9
Ferreira hatte eine Pistole in der Hand und zielte damit auf Juan Cabrillos Kopf.
»Was geht hier vor?«, fragte er.
Juan stand neben Eddie und hatte die Hände erhoben. Die drei Männer, aus denen seine Leibwache bestand, hatten ihre Waffen gezogen, und die Drohnentechniker waren weggeschickt worden. Es war kein gutes Zeichen, dass potenzielle Zeugen den Ort des Geschehens verlassen mussten.
»Genau dies würde ich gerne von Ihnen hören«, sagte Juan. »Ich habe nämlich keine Ahnung.«
In Ferreiras anderer Hand befand sich ein Smartphone. Es war mit der Kommandobrücke verbunden und hielt ihn über das gegenwärtige Geschehen auf dem Laufenden.
»Der Kapitän meldet, dass fünfzig Meter vom Bug entfernt Quadrokopter-Drohnen in der Luft explodieren. Einer von Ihnen will offenbar meine Technologie stehlen.« Der Brasilianer schwenkte den Lauf der Pistole so herum, dass sie auf Eddie gerichtet war. »Vielleicht sogar Sie beide. Es wäre ja immerhin möglich, dass Sie zusammenarbeiten.«
»Ich möchte Ihr Produkt kaufen«, sagte Eddie, »und nicht stehlen. Wir haben einen Deal.«
»Es ist sicher kein Zufall, dass Sie beide ausgerechnet in dem Augenblick auf der Jacht sind, in dem sie angegriffen wird.«
In diesem Punkt hat er recht, dachte Juan. Der Knabe ist gar nicht so dumm.
»Aber wie sollten wir dieses Ding denn stehlen?«, fragte Juan und deutete auf die Slipstream-Drohne. »Indem wir es unter den Arm klemmen und von Bord tragen?«
»Was weiß ich«, sagte Ferreira. »Im Augenblick muss ich zusehen, dass alle Leute diese Jacht verlassen und ich die Situation wieder unter Kontrolle habe. Wenn ich zurückkomme, gehe ich der Sache auf den Grund.«
»Sie werden nie wieder mit den Kartellen ins Geschäft kommen, wenn uns etwas zustößt«, warnte Juan.
»Vergessen Sie nicht, ich bin daran gewöhnt, Risiken einzugehen. Eine Menge anderer Käufer interessiert sich brennend für mein Produkt. Ihre Konkurrenten werden sicher nichts dagegen einzuwenden haben, in meinen exklusiven Kundenkreis aufgenommen zu werden. Auf jeden Fall werde ich die Hintergründe dieses Überfalls aufklären.«
Ehe Ferreira sich entfernte, wandte er sich an einen der Bewacher. »Wenn sie sich rühren, schießt ihnen in die Beine. Ich brauche sie lebend, um sie verhören zu können.« Dann hatte er es eilig.
Die drei Leibwächter nahmen augenblicklich Juans und Eddies Beine ins Visier.
Juan hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sich das angekündigte Verhör schnell in eine Folter verwandeln würde, sobald Ferreira dahinterkam, dass sie ihm etwas vorgespielt hatten. Er und Eddie mussten so schnell wie möglich ihre Flucht organisieren.
Die Chancen, den Raum lebend und unversehrt zu verlassen, waren denkbar schlecht. Die Bewacher waren vorsichtig und hielten gut fünf Meter Abstand zu ihnen, sodass Juan und Eddie einen relativ langen Weg zurücklegen mussten, ehe sie daran denken konnten, ihr Glück mit einem direkten Angriff zu versuchen.
In Juans Beinprothese befand sich ein Geheimfach, das eine .45er ACP Colt Defender-Pistole, ein Messer mit Keramikklinge, ein Päckchen C-4-Plastiksprengstoff, kleiner als ein Spielkartenpack, und eine Patrone Kaliber .44 enthielt, die aus der Ferse abgefeuert werden konnte. Wenn er an das Fach herankäme und die Pistole herausholen könnte, gelänge es ihm möglicherweise, alle drei auszuschalten, ehe sie schießen konnten.
Das Problem war nur, dass er überzeugt war, dass die Bewacher Ferreiras Befehl buchstabengetreu ausführen würden.
»Ich werde mich jetzt bücken«, sagte Juan. »Ich muss den Gurt meiner Prothese strammziehen. Er hat sich gelockert, als ich die Treppe hinunterging.«
Der Anführer des Bewachertrios machte einen kurzen Schritt vorwärts, aber höchstens zwanzig Zentimeter. »Versuchen Sie’s, und ich sorge dafür, dass Sie ein zweites künstliches Bein brauchen.«
»Es dauert nur eine Sekunde.«
»Sehe ich so aus, als ob ich bluffe?«, fragte der Wächter drohend.
Juan schüttelte den Kopf. »Nein, Sie meinen es offenbar ernst.«
Eddie drehte sich zu ihm um und signalisierte ihm mit einem Blick, dass es einen Versuch wert war.
In diesem Augenblick erklang Gomez’ Stimme in Juans Kopf.
»Alpha, sind Sie noch da?«
Juan tippte mit der Zungenspitze zweimal gegen das Zahnmikrofon.
»Omega hatte einen Unfall«, meldete Gomez. »Das Ablenkungsmanöver wurde verfrüht gestartet.«
Im Ernst?
Juan tippte abermals – als Zeichen, dass er verstanden hatte.
»Nur schade, dass wir im Bauch der Dragão gefangen sind«, sagte er.
Der Wachmann starrte ihn an, als ob er den Verstand verloren hätte. »Schnauze!«
»Ferreira meinte, wir dürften uns nicht rühren. Er sagte aber nicht, dass wir nicht reden dürften.«
»Das stimmt«, bestätigte Eddie.
»Aber das interessiert mich nicht«, sagte der Bewacher. »Halten Sie die Klappe, sonst schieße ich und erkläre Mr. Ferreira, Sie hätten sich bewegt.«
»Schaffen Sie es von der Jacht herunter?«, fragte Gomez.
Juan tippte Nein .
»Sitzen Sie fest und werden bewacht?«
Ja.
»Das klingt nicht gut. Wir denken uns etwas aus, wie wir Sie alle dort herausholen«, sagte Gomez. Er klang aber nicht besonders zuversichtlich.
Die Tür wurde geöffnet, doch es war nicht Ferreira, der zurückkam. Sondern Luis Machado erschien.
»Was geht hier vor?«, fragte er den Anführer des Wächtertrios.
»Mr. Ferreira glaubt, dass einer von ihnen etwas mit dem Angriff zu tun hat. Wir halten sie in Schach, bis er zurückkommt, um sie zu verhören.«
Machado musterte Juan und verzog das Gesicht. Juan erkannte, dass er nachdachte und schließlich eine Entscheidung traf.
»Ich verstehe«, sagte Machado. »Ich gehe ihn suchen.«
Er wandte sich um und schob gleichzeitig eine Hand in seine Jacke. Wortlos wirbelte er herum und tötete jeden Wachmann mit einem Schuss.
Sie hatten noch nicht einmal Zeit, überrascht zu sein. Alle drei sackten zu Boden.
»Danke«, sagte Juan.
»Wirklich ein großartiger Rettungsplan, den Sie sich da ausgedacht haben«, sagte Machado mit einem Anflug von Spott. »Ich hatte nicht erwartet, dass ich Sie schon während der ersten beiden Minuten retten muss.«
Juan und Eddie nahmen die Pistolen der toten Leibwächter an sich.
»Etwas ist schiefgegangen«, erklärte Eddie.
Machado grinste verkniffen. »Was Sie nicht sagen. Ganz bestimmt hat jemand diese Schüsse gehört. Wir sollten sehen, dass wir von hier verschwinden.«
»Omega, sind Sie noch einsatzbereit?«, erkundigte Juan sich bei Gomez.
»Mit wem redet er?«, wollte Machado von Eddie Seng wissen.
»Mit unserem Taxi«, antwortete Eddie.
»Es hat einige Komplikationen gegeben«, sagte Gomez. »Wir sind aufgetaucht, und sie dürften uns gesehen haben. Ich bin mit dem Boot sofort wieder auf Tauchfahrt gegangen, aber ich bin eigentlich Pilot und eher daran gewöhnt, Flugzeuge zu lenken, aber doch keine U-Boote. Es dauert einige Zeit, bis ich mit den Kontrollen zurechtkomme.«
»Und warum lenken Sie das Boot?«
»Jemand wurde verletzt.«
Das konnte nur heißen, dass Linda offenbar ausfiel. Juan hatte jedoch keine Zeit, sich zu erkundigen, wie schwer sie verwundet war und wie es dazu hatte kommen können.
»Haben Sie noch Quadrokopter zur Verfügung?«
»Einen. Mit einer Rauchbombe.«
»Gut. Wir kommen in Bugnähe nach draußen. Halten Sie sich bereit, uns Deckung zu geben.«
Juan hoffte, dass die restliche Wachmannschaft die anderen Gäste auf dem Achterdeck zusammentrieb.
»Verstanden«, antwortete Gomez.
»Bringen Sie uns zum Bug«, sagte Juan zu Machado.
»Hier entlang.«
Der CIA -Agent führte sie durch einige Korridore. Sie begegneten niemandem, doch dann wurden sie von zwei Wachmännern entdeckt, als sie die Treppe zum vorderen Teil der Jacht hinaufstiegen.
Juan feuerte drei Schüsse ab. Er traf einen der Wächter, aber der andere konnte entkommen. Juan hörte, wie er über sein Funkgerät Verstärkung anforderte.
»Omega, sie haben uns bemerkt und sitzen uns im Nacken«, sagte Juan. »Wir sind ziemlich unter Druck, wenn wir rauskommen. Zünden Sie die Rauchbombe am besten sofort.«
»Roger«, antwortete Gomez. »Der Wind hat aufgefrischt, deshalb wird sich der Rauch nicht lange halten. Wir sind zehn Meter von Steuerbord entfernt und tauchen auf.«
Juan übernahm die Führung und drückte vorsichtig die Lukentür zum Oberdeck auf. Er sah, wie der Quadrokopter landete und die Rauchbombe abwarf. Die Bombe explodierte und erzeugte eine orangefarbene Rauchwolke, die das Oberdeck einhüllte.
Er öffnete die Luke und kletterte hinaus. Während Eddie ihm folgte, hatte Juan mit seiner erbeuteten Pistole im Anschlag das Heck der Jacht im Auge.
Als Machado ins Freie kam, löste sich die Rauchwolke schon wieder auf.
»Tempo, Tempo«, trieb Juan zur Eile und zog den Agenten durch die Lukenöffnung.
Ein heftiger Windstoß vertrieb den Rauch größtenteils, sodass sie plötzlich vollkommen ungeschützt waren.
Ferreira erblickte sie von der Kommandobrücke aus. In seiner Wut entriss er dem Wachmann, der neben ihm stand, das Sturmgewehr und schoss das Brückenfenster aus dem Rahmen.
»Ich habe Ihnen vertraut, Roberto!«, brüllte er.
Machado hob die Pistole, um auf ihn zu schießen, aber Juan konnte sehen, wie weitere Wachmänner auf der Dragão von beiden Seiten auf sie zukamen, daher packte er Machados Arm, zog ihn hinter sich her und rief: »Kommen Sie weiter!«
Das Trio sprintete zur Steuerbordseite der Jacht, während Kugeln genau dort ins Deck einschlugen, wo sie soeben noch gestanden hatten.
Die Feuerstöße trieben sie bis zur Reling, über die sie hinweghechteten, um ins Wasser einzutauchen.