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Im Operationszentrum der Oregon konnte Juan in seinem Kommandosessel keine bequeme Position finden. Die Impulse des Schall-Disruptors gingen ihm durch und durch und verursachten eine Gänsehaut, als habe er sechzehn Tassen Kaffee hintereinander getrunken. Und jeder in seiner Umgebung sah genauso leidend aus wie er. Aber sie drehten wenigstens nicht durch. Murphs und Julias Gegenmaßnahme, den Schiffsrumpf in Schwingungen zu versetzen, um die akustische Waffe zu neutralisieren, funktionierte offenbar.
Während der vergangenen beiden Tage waren sie mit Höchstgeschwindigkeit unterwegs gewesen, um die Portland abzufangen, bevor sie ihren Zielort erreichte. Aber sie waren nicht schnell genug. Juan hatte geplant, die Portland zu überraschen, wenn sie sich ihren Weg zwischen den Inseln suchte. Er würde warten, bis ihr Bug in Sicht käme, während er sich in einer Bucht versteckte, und dann vier Torpedos auf die Reise schickte, ehe Tate auch nur ahnte, dass die Oregon bereits in seiner Nähe war. Der geplante Angriff aus dem Hinterhalt war zwar nicht gerade sportlich, aber genau das war der Punkt. Juan wäre glücklich gewesen, die Portland auf den Grund des Ozeans zu schicken, ohne dass sie die Gelegenheit gehabt hätte, auch nur einen einzigen Schuss abzufeuern.
Der Funkverkehr zwischen der Deepwater und der Abtao , den sie abhörten, hatte die Ereignisse dann beschleunigt. Juan erkannte Durchenkos Stimme wieder, nachdem er seinerzeit auf der Portland gefangen gehalten worden war. Er konnte nicht zulassen, dass das NUMA -Schiff von Tate übernommen wurde. Es hätte alles vollkommen verändert. Also ließ Juan die Oregon in der Nebelbank verschwinden und bediente sich des schiffseigenen LiDAR -Systems, um sie durch die engen Wasserstraßen zu navigieren. Sobald das Flugkörper-Schnellboot von der Zielautomatik erfasst wurde, feuerte er.
Unglücklicherweise tat Durchenko das Gleiche. Drei Harpoons gingen ins Leere, aber eine traf den Raketenwerfer der Oregon . Es würde Tage dauern, ihn zu reparieren, selbst wenn sie in einem Trockendock gelegen hätten.
Der restliche Schadensbericht war nicht viel besser. Der Treffer, der den Raketenwerfer lahmgelegt hatte, zerstörte auch die Kontrollen für die Torpedoabwehr. Und obgleich die Kommandobrücke im Deckaufbau eine rein kosmetische Aufgabe erfüllte, erwischte die Explosion der Exocet auch das Radar, was bedeutete, dass vorerst jede Suche manuell durchgeführt werden musste. Glücklicherweise war das LiDAR noch funktionsfähig, sodass sie sich in den Nebel zurückziehen konnten, nachdem sie dafür gesorgt hatten, dass die Deepwater in der Lage war zu fliehen.
»Murph«, sagte Juan, »schicken Sie der Portland zwei Torpedos.«
»Aye, Chairman«, erwiderte Murph. »Torpedos unterwegs.«
Auf dem Bildschirm konnte Juan verfolgen, wie die Torpedos aus den Rohren ausgeworfen wurden und ins Wasser eintauchten.
»Zwei Minuten bis zum Ziel«, sagte Murph.
»Hali, wie sieht es auf der Deepwater aus?«
»Ihre Maschinen sind schwer beschädigt«, erwiderte Hali. »Captain Jefferson meint, sie schleppten sich im Schritttempo dahin. Sie würden es ohne umfangreiche Reparaturen allerdings niemals bis nach Puntas Arenas schaffen.«
»Bestellen Sie ihr, sie soll sich einen Unterschlupf suchen, während wir versuchen, die Portland von ihr wegzulocken.«
»Aye, Chairman.«
Hali stand in sicherem Funkkontakt mit Jefferson. Auch wenn sie über die Satellitenverbindung keine Hilfe anfordern konnte, hatte sie doch immer noch ein funktionsfähiges Funkgerät für kurze Entfernungen an Bord. Die defekte Satellitenschüssel war ohnehin bedeutungslos. Wenn irgendwelche Schiffe der chilenischen Marine einträfen, wäre sowieso alles längst vorbei – auf die eine oder andere Art.
Sobald die Deepwater die Insel hinter sich hatte, konnte sie alle möglichen Richtungen einschlagen und der Portland die Suche nach ihr erheblich erschweren.
Aber sie brauchte Zeit.
»Chairman«, sagte Hali in dringlichem Tonfall. »Ich höre soeben von der Deepwater , dass die Sonarboje, die sie in diesem Kanal abgesetzt haben, zwei unbekannte laute und hohe Signale empfängt, die sich in unsere Richtung bewegen. Bei der Geschwindigkeit, mit der sie unterwegs sind, müssten sie in einer Minute auf unserer Höhe sein.«
»Torpedos«, sagte Juan. Dies war der Nachteil, vor dem Murph ihn gewarnt hatte, als er das Sonar modifiziert hatte, um mit ihm den Schall-Disruptor zu neutralisieren. Alles, was unter Wasser auf sie zukäme, könnten sie nicht aufspüren. In dieser Richtung waren sie blind.
»Dreißig Sekunden für unsere Fische«, sagte Murph. »Die Portland hat sich hinter diese kleine Insel zurückgezogen und Gegenmaßnahmen gestartet.«
In hilfloser Wut schlug Juan auf die Armlehne seines Sessels. Dies war genau die Taktik, die er selbst auch angewendet hätte, nur dass er nicht den Schutz einer Insel hatte, um sich dahinter zu verstecken. Und er konnte seine Audioköder nicht ausbringen, um die Torpedos von der Oregon wegzulenken, weil sie durch die Harpoon-Rakete der Abtao zerstört worden waren.
Tates Schachzug verfehlte seine Wirkung nicht. Die Torpedos der Oregon prallten harmlos gegen die Insel und sprengten Felsbrocken von den Klippen ab, die sich als kleiner Erdrutsch ins Meer ergossen.
Das war einer der Vorteile, der sich daraus ergab, dass sich die Portland hinter die Insel zurückgezogen hatte. Juan spürte nicht länger die Auswirkungen des Sonar-Disruptors auf sein Gehirn.
Murphs improvisierte Version der gleichen Waffe, die am Sonar der Oregon befestigt war, konnte jedoch jederzeit eingesetzt werden.
»Murph«, sagte Juan. »Machen Sie mal einen Versuch, ob Sie das passive Sonar der Torpedos irgendwie stören können.«
»Kein Problem.«
Die Sonarkuppel sandte jetzt ein Signal aus, das eine Fehlfunktion der Torpedosensoren auslösen konnte. Theoretisch.
»Stoney, bugsieren Sie uns aus der Laufrichtung der Torpedos.«
Eric machte einen tiefen Atemzug und sagte: »Viel Platz zum Manövrieren haben wir zwar nicht, aber ich werde sehen, was ich tun kann.«
Er lenkte die Oregon zur nächsten Insel und dort so dicht ans Ufer wie irgend möglich. Die Torpedos der Portland zogen ihre Bahn zu tief, um mit bloßem Auge gesehen werden zu können, daher konnte man erst dann mit Sicherheit feststellen, dass sie ihr Ziel verfehlt hatten, wenn sie im freien Wasser explodierten, und das hoffentlich in weiter Entfernung.
Ein Geysir schoss am Strand gegenüber in den Himmel. Murphs Disruptor hatte also funktioniert und die Waffe vom Kurs abgebracht.
Doch beim zweiten Torpedo hatte er nicht genauso funktioniert. Er musste in die andere Richtung abgedriftet sein, denn er explodierte dicht vor dem Bug der Oregon und schüttelte das Schiff heftig durch. Juan musste sich an seinem Sessel festhalten, um nicht herauszurutschen.
Dann erklang ein Alarmsignal und meldete ein Leck im Rumpf.
»Lecktüren in Abschnitt drei, fünf und sieben schließen«, rief Max so ruhig und gelassen er konnte. »Ich habe einen Leistungsabfall im Venturi-Rohr an Backbord, und die Strahlruder wurden beschädigt. Wir sollten die Ballasttanks an Steuerbord fluten, um den Wassereinbruch an Backbord zu kompensieren.«
Da die Oregon ernsthaft beschädigt war, konnten sie nicht länger warten, um der Deepwater einen größeren Vorsprung zu verschaffen. Juan musste die Oregon von dort wegbringen, bevor die Portland einen zweiten Schuss auf sie abfeuern konnte. Aber wenn sie einfach nur in den Nebel flüchteten, würde die Portland sie einholen, ehe die Oregon in die Lage kam, sie abzuhängen.
Was hätte Juan in diesem Augenblick für so etwas wie eine Straßensperre gegeben …
Sein Blick blieb an der Insel in der Kanalmitte hängen, die zwischen ihnen und der Portland lag. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder um die Insel herumkam, und sie konnte es nur auf der Backbordseite schaffen, weil die Steuerbordseite viel zu eng für sie war, um sich hindurchzuzwängen.
Aber es waren die Überreste des Erdrutsches, die Juans Interesse geweckt hatten. Er blickte zum Gletscher, der bis an den engsten Abschnitt des Kanals heranreichte. Das Eis tauchte fast ins Wasser ein.
»Murph«, sagte Juan. »Feuern Sie zwei Torpedos ab. Aber das Ziel ist nicht die Portland . Sie sollen diesen Gletscher genau in der Mitte treffen. Und lassen Sie die Torpedos so dicht wie möglich unter der Wasseroberfläche marschieren.«
Murph folgte Juans Blick und nickte, als er begriff, was dieser im Sinn hatte.
Er tippte neue Koordinaten in den Computer und sagte: »Torpedos unterwegs.«
Als die Portland hinter der Insel auftauchte, rasten die Torpedos auf den Gletscher zu, wobei die Propeller eine deutliche Heckwelle erzeugten.
Fünfzehn Sekunden später explodierten sie genau unter dem Teil des Gletschers, der über den Kanal hinaushing, und bewirkten, dass riesige Eisbrocken in die Wasserstraße stürzten. Die Explosion setzte aber auch eine Kettenreaktion in Gang, indem mächtige Eisbastionen vom Gletscher abgesprengt wurden und den Weg blockierten, den die Portland nehmen müsste. Selbst wenn sie mit ihrem gepanzerten Rumpf die Barriere rammte, könnte das Eis Löcher in den Stahl reißen.
Juan musste hoffen, dass Tate dieses Risiko einging. Er würde sich aus dem Kanal zurückziehen und die Insel umrunden, um zu versuchen, Juan den Weg abzuschneiden. Bis dahin, rechnete Juan sich aus, könnte er längst in dem Labyrinth von Kanälen und Fjorden im National Reserve verschwunden sein.
»Stoney, bringen Sie uns von hier weg.«
Eric drehte die Oregon und lenkte sie in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Bevor die Portland vollständig hinter der Insel zu sehen war, schleppte sich die angeschlagene Oregon in die Nebelbank.