Kapitel 13
2019
»Moin, Jan. Ist dir das Essen gestern gut bekommen?«, fragte Marie ihren Kollegen am nächsten Morgen, als er das Büro betrat. Sie hatte bereits die Fenster geöffnet und saß vor ihrem Computermonitor.
»Ausgezeichnet«, erwiderte Jan Feddersen. »Obwohl es ein bisschen üppig war. Mit dem kunstvoll angerichteten Dessert … Aber der Ouzo vom Küchenchef hat es wieder ausgeglichen. Hat mir jedenfalls gut gefallen.« Er hob einen Daumen.
Marie strahlte. »Mir auch. Und ich freue mich, dass ihr euch so gut versteht und jetzt per Du
seid.«
»Die Hinweise deiner ehemaligen Kollegen waren nicht schlecht. Sieht so aus, als
könnten wir zumindest den Fall von 2002 aufklären. Ich bin schon gespannt auf das Gespräch mit Julia Jacobs.«
Marie deutete auf den Bildschirm. »Sie arbeitet in der Helios-Klinik an der Altenwalder Chaussee. Ich habe ihr
Facebook-Profil gefunden. Dort nennt sie sich Schwester Jule, aber auf einem Gruppenfoto war sie zu erkennen.« Sie drehte den Bildschirm, sodass Jan ihn sehen konnte. »Jetzt ist die Frage, ob wir sie an ihrem Arbeitsplatz aufsuchen oder nach
Feierabend befragen wollen.«
Jan betrachtete die Fotogalerie. »In der Schwesterntracht hätte ich sie nicht erkannt. Aber du hast Recht. Scheint ein besonderes Ereignis
gewesen zu sein.«
»Genau«, bestätigte Marie. »Die Geriatrie hat eine neue Chefärztin bekommen und konnte wieder eröffnet werden. Julia Jacobs gehört anscheinend zu den Krankenschwestern der Abteilung.«
»Oder sollen wir sie ganz offiziell vorladen? Schließlich ist sie Zeugin in einer Todesfallermittlung. Wir können sie auch als Täterin nicht ausschließen.«
»Ich weiß nicht.« Marie neigte den Kopf. »Einen Mord traue ich ihr nicht zu. Auf mich wirkt sie sensibel. Sie müsste schon sehr abgebrüht sein, wenn sie Börnsen vom Dach gestoßen hätte und gleichzeitig so unbefangen über ihren Besuch bei ihm reden konnte.«
»Aber sie hat gelogen«, wandte Jan ein. »Bei der Frage nach den Ereignissen von 2002 hat sie behauptet, nichts darüber zu wissen. Nach dem, was wir gestern von Christiansen und Röverkamp gehört haben, ist sie damals die vierte Person auf der Yacht gewesen. Sie hat das
entsprechende Alter und kannte den jungen Börnsen. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn es eine zweite Julia gäbe, die dazu passt.«
»Wahrscheinlich hast du Recht«, gab Marie zu. »Trotzdem würde ich mit ihr behutsam umgehen. Wir wissen noch nicht, was damals passiert
ist. Möglicherweise ist sie durch das Unglück traumatisiert. Wenn wir aus ihr die ganze Wahrheit herausbekommen wollen, haben wir mit Geduld und Feingefühl größere Chancen. Aber es ist deine Entscheidung. Du bist Leiter des
Fachkommissariats.«
»Oh, das vergesse ich manchmal.« Jan grinste. »Gut, dass du mich daran erinnerst.« Er legte zwei Finger an die Stirn und schloss die Augen. »Lass mich nachdenken. Wenn ich mich recht erinnere, hast du mit deinem Bauchgefühl schon öfter richtig gelegen. Also entscheide ich mich jetzt für deinen Weg. Vielleicht ist es sogar von Vorteil, wenn du erst einmal allein
mit ihr sprichst. Ich meine, bevor wir eine offizielle Vernehmung durchführen. Was hältst du davon?«
»Das halte ich für eine sehr gute Idee. Ich werde mich mit ihr an einem neutralen Ort verabreden.
Sie wohnt in der City Marina Cuxhaven, da ist das Restaurant Austernperle ganz in der Nähe. Wenn das Wetter so bleibt, können wir draußen sitzen. So gefällt mir die Ermittlungsarbeit.«
»Schön für dich.« Jan schmunzelte, dann wurde sein Ausdruck ernst. »Diese Wohnungen sind nicht gerade günstig. Von ihrem Gehalt als Krankenschwester dürfte sie sich die kaum leisten können. Die Einrichtung sah auch nicht nach Ikea aus.«
»Vielleicht hat sie geerbt«, wandte Marie ein. »Ich kann ja mal vorsichtig fragen, wie man an so eine Wohnung kommt. Aber selbst
wenn sie’s mir erzählt, bringt uns das kaum in unserem Fall voran.«
»Stimmt«, stellte ihr Kollege fest. »Hauptsache, du bekommst Klarheit über die Ereignisse von 2002. Ob uns das für den Fall Ralf Börnsen weiterhilft, werden wir sehen. Ich hoffe immer noch, dass die
kriminaltechnischen Untersuchungen irgendwas zutage fördern. Kollege Damme hat uns zwar wenig Anlass zum Optimismus gegeben, aber er
und seine Leute sind noch nicht fertig.«
Marie nickte und tastete nach ihrem Smartphone, das in ihrer Hosentasche
vibriert. »Entschuldige bitte«, sagte sie nach einem Blick auf das Display, »das ist Felix. Da muss ich mal eben drangehen.«
»Felix«, begrüßte sie ihn. »Ist was mit Nele?«
»Nein«, antwortete er. »Alles in Ordnung. Aber ich habe eine interessante Information bekommen. Die dürfte euren Fall betreffen.«
Marie warf Jan einen Blick zu und verdrehte die Augen. »So wichtig, dass du mich jetzt anrufen musst?«
»Ich glaube ja. Es geht um das Hotel Alte Liebe. Bei uns ist eine
Pressemitteilung eingegangen. Danach wird der Sohn des verstorbenen Hoteliers
nach Deutschland zurückkehren und die Leitung des Hauses übernehmen. Der Hotelbetrieb wird weitergeführt. Allerdings ist mit konzeptionellen Veränderungen zu rechnen. Der neue Inhaber möchte …«
»Wer soll das sein?«, unterbrach Marie ihn und gab ihrem Kollegen aufgeregt Zeichen. »Haben die Börnsens zwei Söhne?«
»Darüber steht hier nichts«, antwortete Felix. »Aber ein Name. Der künftige Hotelchef heißt Erik Börnsen. Unterzeichnet ist die Mitteilung von …«
»Ich glaub es nicht«, rief Marie. »Erik Börnsen ist wieder da. Also ist er damals nicht ... Danke für die Info, Felix! Steht da auch, wann er kommt?«
»Nein. Jedenfalls kein Datum und keine Uhrzeit. Aber es heißt hier, er wird seine Tätigkeit umgehend aufnehmen. Was immer das bedeuten mag.«
»Steht da sonst noch irgendwas, das für uns relevant sein könnte?«
»Ich weiß nicht, ob es euch interessiert. Zweite Geschäftsführerin wird eine gewisse Joana Santos. Das ist alles.«
»Okay. Noch mal danke, Felix. Gut, dass du angerufen hast. Bis heute Abend.« Marie legte auf und sah ihren Kollegen an. »Das ist ja ’n Ding!«
»Wenn ich’s richtig verstanden habe«, sagte er, »ist Erik Börnsen aufgetaucht. Im doppelten Wortsinn.«
»Na ja, wenn die Information stimmt und es sich tatsächlich um ihn handelt, ist er 2002 nicht untergegangen, sondern untergetaucht.
Und wir können ihn befragen. Auf seine Version bin ich gespannt.«
»Dann sollten wir uns aufteilen«, schlug Jan Feddersen vor. »Du sprichst mit Julia Jacobs und ich unterhalte mich mit Erik Börnsen.«
*
Die Kanzlei Dr. Lindhorst & Partner befand sich im Erdgeschoss einer aufwendig restaurierten Gründerzeitvilla in der Großen Hardewiek. Im Respekt einflößenden Eingangsbereich wurde Julia von einer elegant gekleideten Dame empfangen,
die hinter einem halbrunden Empfangstresen residierte. »Guten Tag. Frau Jacobs?«
Julia nickte und hob den Brief hoch, den sie vom Notar bekommen hatte. »Ich soll hier …«
»Sie werden erwartet. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.« Die Empfangsdame umrundete ihren Tresen. »Hier entlang bitte.« Sie führte Julia zu einer offenen Tür und deutete ins Innere des Raumes. »Bitte nehmen Sie Platz, Herr Doktor Lindhorst ist noch im Gespräch, aber er ist gleich für Sie da.«
Julia sah sich um. Eine Jalousie vor dem Fenster dämpfte die Helligkeit. Die gegenüberliegende Wand bestand aus Schranktüren, an den anderen hingen Gemälde mit Jagdmotiven. Um einen großen Tisch mit polierter Holzplatte, der den Raum beherrschte, standen sechs Stühle. Auf einem ließ Julia sich nieder. Vor jedem Platz gab es eine Mineralwasserflasche, ein Glas
und eine Kaffeetasse. Julias Blick blieb an einem der Gemälde hängen. Es war bestimmt zwei Meter lang und stellte eine Jagdszene mit zahlreichen
rot gekleideten Jägern und weißen, sehr schlanken Hunden dar. Die Kleidung der Männer deutete auf längst vergangene Zeiten hin. Mittelalter, vermutete sie.
»Paolo Uccello«, erklang eine dunkle Männerstimme hinter ihr. »Die Jagd im Wald. Frührenaissance.«
In der Tür stand ein weißhaariger älterer Herr in einem hellgrauen Anzug. Er hielt eine Ledermappe in der Hand.
Seine Miene zeigte die Andeutung eines Lächelns. »Guten Tag, Frau Jacobs. Mein Name ist Lindhorst. Bitte behalten Sie Platz.« Er trat auf sie zu und gab ihr die Hand. »Es geht gleich los. Wir warten noch auf Frau Börnsen. Sie ist schon im Haus und wird jeden Augenblick … Ah, da ist sie schon.«
Hinter Lindhorst erschien die Dame vom Empfang mit einem Rollstuhl, in der eine
Frau mittleren Alters saß. Eine sehr schöne Frau. Sie wandte sich zu ihrer Begleitung um und griff in die Handreifen. »Danke, ich komme allein zurecht.« Zügig rollte sie in den Raum. »Guten Tag allerseits!«, rief sie, musterte Julia interessiert, kam auf sie zu und streckte die Hand
aus. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Christina Börnsen.«
Unsicher erwiderte Julia die Begrüßung. »Jacobs«, murmelte sie und senkte den Blick. »Mein aufrichtiges Beileid.«
»Danke«, erwiderte Christina Börnsen. »Der Verlust trifft Sie wahrscheinlich genauso stark oder genauso wenig wie mich.« Sie wandte sich an den Notar. »Mein lieber Herr Lindhorst, hätten Sie vielleicht einen kühlen Prosecco? Ich würde gern mit der reizenden jungen Dame anstoßen.«
Mit offenem Mund starrte der Notar sie an. Die Empfangsdame rettete die
Situation. »Kommt sofort«, rief sie und eilte davon.
»Hatten Sie eine gute Anreise?«, fragte Lindhorst – nach Julias Eindruck eher aus Verlegenheit als aus Interesse.
»Ich hab mich fahren lassen«, antwortete Christina Börnsen. »Die Bundesstraße dreiundsiebzig ist zwar eine katastrophale Strecke, aber mit diesem Ding«, sie schlug auf die Räder ihres Gefährts, »ist es im Zug zu beschwerlich. Außerdem hat der Wagen eine Klimaanlage, die ich selbst regeln kann.«
Lindhorst nickte und setzte sich an den Tisch. »Ja, also kommen wir zur Sache.« Er schlug seine Mappe auf. »Ich habe Sie zu mir gebeten«, begann er, »weil der verstorbene Ralf Börnsen in unserem Notariat ein Testament hinterlegt und dazu eine Erklärung abgegeben hat, welche Personen darin als Begünstigte genannt werden. Das sind die hier anwesenden Christina Maria Börnsen sowie Leonie Jacobs.« Der Notar sah auf und warf jeder der Frauen einen Blick zu. Dann fuhr er fort. »Der Erblasser hat zudem verfügt, dass die Testamentseröffnung in Ihrer beider Gegenwart erfolgen soll.«
»Und was ist mit meinem Sohn?«, warf Christina Börnsen ein.
Sichtlich irritiert sah Lindhorst auf. »Ihr Sohn? Wie darf ich die Frage verstehen, verehrte Frau Börnsen? Ihr Sohn ist doch …«
»Ist er nicht«, unterbrach Christina Börnsen ihn. »Erik war im Ausland und ist aus Anlass des Todes von Ralf nach Cuxhaven zurückgekehrt.«
Lindhorst öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Für einige Sekunden herrschte Stille. Sie wurde erst durch die Angestellte
unterbrochen, die die Tür öffnete und mit einem Tablett erschien. Darauf standen eine Flasche Prosecco und drei Gläser.
Nachdem sie das Getränk abgestellt und den Raum verlassen hatte, deutete Christina Börnsen auf das Tablett. »Möchten Sie uns nicht einschenken, lieber Herr Lindhorst?«
»Selbstverständlich«, murmelte der Notar und füllte die Gläser. Seine Hand zitterte kaum merklich. »Ja, also … das ist jetzt eine unerwartete Neuigkeit für mich. Wir können Ihren Sohn, wenn Sie beide einverstanden sind, hinzuziehen. Allerdings ändert das nichts am Letzten Willen Ihres verstorbenen Gatten, Frau Börnsen. Wenn Ihr gemeinsamer Sohn noch lebt, wird das Nachlassgericht eine Lösung finden müssen, bei der seine Ansprüche aus dem gesetzlichen Pflichtteil des Erbes berücksichtigt werden. Grundsätzlich bleibt aber der Wille des Erblassers maßgebend. Ich schlage vor, dass wir uns zunächst damit befassen.«
»Einverstanden«, erklärte Christina Börnsen und griff nach einem der Gläser. »Wenn Ralf nur Frau Jacobs und mich als Erben eingesetzt hat, muss für Erik eine andere Lösung gefunden werden. Also brauchen wir ihn jetzt nicht.«
»Freut mich«, sagte der Notar, »dass Sie das so sehen. Allerdings muss ich Sie korrigieren, liebe Frau Börnsen. Frau Jacobs ist nicht die Begünstigte. Sie ist hier in ihrer Funktion als Testamentsvollstreckerin für ihre Tochter Leonie.«
Jetzt war es Christina Börnsen, die vor Überraschung kein Wort herausbrachte. Sie sah Julia mit großen Augen an. Schließlich hob sie ihr Glas. »Auf den Schreck. Offenbar hat mein Mann noch ziemlich spät eine Tochter bekommen. Wie alt ist Leonie?«
»Sieben«, antwortete Julia.
»Also 2011 gezeugt. In dem Jahr nach meinem Unfall.« Christina Börnsen seufzte. »Ich habe geahnt, dass da was war.«
»Es tut mir leid«, sagte Julia. »Ich wusste damals nicht …«
»Machen Sie sich keine Gedanken!« Christina Börnsen winkte ab. »Unsere Beziehung war längst keine mehr. Mein Mann und ich … Jeder hat sein eigenes Leben gelebt. Ich bin nur überrascht, dass ich davon nichts wusste. Aber vielleicht wollte ich auch nichts
wissen.« Sie leerte ihr Glas und wandte sich an Lindhorst. »Können wir jetzt zum Inhalt des Testaments kommen?«
Während der Notar mit monotoner Stimme einleitende juristische Erläuterungen abgab, wanderten Julias Gedanken in die Vergangenheit.
2011
Es war an einem Montag im Mai, als sie Ralf das erste Mal begegnete. Im
Krankenhaus. Ein Mann in den besten Jahren, hätte ihre Mutter gesagt. Gut aussehend. George-Clooney-Typ. Mit dunklem Teint,
vollem Haar und grauen Schläfen. Dynamisches Auftreten, jugendliche Ausstrahlung. Aber zu alt, um Julias
Interesse zu wecken. Sie schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Er kam mit einem üppigen Blumengebinde in der Hand den Flur entlang. Als er sie erreichte, blieb
er stehen und streckte ihr den Strauß entgegen. »Für Sie, Schwester …« Sein Blick glitt zu ihrem Namensschild. »Schwester Julia.«
Irritiert schüttelte sie den Kopf, suchte in seiner Miene nach einer Erklärung, fand ein paar dunkle Augen von unergründlicher Tiefe, deren warmes Lächeln ein seltsames Gefühl in ihr auslösten.
»Bitte nehmen Sie sie an!« Seine Stimme war dunkel und ein wenig rau. »Meine … Cousine möchte keine Blumen. Und es wäre doch schade drum.« Er hob den Strauß ein wenig an. »Santini, Bartnelken, Germini, Rosen und Limonium. Wunderschöne Sommerblüten. Passen zu Ihnen.«
»Aber Sie können sie doch mitnehmen«, wandte Julia ein, »und zu Hause in eine Vase …«
»Zu spät«, unterbrach er sie. »Daran habe ich gedacht. Aber nachdem ich Sie gesehen habe, möchte ich, dass Sie die Blumen in eine Vase stellen. Bei sich zu Hause. Oder mögen Sie keine Schnittblumen?«
»Doch, aber die waren bestimmt teuer. Die können Sie doch nicht einfach an irgendjemanden verschenken.«
»Das habe ich auch nicht vor.« Er lächelte und nickte ihr aufmunternd zu. »Nicht an irgendjemanden, sondern an Sie, Schwester Julia.« Er streckte die Hand aus. »Mein Name ist Ralf.«
»Jacobs«, sagte Julia und kam sich dabei vor wie ein dummer Teenager. Zu allem Überfluss spürte sie, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Gleichzeitig umwehte sie der
Duft der Sommerblumen, überdeckte den Geruch des Krankenhauses und löste einen Anflug unbestimmter Sehnsucht aus. Von Patienten durfte sie keine
Geschenke von Wert annehmen. Aber dieser Mann war kein Patient. Unwillkürlich bewegte sie ihre Hände in Richtung Strauß.
Ein Leuchten ging über sein Gesicht. »Sie machen mir eine große Freude.« Er drückte ihr die Blumen in die Hand. »Danke, Schwester Julia.«
»Ich habe zu danken«, antwortete sie und sog den Duft des Sommers ein. »Einen so schönen Strauß habe ich lange nicht bekommen. Und ich weiß nicht einmal, wofür.«
»Für das, was Sie hier leisten, müssten Sie öfter Blumen bekommen«, entgegnete er und wandte sich zum Gehen. »Auf Wiedersehen, Schwester Julia. Die Begegnung mit Ihnen hat mir den Tag
erhellt.« Er wandte sich um und eilte den Flur entlang. Julia sah ihm nach. Bevor er
durch die Tür zum Treppenhaus entschwand, drehte er sich noch einmal um und winkte ihr zu.
Unwillkürlich hob Julia eine Hand, ließ sie aber rasch wieder sinken. Zwiespältige Empfindungen machten sich in ihr breit.
Der Mann war mindestens zwanzig Jahre älter als sie. Dennoch hatte er Regungen in ihr ausgelöst, die sie lange nicht gespürt hatte. Männer seines Alters hatte sie bisher nie als Mann wahrgenommen. Typen, die
deutlich jünger waren als sie, allerdings auch nicht. In ihrer Altersgruppe waren fast alle
verheiratet oder in festen Beziehungen, und die wenigen, auf die das nicht
zutraf, erwiesen sich früher oder später als Vollpfosten. »Du bist zu kritisch«, behauptete ihre Mutter, wenn mal wieder der Versuch einer Beziehung
gescheitert war. Dabei hatte sie selbst keine dauerhafte Partnerschaft mehr
gefunden, nachdem Julias Vater kurz nach ihrer Geburt tödlich verunglückt war. Wer als Mädchen vaterlos aufwächst, hatte sie einmal gelesen, könne einen Vaterkomplex entwickeln und sich zu älteren Männern hingezogen fühlen. War es das, was ihre Gefühlsverwirrung ausgelöst hatte? Tief in ihrem Inneren spürte sie den Wunsch, Ralf wiederzusehen. Gleichzeitig sträubte sich etwas in ihr gegen den Gedanken, sich mit einem wesentlich älteren Mann einzulassen.
»Wer soll denn diesen tollen Strauß bekommen?« Die Stimme einer Kollegin riss sie aus ihren Gedanken. »Oder hast du endlich einen Verehrer? Hoffentlich kein Patient. Das gibt meistens
Ärger.«
Julia schüttelte den Kopf. »Ein Besucher«, erklärte sie, »der seinen Strauß nicht losgeworden ist.« Sie setzte sich in Bewegung. »Ich hole eine Vase und stelle ihn ins Stationszimmer.«
Während der folgenden Tage versuchte Julia, die Begegnung zu vergessen. Doch der
Blumenstrauß hielt die Erinnerung wach. Auch wenn sie zu Hause war und sich in eins ihrer Bücher vertiefte, erschien das Gesicht des Mannes vor ihrem inneren Auge.
Am darauffolgenden Montag wurde sein Anblick Realität. Diesmal traf er sie nicht auf dem Flur der Station, sondern erwartete sie am
Ausgang des Krankenhauses. Und er hatte keine Sommerblumen dabei, sondern einen
Strauß dunkelroter Rosen. »Frau Jacobs!«, rief er und eilte auf sie zu. »Darf ich Sie kurz aufhalten?«
Wieder wurde Julia von zwiespältigen Gefühlen heimgesucht. Der Auftritt eines Mannes mit roten Rosen erschien ihr einem
alten Film oder einem Theaterstück entsprungen zu sein. Auch in ihren Büchern kamen solche Szenen vor. Doch sie verband damit Menschen einer
Gesellschaftsschicht, die mit ihrer Lebenswirklichkeit nichts zu tun hatten.
Andererseits brachte dieser Ralf mit seiner charmanten Ausstrahlung und mit
seinem formvollendeten Auftreten den Anflug eines zwar ungewohnten aber nicht
unangenehmen Flairs gehobener Lebensart mit. Das erschien ihr unwirklich und
anziehend zugleich.
Er ergriff ihre Hand und verbeugte sich. »Ich musste Sie wiedersehen. Ihr Bild ging mir nicht mehr aus dem Kopf.« Er hielt ihr den Rosenstrauß hin und strahlte wie ein Schuljunge. »Darf ich Sie ein Stück begleiten?«
»Ich bin mit dem Fahrrad hier.« Julia nahm den Strauß entgegen und lachte. »Wollen Sie auf dem Gepäckträger mitfahren?«
»Selbstverständlich.« Ralf strahlte wieder. »Mit Ihnen würde ich jedes Transportmittel akzeptieren. Aber vielleicht darf ich Ihnen einen
Vorschlag machen.« Er deutete in Richtung Parkplatz. »Wir laden Ihr Rad in mein Auto und fahren motorisiert. Für die Blumen ist das sicher die bessere Lösung.«
Wenig später waren Julias Rucksack und das Fahrrad in Ralfs Mercedes T-Modell verstaut.
Sie nahm auf dem Beifahrersitz Platz und erklärte den Weg. »Wir müssen nach Altenwalde. Meine Wohnung ist in der Hauptstraße.«
Während der Wagen die Altenwalder Chaussee entlangrollte, fragte Ralf nach
Einzelheiten ihres Arbeitsalltags. Julia gab bereitwillig Auskunft, denn sie spürte echtes Interesse. Gleichzeitig fragte sie sich, ob sie sich mit einer
Einladung zum Kaffee bedanken sollte. Vordergründig sprach dagegen, dass ihre Einzimmerwohnung, die sie nach dem Ende ihrer
Ausbildung bezogen hatte, nicht unbedingt vorzeigbar war. Noch mehr die Befürchtung, Ralf könnte das Angebot missverstehen. Andererseits mochte sie ihn auch nicht einfach
wegschicken. Er war unterhaltsam, klug und witzig, brachte sie zum Lachen,
interessierte sich ernsthaft für sie. Nicht zuletzt fühlte sie sich auf eine eigentümliche Art zu ihm hingezogen und wünschte sich, mehr über ihn zu erfahren.
Zu Julias Überraschung machte er keinerlei Anstalten, das Zusammentreffen auszudehnen.
Nachdem er ihr Fahrrad ausgeladen, ihr den Rucksack und die Blumen überreicht hatte, breitete er die Arme aus. »Mehr kann ich wohl nicht für Sie tun? Es war mir jedenfalls ein Vergnügen, und ich würde mich freuen, wenn ich Sie wiedersehen dürfte.«
Das gab den Ausschlag. Julia hielt Rucksack und Blumenstrauß hoch. »Könnten Sie vielleicht noch mein Fahrrad reinbringen? Ich hätte auch was zu trinken im Kühlschrank oder könnte uns einen Cappuccino machen.«
Es wurde ein langer Abend, in dessen Verlauf zwischen Ralf und ihr eine seltsame
Vertrautheit entstand. Noch waren sie nicht zum »Du« übergegangen, noch hatte es keine Zärtlichkeiten gegeben, noch hielt Julia »Ralf« für seinen Familiennamen.
In den folgenden Wochen sahen sie sich immer öfter. Wie in einem Sog stürzte Julia von Tag zu Tag tiefer in die leidenschaftliche Affäre. Als sie erfuhr, dass er mit Nachnamen Börnsen hieß und Erik sein Sohn gewesen war, konnte das schon nichts mehr ändern. Ralf war ein behutsamer, zärtlicher und rücksichtsvoller Liebhaber, überschüttete sie mit Zuneigung und entführte sie in die Welt der schönen Dinge.
2019
»Haben Sie das verstanden, Frau Jacobs?« Die Stimme des Notars rief sie in die Gegenwart zurück.
»Ja. Nein. Ich weiß nicht. Können Sie vielleicht noch einmal …«
»Ihre Tochter Leonie erbt das Hotel Alte Liebe. Bis zur Vollendung ihres
achtzehnten Lebensjahrs wird ein geschäftsführender Direktor eingesetzt, der das Haus weiterführt. Herr Börnsen hatte sich vorbehalten, einen oder mehrere Kandidaten für diese Aufgabe zu benennen. Das ist infolge seines vorzeitigen Ablebens nicht
erfolgt. Für diesen Fall hat der Erblasser mir die Aufgabe übertragen, im Benehmen mit Ihnen, Frau Jacobs, einen geeigneten Geschäftsführer einzusetzen.« Lindhorst sah Julia fragend an. »Ist Ihnen jetzt klar, was Herr Börnsen verfügt hat?«
Julia nickte, obwohl sie nicht sicher war, ob sie die Bedeutung der Aussage
wirklich erfasst hatte. »Und Frau Börnsen?«
»Machen Sie sich um mich keine Gedanken«, meldete sich Christina Börnsen zu Wort. »Ich bin finanziell unabhängig. Trotzdem hat mein Mann mir freundlicherweise die Villa in Duhnen und das
Geschäftshaus in der Nordersteinstraße hinterlassen. Falls ich mich entschließe, nach Cuxhaven zurückzukehren.«
»Mit der Einschränkung«, warf der Notar ein, »dass Sie das Wohnhaus erst in Besitz nehmen können, wenn Herr Berend Börnsen das Zeitliche gesegnet hat.«
»Natürlich«, bestätigte Christina Börnsen. »Mein Schwiegervater hat dort lebenslanges Wohnrecht. Das war seinerzeit seine
Bedingung, als er seinem Sohn Haus und Hotel überschrieben hat. Ich habe ohnehin keine Eile. Mir geht es gut in Hamburg.«
»Und was ist mit Erik?«, fragte Julia. »Er hat doch bestimmt damit gerechnet, das Hotel zu erben. Wenn er jetzt leer
ausgeht oder nur einen Pflichtteil bekommt …«
Christina Börnsen ließ ein leises Lachen hören. »Meinen Sohn konnte ich mir früher beim besten Willen nicht in der Hotelbranche vorstellen. Er hat zwar
bedenkenlos von unserem Geld profitiert, aber das Gewerbe abgelehnt. Das hat
sich offenbar grundlegend geändert. Also wird er warten müssen, bis seine Halbschwester achtzehn ist und sich mit ihr einigen. So einfach
ist das. Bis dahin muss er aber nicht am Hungertuch nagen. Wenn mein Mann mit
der Möglichkeit gerechnet hätte, dass er noch lebt, wäre das Haus in der Stadt wahrscheinlich für ihn bestimmt gewesen. Ich werde es ihm überschreiben. Damit hat er mehr als genug zu tun und ein mehr als ausreichendes
Einkommen.«