Kapitel 11
Im blauen Wasser des Schleusenpriels spiegelte sich das Bild der alten Hermine. Der Frachtsegler, dessen wechselvolle Geschichte während der neunziger Jahre in ein Museumsprojekt gemündet war und zum touristischen Aushängeschild wurde, war ein beliebtes Fotomotiv. Touristen hoben Smartphones und Kameras, um den restaurierten Gaffelschoner von allen Seiten abzulichten. Auf dem Rasen am Priel genossen Einheimische und Besucher die Sonne, Kinder vergnügten sich am Wasser oder an den Spielgeräten.
Den kleinen Trupp mehr oder weniger verwahrloster Menschen mussten sie nicht lange suchen. Unartikulierte Rufe und das Klirren von Flaschen wiesen ihnen den Weg zu einem Platz im Schatten. Ein halbes Dutzend Männer und eine Frau hatten sich unter den Bäumen niedergelassen, um ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen: Trinken und Streiten.
Sie verstummten, als Christiansen und Röverkamp zu ihnen traten und ihre Ausweise präsentierten. »Jetzt schickense schon Rentner los«, krähte einer. »Die Bullerei is aunichmehr, wasse ma war.«
»Moin«, grüßten die Ermittler. »Wir suchen Herrn Blessing.« Konrad Röverkamp musterte die Anwesenden. »Bastian Blessing. Ist er hier?«
»Wer will das wissen?«, fragte ein etwa dreißigjähriger Mann in Jeans und T-Shirt. Er stand breitbeinig in der Gruppe, hatte beide Daumen hinter den Gürtel gehakt und starrte ihn herausfordernd an.
»Mein Name ist Christiansen«, beantwortete der ehemalige Kriminaloberrat die Frage. »Mein Kollege Röverkamp und ich wollen einen alten Fall aufklären.«
Im Gesicht des Fragestellers zeichnete sich Neugier ab. »Alter Fall?«
»Es geht um eine Segelyacht, die 2002 mit drei Menschen an Bord verschwunden ist.«
Der Mann sah ihn nachdenklich an; schließlich nickte er. »Seeteufel. Weiß Bescheid.«
»Sie sind Bastian Blessing?«, fragte Röverkamp.
»Hundert Pro.« Blessing bückte sich, hob eine Bierflasche auf und schwenkte sie mit dem Hals nach unten. Ein paar Tropfen fielen heraus. »Ham grad Ebbe. Dabei ist die Luft heute so trocken.«
Christiansen warf seinem Kollegen einen Blick zu und wandte sich wieder an Blessing. »Dagegen lässt sich was tun. Können wir uns einen Augenblick unterhalten? Danach gibt’s was. Während Sie mit meinem Kollegen sprechen, besorge ich was gegen die Trockenheit.« Er nickte Röverkamp mit verhaltenem Schmunzeln zu und wandte sich zum Gehen.
»Was wissen Sie über die Fahrt der Seeteufel?« Röverkamp hatte Blessing zu einer Bank geführt und sich neben ihm niedergelassen. Christiansen war unterdessen in Richtung Lütte Fischbude verschwunden.
»Da is meine Schwester mit untergegangen. Hat aber selber Schuld gehabt. Weil – sie hat sich mit diesem Arschloch eingelassen.«
»Arschloch?«
Blessing machte eine wegwerfende Handbewegung. »Erik hieß der. So ’n reicher Schnösel. Wollte mit Papas Yacht die Mädchen beeindrucken.«
»Das Ziel der Fahrt hat Ihre Mutter später von Ihnen erfahren. Richtig?«
»Helgoland«, bestätigte Blessing. »Hab ich gehört, als Kathi telefoniert hat. Musstich damals aber für mich behalten.«
»Haben Sie auch mitbekommen, wer die anderen Mitfahrer waren?«
»Klar. Benny. Das ist der …«
»Das wissen wir«, unterbrach Röverkamp ihn. »Gab es nicht noch eine Person?«
Blessing schüttelte den Kopf. »Eine Freundin von Kathi sollte mitfahren. Aber die konnte wohl nicht. Ist jedenfalls nicht auf dem Boot gewesen. Hab sie später in der Stadt gesehen.«
»Erinnern Sie sich an ihren Namen?«
»Julia. Sie hieß Julia. Nachname weiß ich nicht.«
Röverkamp stand auf. »Vielen Dank. Sie haben uns sehr geholfen.«
»Und was is mit Flüssigkeit für meine trockene Kehle?«
»Schauen Sie!« Röverkamp deutete auf Claus-Peter Christiansen. »Mein Kollege kommt schon.« Dieser näherte sich mit großen Schritten und trug eine Plastiktüte, in der sich Flaschen abzeichneten.
»Seid ihr fertig?«, fragte er und reichte Blessing die Tüte, der sich mit einer Geste bedankte und rasch in Richtung seiner Kumpane davoneilte. Röverkamp nickte.
»Lass uns verschwinden«, raunte Christiansen. »Bevor die sich die Beute teilen.«
»Mit dem neuen Biervorrat sind die erst mal ruhiggestellt«, vermutete Röverkamp.
Sein ehemaliger Chef schüttelte den Kopf. »Kein Bier. Mineralwasser.«

*
Seit der Befragung durch die Kriminalbeamten und der Abgabe ihrer Fingerabdrücke waren erst wenige Tage vergangen, dennoch schien sich für Julia das Leben zu normalisieren. Noch immer tauchte das Bild des toten Ralf Börnsen im Wechsel mit Eriks grinsendem Gesicht vor ihr auf, aber die Eindrücke begannen zu verblassen. Weder von der Polizei noch von Erik hatte sie etwas gehört. Sie beschloss, Leonie nach Hause zu holen und das geplante Ferienprogramm fortzusetzen. Als Nächstes stand eine Fahrt mit der Moorbahn durch das Ahlenmoor auf dem Plan. Die umgebaute Feldbahn des ehemaligen Torfwerks fuhr auf einem Rundkurs durch ein Naturschutzgebiet. Dort gab es Tiere, für die Leonie sich begeistern würde.
Sie rief ihre Mutter an, um nach ihr zu fragen, und erfuhr, dass Leonie viel lieber noch bei ihrer Oma bleiben wollte. Die schien nichts dagegen zu haben. »Ich komme euch besuchen«, erklärte Julia. »Und dann sehen wir weiter.«
Auf dem Weg nach unten angelte sie einen amtlich aussehenden Umschlag aus dem Briefkasten. Das kam selten vor, meistens fand sie nur Werbung oder Rechnungen darin. Mit klopfendem Herzen suchte sie nach dem Absender. Polizei? Staatsanwaltschaft? Nein. Der Brief kam von einer Anwaltskanzlei. Was konnte ein Rechtsanwalt von ihr wollen? Hin- und hergerissen zwischen Empörung, Neugier und einer Spur schlechten Gewissens starrte sie auf den Absender. Rechtsanwalt und Notar Dr. Lars Lindhorst. Darunter eine Zeile mit kleinen Buchstaben. Julia kniff die Lider zusammen, hob den Umschlag vor die Augen und entzifferte die winzigen Lettern: Notariat. »Was will der von mir?«, murmelte sie. Skeptisch, aber auch voller Neugier, riss sie den Umschlag auf und überflog den Text. Erst beim zweiten Lesen verstand sie, worum es ging. Um einen Termin für eine Testamentseröffnung. Betr.: Nachlass und testamentarische Verfügung des verstorbenen Ralf Börnsen.
Hatte er ihr etwas vererbt? Das konnte eigentlich nicht sein. Sie waren sich einig gewesen, dass zwischen ihnen alles geklärt war, auch finanziell. Sollte er es sich später anders überlegt haben? Warum? Weil er sonst keinen Erben hatte? Seine Frau lebte noch, war jünger als er. Musste sie nicht alles bekommen? Und Erik. Er war nicht tot, er war nach Cuxhaven zurückgekehrt. Bestimmt würde er sein Erbe einfordern. Wenn sein Vater ihr, Julia, etwas vermacht hatte, würde es Ärger geben. Erik war nicht der Typ, der freiwillig teilte. Mit ihm würde sie sich nicht anlegen. Womit auch immer Ralf sie bedacht haben mochte – sie konnte es nicht annehmen. »Ein Erbe kann man ausschlagen«, murmelte sie. »Und genau das werde ich tun.«

*
Der Airbus A 320 des Fluges TAP 0568 der Air Portugal war pünktlich um 11.45 in Hamburg gelandet. Erik hatte an Bord gefrühstückt, sich dazu einen Piccolo gegönnt und war gut gelaunt. Heute würde er offiziell in Cuxhaven ankommen. Außer Julia Jacobs und Joana wusste niemand, dass er zuvor schon zwei Tage und zwei Nächte dort verbracht hatte. Bevor er am Hauptbahnhof in den Regionalexpress steigen würde, wollte er seine Mutter besuchen. Joana hatte für ihn herausgefunden, wo sie lebte und ihm sogar eine Telefonnummer geschickt. Er hatte jedoch darauf verzichtet, anzurufen. Da er nur mit Handgepäck reiste, konnte er das Flughafengebäude zügig verlassen. Vorm Terminal 1 stieg er in ein Taxi und gab das Ziel an.
Eine knappe halbe Stunde stand er am Empfang des Carolinum Alsterblick und sah sich mit einem unerwarteten Hindernis konfrontiert. Unangemeldet, beharrte die Dame freundlich, aber bestimmt, könne er niemanden besuchen, ohne sich als Angehöriger auszuweisen.
Sein alter Personalausweis war längst abgelaufen, das Foto darin hatte wenig Ähnlichkeit mit ihm. Als er seinen Führerschein und sein Flugticket danebenlegte, ließ sich die Empfangsdame erweichen, nannte ihm die Nummer des Apartments und zeigte ihm den Aufzug, den er benutzen musste.
Sein Klopfen ergab zunächst keine Reaktion. Erst nach dem zweiten Mal vernahm er hinter der Tür die Stimme seiner Mutter. »Ja, bitte!«
Auf den Anblick war er vorbereitet. Über das Internet hatte er die Ereignisse in Cuxhaven verfolgt, zeitweise sogar die Online-Ausgaben der Cuxhavener Nachrichten und der Nordsee-Zeitung abonniert. So hatte er auch den Bericht über den Verkehrsunfall gelesen, bei dem Ralf Börnsen seine Frau Christina zum Krüppel gemacht hatte. Dennoch erschrak er, als er den Flur durchquert hatte, das Wohnzimmer betrat und den Rollstuhl sah. Die Frau darin saß an einem Schreibtisch, vor sich hatte sie einen Computermonitor und eine Tastatur. Es vergingen einige Sekunden, bevor sie sich zu ihm umwandte. »Ja, bitte?«, wiederholte sie, diesmal als Frage. In ihrem Gesicht las er Erstaunen und Ungläubigkeit, während in den Augen schon die Freude stand. Mit einer hastigen Bewegung löste sie sich vom Schreibtisch, rollte auf ihn zu, streckte die Arme aus. »Erik!«, rief sie mit heiserer Stimme, »bist du’s wirklich?«
So gut es ging, nahm Erik seine Mutter in die Arme. Wortlos, denn die Sätze, die er sich zur Begrüßung zurechtgelegt hatte, waren zerronnen. »Mama«, flüsterte er an ihrer Schulter. »Ich bin … habe … komme aus Portugal.«
Sie umklammerte ihn so fest, dass sich ihr Körper aus dem Rollstuhl hob. »Du hast überlebt, mein Junge. Und bist wieder bei mir. Was für ein wunderbarer Tag! Warst du die ganze Zeit in Portugal? Bleibst du jetzt hier?«
»Nein. Ja.« Erik kämpfte gegen einen Ansturm ungewohnter Gefühle. »Jedenfalls die meiste Zeit. Zurückgekommen bin ich, weil … ich gelesen habe, dass Vater … gestorben ist. Und ja, ich bleibe hier.«
»Das ist schön.« Christina Börnsen griff nach Eriks Hand. »Komm, mein Junge, setz dich!« Sie zog ihn zur Sitzgruppe. »Hast du Hunger? Was soll ich bringen lassen? Frühstück? Oder was zu trinken? Wir können auch nach unten ins Restaurant …«
Erik wehrte ab. »So lange kann ich mich nicht aufhalten. Ich will heute noch nach Cuxhaven.«
Seine Mutter warf einen Blick auf die Uhr. »Das verstehe ich, du willst dich um alles kümmern. Richtig so. Das Hotel braucht eine Führungspersönlichkeit. Aber dein Ding war das nie. Ist das jetzt anders?«
»Ja.« Erik nickte. »Habe in Portugal Gefallen an dem Business gefunden und mich eingearbeitet.«
»Freut mich zu hören. Aber ein bisschen Zeit haben wir noch. Ich bestelle uns einen kleinen Imbiss. Und einen Prosecco. Auf deine Wiedergeburt müssen wir anstoßen.«
»Gern.« Erik lächelte seiner Mutter zu und wartete, bis sie ihre Bestellung aufgegeben hatte. »Du hast gerade das Hotel angesprochen«, begann er. »Jemand muss die Geschäftsführung übernehmen. Ich weiß nicht, ob Vater für den Fall der Fälle Vorsorge getroffen hat.«
»Das weiß ich auch nicht.« Christina Börnsen winkte ab. »Aber ich glaube nicht, dass er ein Testament gemacht hat. Er war ja noch keine siebzig und topfit.«
»Also gehört das Unternehmen jetzt dir. Oder?«
»Und dir, mein Junge.« Eriks Mutter strahlte. »Wie das juristisch genau ist, spielt für mich keine Rolle. Ich brauche das Hotel nicht, könnte es auch nicht leiten. Also überschreibe ich dir meinen Anteil. Der künftige Inhaber heißt Erik Börnsen.«

*
Monika Jacobs hatte vierzig Jahre als Rechtsanwalts- und Notariatsgehilfin gearbeitet. Die Bezeichnung für den Beruf war während ihrer Berufstätigkeit geändert worden, aber den Begriff Notarfachangestellte akzeptierte Monika Jacobs nicht. Julia hatte ihr den Brief in die Hand gedrückt. Sie würde ihr erklären können, was sie tun musste, um einem Erbe zu entgehen, dass sie unweigerlich in Konflikt mit Erik Börnsen bringen würde.
»Du kannst das Erbe nicht ausschlagen«, stellte ihre Mutter fest, nachdem sie das Schreiben des Notars gelesen hatte.
»Warum nicht? Ich denke, niemand kann gezwungen werden, eine Erbschaft anzunehmen.«
»Du bist nicht die Begünstigte«, erklärte ihre Mutter, »sondern vom Erblasser als Testamentsvollstrecker eingesetzt. Im Gesetz heißt es, der Testamentsvollstrecker hat die letztwilligen Verfügungen des Erblassers zur Ausführung zu bringen. Das bedeutet, du musst den Nachlass beziehungsweise einen Teil des Nachlasses verwalten und dafür sorgen, dass der Begünstigte zu einem vom Erblasser, also von Herrn Börnsen, festgesetzten Zeitpunkt in den Genuss des Erbes kommt.«
Julia schüttelte den Kopf. »Der Begünstigte? Festgesetzter Zeitpunkt? Genuss des Erbes? Ich verstehe das alles nicht.«
»Eigentlich kann es nur eins bedeuten.« Monika Jacobs ließ das Schreiben sinken und sah ihre Tochter nachdenklich an. »Du hast mir nie gesagt«, flüsterte sie nach einem Blick durch die Tür auf ihre Enkelin, die nebenan in Die kleine Hexe vertieft war, »wer Leonies Vater ist.«
»Was hat das jetzt damit zu tun?«, empörte sich Julia. In dem Augenblick, in dem sie die Frage formulierte, fielen ihr die sprichwörtlichen Schuppen von den Augen. »Leonie«, murmelte sie. »Mit Begünstigter meinst du Leonie. Ralf hat sie als Erbin eingesetzt.«
Ihre Mutter lächelte. »Also ist … war Ralf Börnsen …« Sie holte Luft und atmete heftig aus. »Daher die Wohnung! Und mit seinem Testament sichert er die Zukunft seiner Tochter. Das ist doch anständig. Findest du nicht?«
»Das ist vor allem gefährlich. Für Leonie, für mich, für uns alle.«
»Wie kann eine Erbschaft gefährlich sein?«, entgegnete Monika Jacobs. »Was redest du für einen Unsinn.«
»Ralf hat einen erwachsenen Sohn. Der wird alles daransetzen, das gesamte Erbe für sich zu bekommen. Mit alles meine ich wirklich alles
»Börnsen? Sohn? Hast Du ihn nicht sogar gekannt?« Julias Mutter schüttelte energisch den Kopf. »Der ist schon vor zwanzig Jahren oder so auf der Nordsee tödlich verunglückt. Ich erinnere mich noch an die Zeitungsartikel. Du nicht?«
»Doch«, bestätigte Julia. »Aber er ist nicht wirklich ums Leben gekommen. Er ist wieder da.«
»Das glaube ich nicht. Der ist mit einem Segelboot unterwegs gewesen. Und das ist gesunken. Es gab einen Toten. Weiß ich noch genau. Wer behauptet denn, dass der junge Börnsen …?«
»Ich habe ihn gesehen«, unterbrach Julia ihre Mutter. »Beim Sommerfest am Meer. In der Grimmershörn-Bucht.« Die weiteren Begegnungen mit Erik erwähnte sie nicht.
»Du musst dich geirrt haben. Wie willst du denn nach so langer Zeit jemanden erkennen, der inzwischen fast zwanzig Jahre älter ist. Unter so vielen Leuten, in dem Gedränge …«
»Ich weiß es«, beharrte Julia. »Und es macht mir Angst.« Sie warf ebenfalls einen Blick ins Nebenzimmer und senkte die Stimme. »Ich würde Leonie ja gern abholen. Aber nun … Kann sie noch ein paar Tage bei dir bleiben?«
»Selbstverständlich. Solange du willst und solange sie möchte. Ich freue mich, wenn sie bleibt. – Was hast du vor?«
»Ich muss nachdenken. Und mich um diese Erbschaftsangelegenheit kümmern.«
»Denk daran, dass es nicht um dich geht!« Monika Jacobs hob einen ausgestreckten Zeigefinger. »Du hast nicht das Recht, deinem Kind sein Erbe vorzuenthalten.«
»Ich weiß«, murmelte Julia, »es geht mir um etwas anderes.« Sie stand auf und nahm ihrer Mutter den Brief aus der Hand. »Ich sage Leonie Bescheid.«
Ihre Tochter sah nur kurz auf. »Cool, dass ich noch bei Oma bleiben darf«, sagte sie und vertiefte sich sofort wieder in ihre Lektüre. Das Buch von der Kleinen Hexe hatte Julia als Kind ebenfalls verschlungen. Leonie schien ihre Leidenschaft fürs Lesen geerbt zu haben, das gefiel ihr. Wenngleich sie der kühle Abschied ihrer Tochter ein wenig schmerzte.

*
Das Restaurant am Dorumer Tief war Marie vertraut. Trotzdem machte sie sich voller gespannter Erwartung auf den Weg. Es war weniger das kulinarische Angebot als die Hoffnung auf Erkenntnisse zum Fall der 2002 verschollenen Yacht. Konrad Röverkamp hatte sie angerufen und vom Inhalt der Akten und von Gesprächen mit Angehörigen des seinerzeit vermissten Mädchens berichtet. Christiansen würde dem Hinweis auf die Insel Helgoland nachgehen und heute Abend das Ergebnis seiner Recherchen mitbringen. Marie knüpfte daran die Hoffnung, ein klareres Bild der damaligen Ereignisse zu bekommen. Ob ihr das allerdings weiterhelfen würde, war völlig unklar.
Zurzeit traten sie im Fall Ralf Börnsen auf der Stelle. Die Obduktion hatte Hinweise auf die Ursache des Sturzes ergeben. Auf der Brust des Hoteliers waren Hämatome entdeckt worden, die auf einen kräftigen Stoß hindeuteten. Die Annahme, dass er durch Fremdverschulden ums Leben gekommen war, hatte sich dadurch erhärtet. Leider hatten die Kriminaltechniker noch keine weiterführenden Spuren gefunden. Der Täter musste Handschuhe getragen oder einen Gegenstand benutzt haben.
Jan vertrat die Auffassung, dass auch eine Frau die Tat begangen haben konnte und hielt Julia Jacobs jetzt für hinreichend verdächtig. Marie war inzwischen sicher, dass sie Börnsen nicht vom Hoteldach gestoßen hatte, musste sich aber eingestehen, dafür keine Beweise zu haben, sondern lediglich ihr Gefühl ins Feld führen zu können. Zusätzlich erschwerte ausgerechnet Felix die Ermittlungen. Nachdem er das Ereignis als Thema entdeckt hatte, brachte er in jeder neuen Ausgabe der Cuxhavener Nachrichten einen Artikel zum Fall Börnsen. »Der bringt uns neue Leser«, hatte er freudestrahlend verkündet. »Mysteriöses Verbrechen in unserer Stadt – das interessiert die Leute.«
Damit hatte er offensichtlich Recht. Denn in der Zentrale der Polizeiinspektion liefen die Telefone heiß. Unzählige Anrufer wollten zur Aufklärung beitragen, sich wichtigmachen oder auch nur für Verwirrung sorgen. Pressesprecherin Anne Lüken hatte alle Hände voll zu tun, die Spreu vom Weizen zu trennen. In den sozialen Medien tobte ein Wettbewerb um größtmögliche Aufmerksamkeit. Die Beiträge der Nutzer reichten von schwülstigen Kondolenzbezeugungen über angebliche Beobachtung der Tat und hämische Anmerkungen zur Unfähigkeit der Polizei bis zur Verhöhnung des Todesopfers. Anne war nicht zu beneiden, denn sie musste stündlich abwägen, ob sie mit Richtigstellungen reagieren, den Unsinn ignorieren oder brauchbar erscheinende Hinweise an die ermittelnden Kollegen weiterleiten sollte.
Die Strandhalle gehörte zu einem Gebäudekomplex, in dem auch das Watt’n Bad untergebracht war. Die Badelandschaft schien gut besucht zu sein, denn als Marie ihren Roller abstellte, wehte die typische Geräuschkulisse zu ihr hinüber. Auch am Hafen war Betrieb. Einige der farbenfrohen Kutter lagen am Kai und löschten gerade ihre Ladung. Begleitet wurde der Abtransport des Fangs von zahlreichen Touristen. Der Gedanke an frische Krabben ließ Marie das Wasser im Mund zusammenlaufen. Vielleicht würde sie heute statt Lachsfilet auf Blattspinat lieber das Fischerfrühstück nehmen oder die Krabben mit Bandnudeln in Kräuterrahmsauce. Sie schluckte und eilte den Weg zur Strandhalle hinauf.
»Hallo, Marie!« Vom Gezeitenbrunnen winkte ihr Jan Feddersen zu. Er hielt sein Smartphone hoch und bedeutete ihr, näherzukommen.
»Lass uns ein Foto machen! Fürs Büro. Mit dem Leuchtturm Obereversand im Hintergrund. Wir haben Hochwasser, die Sonne scheint. Im Hafen liegen Schiffe, draußen fahren Segelboote. Traumhaft. In der dunklen Jahreszeit können wir uns dann darüber freuen.«
»Schöne Idee!«, lachte Marie und zog ebenfalls ihr Handy aus der Tasche. »Jeder macht eine Aufnahme, und das schönere Bild hängen wir auf. Aber dann lass uns reingehen! Ich habe Hunger. Und wie ich meine alten Chefs kenne, sitzen die schon am Tisch und studieren die Speisekarte.«
»Guten Tag, Frau Janssen«, begrüßte die Frau des Inhabers sie, als sie das Restaurant betraten. »Herr Röverkamp ist schon da. Mit einem Kollegen.« Sie deutete zur weitläufigen Terrasse. »Die Herren möchten draußen einen Aperitif nehmen. Ihr Tisch am Fenster ist aber auch bereit.«
Marie machte sie mit Jan Feddersen bekannt und ging voraus. Konrad Röverkamp und Claus-Peter Christiansen saßen in einem der Strandkörbe, hatten jeder ein großes Bier vor sich und waren offensichtlich bester Laune. »Schön, dass ihr da seid!«, rief Maries ehemaliger Chef und Kollege und gab einem der Kellner einen Wink. Der begrüßte die Ankömmlinge mit einem freundlichen Lächeln von der geöffneten Terrassentür aus und ging sofort hinein, ohne ihre Bestellung entgegengenommen zu haben.
»Setzt euch!«, forderte Röverkamp und deutete zu den Sesseln auf der anderen Seite des Tisches, auf dem zwei Speisekarten lagen. »Entschuldigt bitte, dass wir schon Getränke bestellt haben. Wir sind mit unseren Fahrrädern hier. Sind zwar E-Bikes, trotzdem hat uns die Spritztour ein bisschen ins Schwitzen gebracht. Ihr kriegt auch gleich was.«
Kaum hatten Marie und Jan sich gesetzt, erschien der Kellner mit einem Tablett, darauf ein frisch gezapftes Bier und ein beschlagenes Glas, in dem eine orangerote Flüssigkeit perlte. »Einen Aperol Spritz für die Dame und ein Pils für den Herrn«, sagte er und stellte die Getränke vor ihnen ab. »Zum Wohl!«
»Was für ein Service!«, entfuhr es Marie. »Ich bekomme meinen Lieblingsaperitif, ohne zu bestellen.«
Konrad Röverkamp warf dem Kellner einen konspirativen Blick zu und grinste. »Frau Aggelidis war so freundlich, uns einen kleinen Tipp zu geben. Und dass Kollege Feddersen ein kühles Bier nicht verachtet, weiß ich seit meiner Abschiedsfeier.« Er hob sein Glas. »Prost!«
Nachdem alle miteinander angestoßen hatten, schob Claus-Peter Christiansen die Speisekarten über den Tisch. »Konrad und ich haben schon gewählt. Fischplatte Dorumer Tief und Wurster Variation
»Ich nehme was mit Krabben«, erklärte Marie und schlug die Karte auf. Mit dem Ellenbogen stieß sie Jan Feddersen an, der den Blick aufs Meer gerichtet hatte. »Und du? Auch Fisch? Sonst kann ich dir das Rumpsteak empfehlen.«
»Ich kann mich gar nicht von dem Anblick trennen«, antwortete ihr Kollege. »Einen so schönen Platz mit Blick auf die Nordsee habe ich hier nicht vermutet.«
»Genau genommen sind wir noch im Bereich der Wesermündung«, erklärte Claus-Peter Christiansen und deutete zur Seeseite. »Da hinten kannst du Kreuzfahrt- und Frachtschiffe auf dem Weg von und nach Bremerhaven sehen. Bei guter Sicht erkennt man die Container-Brücken vom Jade-Weser-Port Wilhelmshaven.«
»Und den Windpark Nordergründe«, ergänzte Marie und wandte sich an den Kellner. »Ich nehme das Fischerfrühstück.«
»Und ich das Pfeffersteak.« Feddersen klappte die Speisekarte zu.
Nachdem der Kellner sich abgewandt hatte, um ihre Bestellungen zur Küche zu bringen, warf Marie einen Blick in die Runde und beugte sich vor. »Ich kann’s gar nicht abwarten«, raunte sie. »Habt ihr was für uns herausgefunden?«
Die pensionierten Kriminalisten sahen sich an und grinsten. »Eigentlich«, antwortete Röverkamp, »möchten wir erst in Ruhe essen und danach die dienstlichen Angelegenheiten besprechen.«
Marie stöhnte auf. »Oh nein. Das halte ich nicht aus. Wollt ihr uns wirklich so lange zappeln lassen?«
»Würden wir schon gern«, gab ihr ehemaliger Kollege lächelnd zu. »Um euch ein bisschen auf die Folter zu spannen. Aber ihr sollt natürlich das Essen entspannt genießen. Ein paar gute Nachrichten können sicher dazu beitragen.« Er wandte sich an Claus-Peter Christiansen. »Willst du anfangen?«
Der ehemalige Kriminaloberrat nickte und zog einen Schreibblock aus der Tasche. »Wir haben vielleicht ein wenig unsere Kompetenzen überschritten. Aber niemand hat sich beschwert und das Ergebnis kann sich sehen lassen.«
Claus-Peter Christiansen warf einen Blick auf seine Notizen. »Zu den Ereignissen im Juni 2002 haben wir eine interessante Entdeckung gemacht. Damals sind drei Personen verschwunden. Ein junger Mann ist später als Leiche angetrieben worden, zwei andere wurden vermisst. Tatsächlich sind aber beim Start in Cuxhaven vier Menschen an Bord gewesen. Die Reise ging nach Helgoland. Die vierte Person ist dort von Bord gegangen, weil es offenbar Unstimmigkeiten gegeben hat. Mein alter Freund und Kollege Otto Reimers von der Insel Helgoland hat mir Kontakt zu einer Kollegin vermittelt, die damals dort Dienst hatte und sich noch an die Begegnung erinnern kann. Auch an den Vornamen der jungen Frau. Sie hieß Julia.« Er verschränkte die Arme und lehnte sich zurück.
Marie öffnete verblüfft den Mund und schloss ihn wieder.
»Aber nicht Julia Jacobs?«, fragte Jan Feddersen. »Oder?«
»Das müsst ihr schon selbst herausfinden«, warf Konrad Röverkamp ein. »Wir dürfen ja keine Vernehmungen durchführen, schon gar nicht mit Zeugen eines aktuellen Tötungsdelikts. Aber es könnte sich lohnen, mit der Dame zu sprechen. Wenn es eine Verbindung von ihr zu Erik Börnsen gibt …«
»… bekommt ihr Besuch bei Ralf Börnsen eine neue Dimension«, ergänzte Marie. »Und unser Fall womöglich eine Wendung.« Sie hob ihr Glas. »Herzlichen Dank für eure Mühe! Das habt ihr toll gemacht. Eine Kompetenzüberschreitung kann ich dabei übrigens nicht erkennen.« Sie wandte sich an Jan Feddersen. »Wie die Kollegen im Einzelnen an ihre Erkenntnisse gekommen sind, müssen wir nicht wissen, oder?«
Feddersen schüttelte den Kopf. »Würde mich zwar interessieren, aber … nein, nötig ist das nicht.«
Erneut klirrten die Gläser.
»Möchten Sie nach drinnen wechseln?«, fragte der Kellner, der unbemerkt aufgetaucht war. »Die Küche ist gleich so weit.«
Die Runde entschied sich, auf der Terrasse zu bleiben. Wenig später kamen die bestellten Speisen. Marie fiel auf, dass der Mann, der sie bediente, bei der Aufnahme der Bestellung keine Notizen gemacht hatte. Trotzdem servierten er und seine Kollegin jedem das bestellte Gericht, erklärten die Zusammensetzung und wünschten guten Appetit.
»Toller Service«, murmelte Jan. »Findet man selten. Und das Essen sieht fantastisch aus.«
»So schmeckt es auch«, versprach Marie. Konrad Röverkamp nickte bestätigend. »Guten Appetit allerseits!«