Kapitel 14
Zu Hause öffnete Julia eine Flasche, die sie zu ihrem letzten Geburtstag bekommen hatte, und schenkte sich ein Glas ein. Grappa. Es schüttelte sie, während die scharfe Flüssigkeit durch ihre Kehle rann. Sie kniff die Augen zusammen und nahm einen weiteren Schluck. Der Alkohol, hoffte sie, würde Magen und Nerven beruhigen. Seit sie die Kanzlei von Dr. Lindhorst verlassen hatte, rumorte es in ihren Eingeweiden. Bis zur Testamentseröffnung hatte sie gehofft, Ralf Börnsens Erbschaft irgendwie zu entkommen, und mögliche Folgen verdrängt. Die Ausführungen des Notars und die Begegnung mit der Witwe hatten ihre Illusion zerstört. Ihre Tochter Leonie sollte an ihrem achtzehnten Geburtstag Hotelbesitzerin werden. Jeder andere würde sich darüber freuen, Julia dagegen empfand die Aussicht als Belastung. Von einem Tag auf den anderen würde das Mädchen zur Millionärin werden. Das konnte nicht gutgehen. Noch schwerwiegender erschien ihr die Bedrohung, die von Erik Börnsen ausging. Er war nach Cuxhaven zurückgekehrt, um den Betrieb seines Vaters zu übernehmen. Mit dieser Möglichkeit hatte Ralf bei der Abfassung seines Testaments nicht gerechnet. Für Julia stand fest, dass Erik sich damit nicht zufriedengeben würde. Er würde alles daransetzen, das Hotel in die Hand zu bekommen. Daran konnten weder sie noch die Großzügigkeit seiner Mutter etwas ändern.
Sie zuckte zusammen, als es an der Tür klingelte. Rasch räumte sie die Flasche weg, spülte das Glas aus und stellte es in die Spüle. Der Blick aus dem Fenster verriet ihr nicht, wer etwas von ihr wollte. Auf der Straße stand lediglich ein Motorroller. Sie drückte den Türöffner und wartete hinter der Wohnungstür auf den Besucher. Kurz darauf erschien im Blickfeld des Spions ein bekanntes Gesicht. Die Kriminalbeamtin. Oberkommissarin Janssen. Diesmal allein. Was konnte sie noch wollen? Julia öffnete nach kurzem Zögern.
»Moin, Frau Jacobs.« Die Polizistin lächelte. »Entschuldigen Sie die Störung. Es haben sich noch Fragen ergeben. Darf ich kurz reinkommen?«
»Bitte.« Julia trat zur Seite. »Sie wissen ja, wo …«
»Bevor ich Ihnen sage, worum es geht,« begann die Kommissarin, nachdem sie sich gesetzt hatte, »möchte ich etwas klarstellen. Dies ist keine Vernehmung, sondern ein Informationsgespräch. Wir werden Sie allerdings noch in unsere Dienststelle bitten und ein Protokoll aufnehmen müssen. Bis dahin können Sie sich überlegen, wie Sie sich entscheiden.«
»Entscheiden?«, echote Julia. »Was soll ich denn …?«
»Ob Sie uns die Wahrheit sagen wollen. Oder ob Sie weiter lügen und uns zwingen wollen, Ihnen Ihre Falschaussagen nachzuweisen.«
»Lügen? Falschaussagen? Was meinen Sie?«
»Wir haben herausgefunden, dass Sie im Jahr 2002 in Begleitung von Erik Börnsen, Katharina Blessing und Benjamin Wedemeyer mit einer Segelyacht auf Helgoland waren. Sie haben uns gegenüber behauptet, darüber nicht mehr zu wissen, als seinerzeit in der Zeitung stand.«
Julia hielt die Hand vor den Mund. Erschreckt starrte sie die Besucherin an. Ihr Puls beschleunigte sich und das Blut schoss ihr in die Wangen. »Ich dachte«, murmelte sie, »das spielt keine Rolle. Es ging doch um den Tod von Ralf, ich meine, von Herrn Börnsen. Was hat denn die Sache von damals damit zu tun?«
»Zweierlei«, antwortete die Kommissarin. »Erstens könnte man aus Ihrem Verhalten schließen, dass Sie es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Zweitens steht jetzt fest, dass Sie mit Erik Börnsen näher bekannt waren, sonst hätte er Sie nicht mit nach Helgoland genommen. Also gibt es eine Verbindungslinie zwischen Ihnen und seiner Familie. Das lässt Ihren Besuch bei Ralf Börnsen an dessen Todestag in einem neuen Licht erscheinen. Im Übrigen …«
»Nein!« Julia schrie fast. »Mit seinem Tod habe ich nichts zu tun. Er lag schon unten, als ich …« Erneut presste sie eine Hand auf die Lippen. Tränen schossen ihr in die Augen. Ihr war, als rollte ein riesiger Felsbrocken auf sie zu. Was würde die Polizistin noch herausfinden? Wenn sie ihre Beziehung zu Ralf aufdeckte und von seinem Vermächtnis für Leonie erfuhr …
»Sie waren also am Tattag in der Wohnung«, stellte die Kommissarin fest. »Das haben Sie bisher bestritten. Noch eine Falschaussage, Frau Jacobs. Langsam wird es eng für Sie.«
Der steinerne Klotz kam näher, warf seinen Schatten über sie, drohte sie zu erdrücken. Julia atmete heftig, ihr Herz raste, und in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Fieberhaft suchte sie nach einem Ausweg, wollte den bedrohlichen Bildern ausweichen, die auf sie einstürzten. Polizisten, die sie verhafteten; ein Richter, der sie verurteilte; eine Gefängniswärterin, die sie einschloss. Leonie, die nach ihrer Mutter rief. Die Szene mit ihrer verzweifelt weinenden Tochter ließ den Widerstand zusammenbrechen. Der Fels überrollte Julia und riss ihr Innerstes auf. Von Weinkrämpfen geschüttelt begann sie zu reden, berichtete vom Segeltörn nach Helgoland, von ihrer späteren Beziehung zu Ralf Börnsen, dessen Vaterschaft und von seinem Erbe für Leonie. Nur die Begegnungen mit Erik erwähnte sie nicht – aus Angst, er könnte ihr oder ihrem Kind etwas antun.

*
»Moin zusammen«, begrüßte Erik die Mitarbeiter. Mit Hilfe der Direktionsassistentin hatte er die Angestellten des Hotels Alte Liebe in einem der Veranstaltungsräume zusammenrufen lassen. »Mein Name ist Börnsen. Erik Börnsen. Nach dem unerwarteten Ableben meines Vaters werde ich die Leitung des Hauses übernehmen.« Er machte eine Pause und wartete, bis sich die Unruhe unter den Zuhörern gelegt hatte. »Hier wird sich in Zukunft einiges ändern«, fuhr er fort. »Wir brauchen ein modernes Konzept, um unsere Position in der Region zu halten, und müssen vor allem auf Rentabilität achten.« Joana stieß ihn unauffällig an und raunte ihm etwas zu. Unwillig schüttelte er den Kopf, doch dann überlegte er es sich anders. Sie hatte Recht, man musste dem Personal die Angst vor Veränderungen nehmen. »Für Sie ändert sich natürlich nichts. Jeder behält seinen Arbeitsplatz, die Gehälter bleiben, wie sie sind. Wenn Sie Fragen haben, ein Problem erkennen oder Vorschläge machen wollen, wenden Sie sich vertrauensvoll an Frau Santos. Selbstverständlich stehe auch ich Ihnen zur Verfügung – nur nicht jeden Tag und zu jeder Zeit. Dafür haben Sie sicher Verständnis.« Er ließ seinen Blick über die versammelten Mitarbeiter wandern. »Als Erstes werden wir die Berufskleidung ändern. Ich sehe zu viel Schwarz und zu viel Grau. Wir brauchen mehr Farbe.«
Unter den Angestellten entstand erneut leichte Unruhe. Schließlich hob eine junge Frau den Arm. Erik sah Joana an. Sie nickte unmerklich. »Ja bitte!«, rief Erik und deutete in Richtung der Mitarbeiterin.
»Mein Name ist Jennifer Dehne. Ich bin Restaurantfachfrau und arbeite im Service. Wir haben im vorigen Jahr erst neue Kleidung bekommen. Damit sind wir sehr zufrieden, denn Herr …, also Ihr Vater, hat uns bei der Auswahl mitbestimmen lassen.« Der Beitrag löste zustimmendes Gemurmel aus.
Erik hob beide Hände. »Seien Sie versichert, dass Sie auch in Zukunft um Ihre Meinung gebeten werden. Aber bei unternehmerischen Entscheidungen hat nun mal der Inhaber das letzte Wort. Hier und heute werde ich Details nicht mit Ihnen diskutieren. Sie sollten heute nur Ihren neuen Chef kennenlernen. Jetzt können Sie an Ihren Arbeitsplatz zurückkehren.«
Erst zögernd, dann zunehmend zügig verließen die Angestellten den Raum. Gegen den Strom drängte sich ein Mann durch die Tür und kam auf Erik und Joana zu. »Moin. Herr Börnsen?« Er griff in die Tasche und zog ein grünes Papier hervor, das nach einem Ausweis aussah. »Kriminalhauptkommissar Jan Feddersen, Polizeiinspektion Cuxhaven.« Er hielt Erik das Dokument vor die Nase. »Ich würde gern mit Ihnen sprechen.«
Börnsen empfand unwillkürlich Widerwillen gegen den Mann, dessen Lächeln ihm wie höhnisches Grinsen erschien. Begegnungen mit Polizisten hatten in den zurückliegenden Jahren keine guten Erinnerungen hinterlassen. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf Joana. »Frau Santos kann Ihnen einen Termin geben. Ich muss mich um das Hotel kümmern.«
»So geht’s leider nicht«, erklärte der Polizist. »Wir werden uns jetzt unterhalten. Anderenfalls müsste ich Sie bitten, mir zur Dienststelle zu folgen. Im Fall einer Weigerung bekämen Sie Begleitung durch uniformierte Kollegen.«
Börnsen bezwang einen drohenden Wutanfall, nickte Joana zu und deutete zur Tür. »Wir gehen in mein Büro.«
»Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs?«, fragte er mit deutlicher Ironie in der Stimme, als er hinter dem Schreibtisch seines Vaters Platz genommen hatte. Dem Polizisten bot er keinen Platz an, doch der ließ sich ungerührt in einem der Besuchersessel nieder. »Es geht um den unaufgeklärten Fall einer vermissten Frau und den Tod eines Mannes aus dem Jahr 2002. Sie wissen, wovon ich spreche. Damals wurde angenommen, die Yacht, mit der Sie gemeinsam unterwegs waren, wäre auf der Nordsee gekentert und gesunken. Nachdem Sie wieder in Cuxhaven aufgetaucht sind, stellt sich die Frage, was seinerzeit geschehen ist, insbesondere, was aus der vermissten Katharina Blessing geworden ist. Auch der Fall Benjamin Wedemeyer muss neu aufgerollt werden, denn offensichtlich hat es keinen Bootsunfall gegeben.«
Die Worte des Polizisten trafen Erik Börnsen nicht unvorbereitet. Zwar hatte er gehofft, das Verschwinden der Seeteufel sei längst in Vergessenheit geraten, aber mit Fragen dieser Art hatte er rechnen müssen. »Doch«, widersprach er kühl. »Es hat einen Unfall gegeben, wenn auch keine Havarie. Benny – Benjamin Wedemeyer – war unaufmerksam und hat bei einer Wende den Baum an den Kopf bekommen. Der Schlag hat ihn über Bord geworfen. Wir haben nach ihm gesucht, ihn aber nicht gefunden. Ein bedauerlicher Unfall, aber strafrechtlich nicht relevant. Wenn es in meinem Verhalten Rechtsverstöße gegeben haben sollte, wären sie verjährt. Was Kathi betrifft …« Er unterbrach sich und seufzte. »Da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Wir wollten gemeinsam ein neues Leben anfangen. Ohne unsere Väter, unter denen jeder von uns auf seine Weise gelitten hat. In Portugal haben wir unseren Traum verwirklicht. Leider ist sie dort verstorben. Verkehrsunfall.«

2002
Aus der angekündigten Stunde wurden zwei, ohne dass Erik zurückgekehrt wäre. Je länger Katharina wartete, desto nervöser wurde sie. Voller Unruhe tigerte sie unter Deck auf und ab. Obwohl er ihr eingeschärft hatte, sich nicht zu zeigen, riskierte sie hin und wieder einen Blick nach draußen. Erik hatte das Schott am Niedergang nicht verschlossen, sodass sie die Stufen zum Deck hinaufsteigen konnte. Wenn sie sich umsah, fragte sie sich, warum er etwas dagegen hatte, dass sie sich draußen aufhielt. Auf dem Kai und den benachbarten Booten waren nur wenige Menschen zu sehen. Die waren beschäftigt. Niemand achtete auf sie, niemand hätte von ihr Notiz genommen, wenn sie das Boot verlassen hätte.
Nach einer weiteren halben Stunde wurde der Drang, sich Eriks Einfluss zu entziehen und auf eigene Faust den Rückweg nach Deutschland anzutreten, fast übermächtig. Doch dann wurde ihr klar, wie gering ihre Erfolgschancen waren. Sie sprach kein Wort holländisch, hatte kein Geld und keinen Ausweis. Außerdem befand sie sich auf einer Insel. Wie sollte sie eine Mitfahrgelegenheit finden? Höchstens auf einem deutschen Boot. Sie müsste die Stege abklappern und fremde Menschen um Hilfe bitten. Damit würde sie Aufsehen erregen, vielleicht sogar von der Polizei aufgegriffen werden. Erik würde sie beschuldigen, Benny getötet zu haben. Wie sollte sie ihre Unschuld beweisen? Die Ausweglosigkeit ihrer Situation ließ sie in Tränen ausbrechen. Zum Gefühl der Ohnmacht gesellte sich Hunger. Gestern hatte sie nichts gegessen, heute war sie seit drei Stunden auf den Beinen, ohne etwas zu sich nehmen zu können. Erik hatte von Frühstück gesprochen. Aber wo blieb er? Sie wusch sich das verheulte Gesicht und erklomm erneut die Stufen des Niedergangs. Er war nirgends zu sehen. Enttäuscht und erschöpft ließ sie sich auf die Decksplanken sinken.
»Du solltest doch unten bleiben«, knurrte Erik, als er wenig später über die Reling sprang. Er trug eine gefüllte Plastiktüte und zwei große Becher aus Pappe in den Händen. Mit einer Kopfbewegung deutete er zum Niedergang. »Los!« Katharina warf einen Blick auf die Uhr und sah ihn an. »Eine Stunde!«, zischte sie. »Jetzt sind es fast drei.«
»Ging nicht schneller.« Erik zuckte mit den Schultern. »Aber dafür habe ich schon ziemlich viel Kohle zusammen.« Er grinste. »Mit Kreditkarten kriegt man nur tausend Euro pro Tag. Aber so schnell schalten die wohl nicht. Ich habe bei verschiedenen Banken schon sechstausend Tacken zusammengekriegt. Morgen geht’s weiter. Erst noch mal Kohle einsammeln, dann segeln wir nach Amsterdam.«
Katharina schöpfte Hoffnung. »Amsterdam? Was willst du da?«
Erik wedelte mit der Einkaufstüte und stellte die Becher ab. Sie trugen die Aufschrift Koffie. »Jetzt lass uns reingehen und erst mal frühstücken! Und dann machen wir Pläne. Ich habe ein paar gute Ideen. Könnten dir gefallen.«
Der Kaffee war nicht mehr richtig heiß, aber die Grilled-Chicken-Burger, Cheeseburger und Big Macs, die Erik mitgebracht hatte, schmeckten so gut wie lange nicht. Mit Heißhunger verschlang Katharina ihren Anteil, ließ keinen Krümel zurück und lehnte sich schließlich mit einem Seufzer zurück. Während des Frühstücks hatte sie geschwiegen. Jetzt, nachdem sich das angenehme Gefühl träger Sattheit in ihr ausbreitete, fühlte sie sich stark genug, um ihre Forderung zu wiederholen. »Egal, was du sagst – ich gehe nach Hause zurück.« Sie streckte die Hand aus. »Mein Portemonnaie!«
Erik schüttelte den Kopf. »Du bleibst bei mir, bis wir angekommen sind. Wenn du dann immer noch nicht zur Vernunft gekommen bist, kannst du meinetwegen abhauen.«
»Angekommen? Was soll denn das heißen? Ich will nirgends ankommen. Außer in Cuxhaven.«
»Ja«, ätzte Erik. »Da warten sie schon auf dich. Dein dich liebender Vater und die Polizei. Du hast die Wahl zwischen Pest und Cholera. Entweder darfst du zu Hause deinen Arsch hinhalten oder im Knast in der Zelle schmoren. Kannst dir schon mal überlegen, was dir lieber ist.«
Eine Welle heißer Wut durchströmte Katharina. Sie sprang auf und schlug mit beiden Fäusten auf Erik ein. »Gib mir mein Geld und meinen Perso zurück!«
Höhnisch grinsend wehrte Erik ihre Angriffe ab, packte eins ihrer Handgelenke und drehte ihren Arm auf den Rücken, sodass sie vornüberkippte und mit den Knien auf dem Boden aufschlug. Plötzlich hatte er ein Seil in der Hand, band ihre Gelenke zusammen, zerrte sie hoch und stieß sie auf eine der Sitzbänke. Der Schmerz ließ sie aufstöhnen, aber die aufsteigenden Tränen drängte sie erfolgreich zurück, spuckte Erik ins Gesicht. »Ich hätte es wissen müssen«, zischte sie. »Du bist ein Arschloch.«
Gleichmütig wischte Erik sich das Gesicht ab und zuckte mit den Schultern. »Wer nicht hören will, muss fühlen. Kennst du doch von deinem Alten. Du bleibst jedenfalls an Bord, bis wir in Amsterdam sind. Hier kommst du eh nicht weg. Da kannst du dich meinetwegen an die Straße stellen. Gibt genug Typen, die auf dein Aussehen abfahren. Mit viel Glück erwischst du einen Trucker, der dir nichts antut. Wahrscheinlich ist das aber nicht. Du kannst auch mit mir weiterreisen. Ich nehme dir deine Ausraster nicht übel. Und wenn du dich ein bisschen beruhigt hast, erkläre ich dir, welches Leben uns in dem Fall erwartet.«
Katharina kämpfte mit sich. Wenn Basti nicht wäre, würde sie Erik vielleicht folgen. Aber die Vorstellung, ihren kleinen Bruder nicht beschützen zu können, machte ihr Angst. Zwischen dem strengen und gewalttätigen Vater auf der einen und der endlos verwöhnenden Mutter auf der anderen Seite gab es keinen Halt, keine Orientierung für den pubertierenden Jungen. Ohne seine große Schwester war er verloren. Andererseits war abzusehen, dass er sich früher oder später von ihr nicht mehr viel sagen lassen würde. Ob sie ihm dann noch würde helfen können? Aber worin bestand die Alternative? Welche Ideen hatte Erik, von denen er meinte, sie könnten ihr zusagen? Vielleicht sollte sie sich anhören, was in seinem Kopf vorging. Sie hätte es ihm gegenüber niemals zugegeben, aber sie musste sich eingestehen, dass sie neugierig war.
»Also gut«, murmelte sie schließlich. »Was sind das für Pläne, von denen du glaubst, sie würden mir gefallen? Ich kann mir das nicht vorstellen. In Amsterdam mache ich auf jeden Fall die Fliege. Aber du kannst ja mal erzählen, was du vorhast.«
Grinsend ließ Erik sich ihr gegenüber nieder. »Ein Leben unter der Sonne. Wärme, Sand und Sangria. Musik und Meeresrauschen. Am Strand, in der Bar, am Swimmingpool – wo du willst. Jeden Tag ein Event, jeden Abend Party, jede Nacht ’ne heiße Nummer. Wie im Paradies.«
Katharina schüttelte den Kopf. »Wie soll das gehen? Wovon sollen wir existieren? Wer bezahlt das alles?«
»Die Touristen«, antwortete Erik großspurig. »Im Urlaub sitzt das Geld locker. Ich seh’s doch bei meinem Alten im Hotel. Und das im langweiligen Cuxhaven an der grauen Nordsee. Wir gehen nach Portugal, an die Algarve. Oder nach Brasilien. Copacabana. Eröffnen eine Strandbar, eine Surf- oder Segelschule. Später vielleicht eine kleine Pension, irgendwann wird daraus ein großes Hotel. Wir spezialisieren uns auf deutschsprachige Urlauber. Dein Aussehen und dein Charme werden unser Aushängeschild. Du empfängst die Gäste, ich kümmere mich ums Geschäftliche. Wirst sehen, es wird ein Riesenerfolg.«
»Dafür brauchst du Startkapital«, wandte Katharina ein. »Auch wenn du klein anfängst.«
»Kein Problem«, verkündete Erik. »Das kriegen wir mit den Kreditkarten meines Alten. Sechs Mille habe ich schon. In den nächsten Tagen komme ich locker auf zwanzig oder dreißig, vielleicht auch fünfzig. In Amsterdam verkaufe ich die Yacht. Die hat eine halbe Million gekostet und ist fast neu. Also gibt’s mindestens die Hälfte.«
»So viel«, staunte Katharina. »Aber ich weiß nicht. Unsere Eltern werden uns suchen lassen. Und dich sucht dann vielleicht sogar die Polizei. Wegen der Kreditkarten und der Yacht, meine ich.«
»Sie werden uns nicht finden. In Portugal legen wir uns andere Namen zu. Ich kann die Sprache ein bisschen. Und du mit deinem schwarzen Haar und den dunklen Augen gehst allemal als Portugiesin durch.« Erik breitete die Arme aus. »Überleg’s dir! Bis Amsterdam sind es achtzig Seemeilen. Auf dem Ijsselmeer sind wir nicht so schnell wie auf hoher See. Das heißt, wir sind ungefähr fünfzehn Stunden unterwegs. Die Zeit sollte reichen.« Er stand auf. »Ich gehe noch mal los. Lebensmittel kaufen. Vielleicht finde ich auch noch eine Bank, bei der ich noch nicht war, oder einen Geldautomaten. Brauchst du noch irgendwas?«
Katharina rollte sich von der Bank, drehte sich um und streckte ihm die auf dem Rücken zusammengebunden Hände entgegen. »Mach mich los! Ich bleibe auch unter Deck.«
Erik zögerte einen Moment. »Lieber nicht«, entschied er dann. »Ist mir zu riskant. Ich bin in einer Stunde, sagen wir in zwei Stunden zurück. Dann kannst du dich wieder frei auf dem Boot bewegen. Und wenn du dich entscheidest, mit mir nach Portugal oder Brasilien zu gehen, sowieso. Also bis dann.«
»Arsch!«, murmelte Katharina resigniert. Solange Erik ihr Geld und ihren Ausweis hatte, war sie machtlos. Sie würde warten müssen, bis sie in Amsterdam von Bord gehen konnte. Aber wollte sie das wirklich? Eriks Darstellung einer gemeinsamen Zukunft unter südlicher Sonne hatte farbenfrohe Bilder in ihrem Kopf erzeugt. Sie sah sich an einem weißen Strand im Liegestuhl einen Cocktail schlürfen und durchtrainierte junge Männer beobachten, die in der Brandung herumtobten und ihr bewundernde Blicke zuwarfen. Dagegen waren ihre Erinnerungen an Cuxhaven grau eingefärbt. Die Wohnung am Lotsengang, der aggressive Blick ihres Vaters, die leidende Miene ihrer Mutter, das Restaurant, in dem sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte und dessen Chef sie übernehmen wollte, wenn sie sich ein bisschen entgegenkommender verhalten würde. Auch in ihrer Heimat schien die Sonne. Als sie zum Helgoland-Törn aufgebrochen waren, herrschten geradezu karibische Temperaturen, sie waren fröhlich und unbeschwert. Bis zu der Sache mit Erik und Jule. Und mit Benny. Es gelang ihr nicht, die Bilder aus dem Kopf zu bekommen. Der Schlag mit dem Flaggenstock. Benny unter der Plane. Sein Körper, der über die Reling rollte. Das Stöhnen. Gern hätte sie die Handflächen gegen die Ohren gepresst. Aber wahrscheinlich hätte das nichts genützt. Ungeschehen machen ließ sich das Ganze ohnehin nicht. Benny konnte nicht überlebt haben. Alle würden nach ihm fragen, wenn sie nach Cuxhaven zurückkäme. Eltern, Freunde, Polizei. Hatte Erik Recht? Käme sie ins Gefängnis? Ihr Vorstellungsvermögen reichte nicht aus, um sich das auszumalen. Dagegen waren die Bilder, die Erik in ihrem Kopf erzeugt hatte, klar und deutlich, aufregend und verlockend. Wäre sie wirklich in der Lage, ihr altes Leben dafür hinter sich zu lassen?
Diesmal dauerte es tatsächlich nur zwei Stunden, bis Erik wieder an Bord kam. Er stellte zwei gefüllte Plastiktüten ab und sah sie an. »Und? Hast du dich schon entschieden?«