19
VITÓRIA, BRASILIEN
Als Juan Cabrillo die Krankenstation der Oregon betrat, traf er Julia Huxley dabei an, wie sie sich auf einem Tablet einige Notizen machte. Als leitende Schiffsärztin war sie während der beiden Tage seit der eiligen Rückkehr aus dem Hafen von Rio de Janeiro ungewöhnlich beschäftigt gewesen. Die Strapazen der langen Arbeitsstunden waren ihr deutlich anzusehen.
Anstelle eines weißen Laborkittels war ihre mittelgroße, wohlgeformte Gestalt in weit geschnittene grüne Operationskleidung gehüllt. Sie ließ die Schultern hängen, während sie sich an einen Instrumentenschrank lehnte, und unter ihren Augen, die normalerweise wach und aufmerksam ihre Umgebung betrachteten, waren dunkle Ringe zu erkennen. Das Haar trug sie wie gewöhnlich zu einem Pferdeschwanz zusammengerafft, der hin und her pendelte, während sie ausgiebig gähnte.
»Du hast offenbar nicht allzu viel Schlaf bekommen«, stellte Juan fest.
»Wenn überhaupt welchen«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Hier ging es rund um die Uhr.«
»Ich bin gekommen, um dich darüber zu informieren, dass López und Belasco zusammen mit Machados sterblicher Hülle heil in einer CIA -Chartermaschine in den USA gelandet sind.«
Juan hatte sich entschieden, nach Vitória zurückzukehren, weil die Stadt sowohl über einen Flugplatz als auch über eine Reihe guter Krankenhäuser und fähiger Ärzte verfügte.
»Wie hat López ausgesehen?«, fragte Julia.
»Dank dir und deiner gesegneten Hände sehr viel besser.«
»Glücklicherweise hatte das Messer keine lebenswichtigen Organe verletzt. Es war eine ziemlich schulmäßige und unkomplizierte Prozedur, ihn zusammenzuflicken, nachdem wir die Blutung unter Kontrolle gebracht hatten. Er sollte schon in ein paar Tagen wieder auf den Beinen sein.«
Ehe sie in die Corporation eintrat, war Julia als Chirurgin und leitende Militärärztin auf der Navy-Basis in San Diego tätig gewesen. Mit dem Operationssaal und der modernen Diagnosetechnik an Bord der Oregon konnten sie und ihr Team sämtliche Wundbehandlungen durchführen, auf die sonst nur wenige großstädtische Traumazentren spezialisiert waren.
»Wie sieht die Prognose für Jessica Belasco aus?«, fragte Juan.
»Sie hat eine schwere Gehirnerschütterung erlitten, als sie mit dem Kopf auf dem Betondach der Festung aufschlug. Ohne Helm hätte sie wahrscheinlich einen Gehirnschaden davongetragen oder sogar ihr Leben verloren. Soweit es sich momentan überblicken lässt, wird sie Wochen, wenn nicht gar Monate brauchen, um sich vollständig zu erholen.«
Juan verschränkte die Arme vor der Brust und verzog schmerzhaft das Gesicht, während er sich neben Julia an den Instrumentenschrank lehnte.
»Ich dachte, wir hätten einen guten Plan gehabt, um sie sicher herauszuholen«, seufzte er.
»Mach dir keine Vorwürfe«, sagte Julia. »Dies ist ein gefährliches Gewerbe. Das wussten wir alle, als wir unsere Unterschrift leisteten.«
»Aber diesmal war es nicht nur Pech. Wir haben es vermasselt. Konntest du in Erfahrung bringen, was mit Linda, Gomez und Murph im Gator geschehen ist?«
Sie zuckte ratlos die Achseln. »Ich habe sie alle eingehend untersucht und fand nichts Ungewöhnliches. Die Überprüfung auf irgendwelche giftigen Substanzen ergab auch nichts. Bis auf Lindas Verletzungen weist keiner irgendwelche sichtbaren Spuren auf.«
»Was könnte bewirkt haben, dass sie vollkommen den Verstand verloren?«
»Du weißt, wie sehr ich es hasse zuzugeben, dass ich vor einem Rätsel stehe, aber so etwas wie dies ist mir noch nie zuvor begegnet. Wenn ich ein wenig Schlaf aufgeholt habe, vertiefe ich mich noch mal in die medizinische Fachliteratur.«
Das Geräusch knarrender Krücken kündigte Halis Erscheinen in der Krankenstation an.
»Wie ich gehört habe, ist alles gut gelaufen«, sagte Julia zu ihm.
Sie hatte einen Orthopäden in Vitória aufgetrieben, der für seine Erfolge in der Behandlung von Kreuzbandverletzungen berühmt war.
»Es hat nur eine Stunde gedauert«, sagte Hali. »Wusstet ihr, dass dieser Arzt die Knieprobleme all der berühmten Fußballspieler hier in Brasilien behandelt hat und immer noch behandelt?«
Julia nickte. »Er hat mit mir an der Harvard Med Medizin studiert, ehe er hierherkam. Ich musste meine Beziehungen spielen lassen, um dir kurzfristig einen Behandlungstermin bei ihm zu verschaffen.«
Hali lächelte. »Das ist also der Grund, weshalb er meinte, ich sei schon in Kürze wieder zu perfekten Fallrückziehern fähig.«
»Geh doch schon in den Behandlungsraum. Ich komme in einer Minute und seh mir die Wunde an.«
Er gab ihr mit einem Daumen das Okay-Zeichen und humpelte weiter.
»Scheint ganz gut damit zurechtzukommen«, stellte Julia fest.
»Ich habe versprochen, ihm zur Belohnung für seine Bemühungen, Belasco zu retten, einen brandneuen Gleitschirm zu schenken«, sagte Juan. »Was wissen wir von unserer Invalidin?«
»Linda?«, fragte Julia. »Zwei geplatzte Trommelfelle. Nahezu totaler Hörverlust.«
Juan schluckte krampfhaft. »Permanent?«
»Ich hoffe nicht. Aber es wird eine Weile dauern, bis wir Genaueres wissen. Beide Trommelfelle wurden schwer beschädigt, aber ich hoffe, sie werden von selbst wieder zuheilen. In der Zwischenzeit kann man nur visuell mit ihr kommunizieren.«
»Ich besuche sie später.« Juan seufzte wieder und stand von der Kante des Schranks auf. »Jetzt habe ich erst einmal ein unangenehmes Telefonat vor mir.«
»Langston Overholt?«
Er nickte. »Es wird Zeit, dass ich ihm den aktuellen Stand dieses Debakels übermittle.«
»Du hast immerhin zwei von ihnen gerettet«, sagte Julia und legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. »Ohne dich und die Teams von der Oregon wären alle drei Agenten jetzt tot.«
Sie hatte natürlich recht, aber das war für Juan nur ein geringer Trost.
Er kehrte in seine Kabine zurück, um Overholt anzurufen. Als er sie betrat, traf er Maurice, den ergrauten Steward des Schiffes, der gerade eine Kanne Kaffee und einen Obstteller auf den Tisch stellte. Maurice war der einzige Nichtamerikaner auf der Oregon . Er hatte jahrzehntelang in der Royal Navy gedient, ehe er zur Corporation gelockt wurde. Wie immer war er mit einem weißen Leinenjackett bekleidet und hatte eine weiße Leinenserviette über seinen Unterarm drapiert.
»Ich dachte, eine kleine Erfrischung wäre eine angenehme Begleitung bei Ihrem Telefonat, Captain«, sagte Maurice. Er war der Einzige an Bord, der Juan nicht »Chairman« nannte. Er bestand auf der Einhaltung traditioneller seemännischer Umgangsformen.
»Danke, Maurice«, sagte Juan und nahm wieder einmal staunend zur Kenntnis, wie gut der Steward über alles informiert war, was auf der Oregon geschah. Maurice war das Epizentrum des Mannschaftsklatsches, und doch vertraute ihm jeder seine persönlichsten Probleme und Gedanken an. »Wie kommt die Mannschaft mit den Nachwirkungen unserer jüngsten Mission zurecht?«
»Sie ertragen sie mit Fassung«, antwortete Maurice, während er Kaffee einschenkte. »Wir alle wissen, dass die unglücklichen Ergebnisse die Folge einiger Probleme waren, mit denen Sie nicht hatten rechnen können … Wäre das alles, was ich für Sie tun kann, Captain?«
»Ja.«
Ohne einen weiteren Kommentar verließ Maurice die Kabine.
Juan holte tief Luft und wählte die Nummer.
Overholt meldete sich mit einem Stirnrunzeln. »Sie sehen ein wenig erschöpft aus, Juan.«
»Deshalb bin ich ja auch reif für ein Sprudelbad und eine Gesichtspackung und eine Maniküre anschließend«, versuchte Juan zu scherzen, ehe er wieder ernst wurde. »Bestimmt haben Sie mittlerweile meinen Bericht gelesen.«
»Das habe ich, und ich muss zugeben, dass ich geradezu fassungslos bin. Es passt gar nicht zu Ihnen, derart kalt erwischt zu werden. Haben Sie schon eine Vorstellung, weshalb Ihre Leute in Panik geraten sind und derart überstürzt reagierten?«
»Noch nicht. Julia Huxley geht dieser Sache nach. Wenn jemand eine Antwort auf diese Frage finden kann, dann ist sie es.«
»Na ja, leider muss ich auf dieses Desaster noch etwas draufpacken, was Ihnen das Leben nicht leichter machen dürfte«, sagte Overholt. »Ich habe beunruhigende Neuigkeiten.«
In Erwartung eines strengen Tadels von Overholts Vorgesetzten, weil er die Mission in den Sand gesetzt hatte, rutschte Juan nach vorn auf die Stuhlkante.
»Die Mannschaft der Manticora wurde gerettet«, fuhr Overholt fort. »Wie wir befürchtet hatten, wurde das Schiff versenkt, und neun Mannschaftsmitglieder verloren bei der Tragödie das Leben.«
Juan sah seinen alten Mentor verwirrt an. »Ich verstehe nicht. Was hat das mit uns zu tun?«
Overholts Miene war voller Sorge. »Einer der Geretteten war ein CIA -Agent namens Jack Perry. Kennen Sie ihn?«
Juan zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. »Er muss eingetreten sein, nachdem ich den Dienst quittiert habe.«
»Perry sollte im Zuge einer verdeckten Operation Waffen für eine Rebellengruppierung kaufen, die wir unterstützen. Das Umladen der Container sollte auf See stattfinden, und zwar von einem Frachter namens Portland
Juan gefiel überhaupt nicht, in welche Richtung sich das Ganze bewegte.
»Laut Perry«, fuhr Overholt fort, »eröffnete die Portland mit einer Gatling Gun und einer hinter Stahlplatten versteckten Panzerkanone das Feuer auf die Manticora und schickte sie auf den Grund des Ozeans. Außerdem haben sie sich dann mit dem Kaufpreis für die Waffen aus dem Staub gemacht.«
Juan starrte ihn entgeistert an. »Wie hat das Schiff ausgesehen?«
»Perrys Beschreibung passt perfekt auf die Oregon bis hin zu den fünf Kränen, der abblätternden Farbe und dem schmuddeligen Kapitänsbüro.«
»Ist er also auch mit dem Kapitän persönlich zusammengekommen?«
Overholt nickte mit ernster Miene. »Der Name, den der Mann benutzte, lautete Chester Knight, ganz sicher ein Alias.« Er machte eine Spannungspause. »Und er hatte eine Beinprothese.«
Juan war vollständig überrumpelt. »Ist Perry vertrauenswürdig?«
»Seine Darstellung wurde von den anderen Überlebenden bestätigt, bis auf die Beschreibung von Kapitän Knight. Perry war der Einzige, der ihn direkt zu Gesicht bekam.«
»Wir haben die Manticora nicht versenkt.«
»Das weiß ich natürlich«, sagte Overholt. »Aber es ist keine Hilfe, dass das angreifende Schiff einen ähnlichen Namen hat wie Ihres, was einen auf die Idee bringen könnte, dass Sie Portland als Pseudonym benutzt haben.«
Juan dachte daran, wie das aussah. »Und wir haben uns vor vier Tagen noch in der Nähe aufgehalten.«
»Das genau ist mein Problem, wenn ich mit den hohen Tieren der CIA rede.«
»Glauben Sie etwa, wir hätten das inszeniert?«
»Das ist die Schlussfolgerung, der ich um jeden Preis aus dem Weg gehen möchte«, sagte Overholt. »Aber es macht es mir um einiges schwieriger, Sie zu verteidigen. Es sind nämlich zusätzliche belastende Hinweise aufgetaucht.«
Juan hatte plötzlich einen eisigen Knoten im Magen, als er auf die nächste Hiobsbotschaft wartete.
Der Wandmonitor verblasste für einen kurzen Moment, dann erschien auf ihm das Bild, das sich auf Overholts Labtopdisplay befand. Es war eine Videosequenz. Zu sehen war ein rotes Frachtschiff, das von der untergehenden Sonne erhellt wurde.
»Das ist die Avignon , ein französischer Frachter. Sie ist gestern vom Porto de Santo in São Paolo in See gestochen.«
»Wir sind gestern nach Vitória unterwegs gewesen«, sagte Juan.
»Das Problem ist nur: Wir beide wissen, dass Sie bei der Höchstgeschwindigkeit der Oregon in der Nähe von São Paulo sein konnten und es immer noch bis dorthin geschafft hätten, wo Sie sich im Augenblick befinden.«
Overholt hatte recht. Ihr Alibi war wertlos.
»Woher haben Sie das Video?«, fragte Juan.
»Es wurde uns anonym übermittelt. Der Ton fehlt. Wir nehmen an, es wurde mit einem Mobiltelefon von einem Fischerboot aufgenommen. Sie können gleich sehen, weshalb es den CIA -Direktor in den höchsten Alarmzustand versetzt hat.«
Eine Rakete kam von außerhalb des Bildes und bohrte sich in den Rumpf der Avignon und sprengte ein riesiges Loch in ihre Seite. Eine Sekunde später wackelte die Kamera, da sie von der Druckwelle der Explosion erschüttert wurde.
Wer immer das Video aufgenommen hatte, drehte sich dann, und in diesem Moment erkannte Juan, dass die Corporation verleumdet werden sollte. Zu seinem Entsetzen musste er mit ansehen, wie von einem Trampfrachter eine zweite Antischiffsrakete abgefeuert wurde, um der Avignon den Rest zu geben.
Das angreifende Schiff sah aufs Haar genauso aus wie die Oregon .