure sei nicht der ausschlaggebende Faktor in der vorrevolutionären Politik gewesen, war im politischen und gesellschaftlichen Kontext von 1957 eine kühne These. Denn damals griff die von colorism (der Ungleichbehandlung einzelner Bevölkerungsteile aufgrund der Schattierung ihres Hauttons) geprägte politische Rhetorik – ein Vorläufer von Duvaliers faschistischer Black-Power-Ideologie – stark auf rassisch-essenzialistische Lesarten der haitianischen Vergangenheit und Gegenwart zurück. Indem Marie Vieux-Chauvet die alles andere als schwarz-weißen Strukturen des gesellschaftlichen und politischen Lebens in Saint-Domingue in den Vordergrund rückte, veranschaulichte und kritisierte sie zugleich die nach wie vor ungelösten krankhaften Auswüchse des Rassismus in Haiti. Für Marie Vieux-Chauvet bündelten sich in Minettes Leben und den damit verbundenen Geschichten unverkennbar die zahllosen Widersprüche und die Verlogenheit der kolonialen Welt, aus der das heutige Haiti hervorgegangen ist.

Kaiama L. Glover