Kapitel 15
2019
»Um die Frage, inwieweit Ihr damaliges Verhalten strafrechtlich relevant ist,
wird sich der Staatsanwalt kümmern. Mit Konsequenzen müssen Sie rechnen, falls sich der Tod von Benjamin Wedemeyer als Tötungsdelikt herausstellen sollte. Wir haben die Ermittlungen wieder aufgenommen,
sie sind also noch nicht abgeschlossen. Dazu werden wir Sie gegebenenfalls
gesondert vernehmen.« Kriminalhauptkommissar Feddersen fixierte Erik Börnsen, dessen Kiefer mahlten und an dessen Schläfe die Arteria temporalis deutlich hervortrat. »Aber jetzt komme ich erst noch einmal auf die Ereignisse der Gegenwart zurück.«
Er hätte die Standardfrage nach dem Alibi vielleicht nicht gestellt, wenn ihm Börnsen nicht so selbstgefällig und herablassend gegenübergetreten wäre. Obwohl er anscheinend zur Tatzeit nicht in Cuxhaven gewesen war, konnte Börnsen als Täter nicht ausgeschlossen werden. Er profitierte vom Tod seines Vaters wie kein
anderer. Die Aussicht auf ein Millionenerbe war als Mordmotiv nicht gerade
abwegig. Feddersen beobachtete aufmerksam den Mann hinter dem Schreibtisch, während er die Frage formulierte. »Wo waren Sie zum Zeitpunkt des tödlichen Sturzes, bei dem Ihr Vater ums Leben gekommen ist.«
In Börnsens Miene spiegelte sich nacheinander kurzes Erschrecken, unwillige Ablehnung
und schließlich überhebliche Selbstgewissheit. »In Portugal«, antwortete er. »Vom Tod meines Vaters habe ich über das Internet erfahren. Zwei Tage später bin ich nach Deutschland gekommen. Das Flugticket für den Flug von Faro nach Hamburg stelle ich Ihnen gern zur Verfügung. Auch die Taxiquittungen für die Fahrt vom Flughafen zu meiner Mutter und von dort zum Bahnhof kann ich
Ihnen vorlegen. Und natürlich den Fahrschein der Trainline.«
»Sehr gut.« Jan Feddersen erhob sich. »Bitte lassen Sie uns die Reiseunterlagen möglichst umgehend zukommen.« Er zog eine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie Börnsen. »Unsere Dienststelle befindet sich in der Poststraße, im Haus der Volksbank. Sicher gibt es Zeugen, die bestätigen können, dass Sie sich zur fraglichen Zeit in Portugal aufgehalten haben. Wenn Sie
bitte die entsprechenden Namen und Adressen hinzufügen würden, damit wir unsere portugiesischen Kollegen um Amtshilfe bitten können.«
Der letzte Satz schien Börnsen nicht zu gefallen, seine Miene drückte Ablehnung aus. Aber er hatte sich im Griff und versprach, die erbetenen
Informationen zu liefern. Feddersen fiel auf, dass sich sein Tonfall verändert hatte. Er klang jetzt weniger selbstsicher.
Während sich der Kriminalhauptkommissar verabschiedete, vibrierte in seiner Tasche
das Smartphone. Im Hinausgehen nahm er das Gespräch an. »Hallo, Marie«, meldete er sich. »Konntest du mit Frau Jacobs sprechen?«
»Ja«, antwortete seine Kollegin. »Es war etwas schwierig, aber für uns ergeben sich neue Aspekte. Bist du noch bei Börnsen?«
»Ich komme gerade aus seinem Büro. – Warte bitte mal kurz«, unterbrach er sich. Hinter ihm hatte ein Telefon geklingelt. Börnsen hatte abgenommen und sich gemeldet. Feddersen schloss die Tür nicht vollständig und blieb stehen.
»Probleme? Wieso? Ein Testament?«, fragte Börnsen mit hörbarem Entsetzen in der Stimme. »Geben Sie mir Doktor Lindhorst! Er soll mir sagen, was los ist. – Nicht am Telefon, zu ihm? – Jetzt? – Also gut, ich komme.« Der Hörer wurde auf den Apparat geknallt. Rasch eilte Feddersen davon. »Marie«, flüsterte er in sein Smartphone. »Bist du noch da? Ich rufe dich gleich zurück.«
Vor dem Hotel wartete er nur wenige Augenblicke, bis ein dunkler SUV mit
Cuxhavener Kennzeichen aus der Tiefgarage kam, am Steuer der Sohn des
ehemaligen Besitzers.
Da Feddersen sicher war, das Ziel zu kennen, machte er sich nicht die Mühe, dem Wagen zu folgen. Stattdessen wählte er Maries Nummer. »Ich glaube«, sagte er, als sie sich meldete, »unser Freund Börnsen hat ein Problem mit dem Nachlass seines Vaters.«
»Ja«, bestätigte Marie Janssen. »Ich weiß, dass er ein Problem hat. Julia Jacobs übrigens auch. Und beide hängen zusammen. Außerdem stellen sich die Ereignisse von 2002 tatsächlich anders dar als in der offiziellen Version. Wir sollten uns noch mal mit
Konrad und Claus-Peter zusammensetzen.«
»Also treffen wir uns im Keller?«
»Gute Idee.« In Maries Stimme schien ein Grinsen mitzuschwingen. »Da haben wir’s kühl und laufen dem Lütten nicht über den Weg. Bis dahin!«
*
Ab Segelckestraße war die Große Hardewiek Einbahnstraße. Erik Börnsen preschte mit seinem SUV trotzdem geradeaus weiter, ohne auf Fußgänger und Radfahrer Rücksicht zu nehmen. Wegen der kurzen Strecke zur Anwaltskanzlei würde er keinen Umweg fahren. Im Halteverbot vor den Parkplätzen des Anwesens ließ er den Wagen stehen, eilte zur Tür und drückte auf den Klingelknopf, bis der Summer ertönte und die Tür aufsprang.
»Wo ist er?«, rief er der Empfangsdame zu.
Die Frau hinter dem Tresen musterte ihn kühl. »Herr Börnsen, nehme ich an?«
»Allerdings. Der alte Lindhorst will mich sprechen. Also wo?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte die Frau, »ob Herr Doktor Lindhorst Sie sofort empfangen kann. Eventuell müssen Sie sich ein paar Minuten gedulden.« Sie deutete auf eine offenstehende Tür. »Wenn Sie einen Moment Platz nehmen möchten. Ich melde Sie an.«
»Was Sie wissen oder nicht wissen, ist mir völlig schnuppe«, fauchte Börnsen. »Ich will den Notar sprechen. Jetzt.«
»Sie können im Wartebereich Platz nehmen«, antwortete die Angestellte. »Oder hier stehen bleiben. Das wiederum ist mir völlig schnuppe.« Sie griff zum Telefonhörer und drückte eine Taste. »Herr Börnsen wäre jetzt hier. – Ja, selbstverständlich.«
Sie legte auf, hob den Kopf und sah durch ihn hindurch. »Herr Doktor Lindhorst ist in einem Gespräch, aber er ist gleich für sie da.« Sie wandte sich ihrem Monitor zu und zog die Tastatur heran.
Erik Börnsen bezwang mühsam seine Wut. Die Frechheit dieser Schlampe hätte er am liebsten mit einer Ohrfeige beantwortet. Doch ihm war klar, dass er
sich in dieser Umgebung keine Schwäche erlauben durfte. Er befand sich in einer renommierten Kanzlei, die seit
Generationen die Geschäftstätigkeit der Familie juristisch betreute. Sich mit Lindhorst anzulegen, konnte
ihm schaden. Also ergab er sich seinem Schicksal und wartete. Um die Zicke
hinter dem Tresen zu ärgern, wanderte er im Empfangsbereich auf und ab. Bis Lindhorst endlich
auftauchte und ihn in sein Büro bat. »Willkommen in der Heimat, Herr Börnsen. Die Nachricht von Ihrer … Rückkehr hat mich doch sehr überrascht. Ihre Frau Mutter …«
»Was ist mit dem Testament?«, unterbrach Börnsen den Anwalt. »Hat mein Alter tatsächlich …?«
Lindhorst nickte. »Ihr Herr Vater hat in unserem Notariat ein Testament hinterlegt und verfügt, dass die Personen, die er darin begünstigt, der Eröffnung beiwohnen. Sie, Herr Börnsen, hat er nicht benannt. Wohl weil er annehmen musste, Sie seien …«
»… in der Nordsee abgesoffen«, knurrte Erik Börnsen. »Ich weiß. Nur war das nicht so. Wie Sie selbst sehen können, bin ich hier. Was steht denn nun in dem verdammten Testament?«
»Ich bin nicht befugt, Ihnen darüber Auskunft zu geben«, antwortete der Notar. »Aber aus der Tatsache, dass Sie nicht zur Testamentseröffnung geladen wurden, können Sie Rückschlüsse ziehen.«
»Ich komme darin nicht vor«, stieß Börnsen wütend hervor. »Wie kann das sein, ich bin der Sohn. Also der rechtmäßige Erbe.«
»Selbstverständlich steht Ihnen ein gesetzlicher Pflichtteil zu. Über die Höhe wird das Nachlassgericht befinden. Zunächst muss aber der Gesamtumfang des Erbes ermittelt werden. Daraus berechnet
sich Ihr Anteil.«
»Anteil? Wieso Anteil? Es gibt doch außer mir niemanden …«
»Doch«, widersprach der Notar. »Ich empfehle Ihnen, sich an Ihre Frau Mutter zu wenden. Sie ist nicht an die
Schweigepflicht gebunden.«
»Ach so, es geht um meine Mutter.« In Erik Börnsen machte sich Erleichterung breit. »Sie ist es, die er als Erbin eingesetzt hat. Das ist kein Problem, mit Mama
komme ich klar.«
»Das freut mich für Sie«, erklärte Lindhorst. »Wenn Sie sich mit Ihrer Frau Mutter einigen können, ist für Sie schon viel gewonnen. Sie scheint Ihnen wohlgesonnen zu sein. Ich kann mir
vorstellen, dass sie für eine angemessene finanzielle Ausstattung sorgt. Anderenfalls müssten Sie sich an eventuelle weitere Erben wenden und die Herausgabe der
Mindestbeteiligung verlangen.«
»Eventuelle weitere Erben?« Börnsen sprang auf. »Was soll das denn heißen?«
»Sprechen Sie mit Ihrer Frau Mutter!«, wiederholte der Notar. »Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.«
Börnsen ballte die Fäuste und stürmte aus dem Büro. Auf dem Weg nach draußen zog er sein Smartphone aus der Tasche. Seine Mutter meldete sich sofort. »Schön, dass du anrufst, Erik. Wir haben etwas zu besprechen.«
»Allerdings«, rief Börnsen ins Telefon. »Anscheinend gibt es ein Testament. Was hat der Alte sich da ausgedacht?«
»Kein Grund zur Beunruhigung«, erwiderte Christina Börnsen. »Dein Vater konnte nicht wissen, dass du noch lebst. Trotzdem ist für dich gesorgt. Mach dir keinen Kopf! Können wir uns treffen? Vielleicht in Stade? Dann wäre es für jeden von uns nicht so weit.«
»Natürlich können wir uns treffen. Aber sag mir bitte, was in dem Testament steht! Der alte
Lindhorst hat so eine merkwürdige Andeutung gemacht. Als könnte noch jemand anders als Erbe eingesetzt worden sein. Ich kann mir nicht
vorstellen, wer das sein sollte.«
»Lass uns darüber in Ruhe reden!«, schlug Christina Börnsen vor. »Wann hast du Zeit für einen Ausflug nach Stade? Ich würde mich freuen, wenn wir uns bald sehen.«
»Ich kann sofort losfahren. In einer Stunde bin ich da.«
»Okay, ich auch«, bestätigte Christina Börnsen. »Wir treffen uns im Café im Goebenhaus. Kannst du dich daran erinnern? Wir waren da früher …«
»Ich finde es«, unterbrach Börnsen seine Mutter. »Mache mich sofort auf den Weg. Bis nachher.« Er legte auf, suchte die genaue Adresse mit seinem Smartphone heraus, während er zum Wagen lief, stieg ein und wendete. Nach einem Blick auf die
Tankanzeige tippte er das Ziel ins Navigationsgerät und gab Gas.
Die Bundesstraße 73 war in der Zeit, die er nicht in Cuxhaven verbracht hatte, ausgebaut
worden; Otterndorf hatte eine Umgehungsstraße bekommen. Dennoch musste er immer wieder abbremsen, weil es Autofahrer gab,
die sich an die Geschwindigkeitsbeschränkung hielten oder weil Lastwagen und landwirtschaftliche Fahrzeuge die freie
Fahrt behinderten. Der Verkehr hatte deutlich zugenommen, sodass er trotz
seiner Fahrweise das Zentrum von Stade zehn Minuten später erreichte, als das Navi ursprünglich angezeigt hatte.
In der Kehdinger Straße entdeckte er eine Parklücke. Das Café befand sich in einem denkmalgeschützten dreigeschossigen Doppelhaus aus dem Mittelalter. Börnsen hatte keinen Blick für die Schönheit des Bauwerks und hastete zum Eingang. Seine Mutter hatte ihren Rollstuhl
im hinteren Bereich so platziert, dass sie die Tür im Blick hatte. Sie winkte ihm zu und gab auch der Bedienung ein Zeichen.
»Was möchtest du trinken?«, fragte sie, als er an den Tisch trat, und deutete auf das halbvolle Sektglas
vor ihr auf dem Tisch. »Auch Prosecco?«
»Zu feiern gibt’s ja wohl nichts«, murrte Börnsen und setzte sich. »Wie kommt der Alte dazu, ein Testament zu machen?«
»Ja – wie kommt er dazu?« Seine Mutter lächelte nachsichtig. »Schließlich war er weder krank noch altersschwach. Im Gegenteil. Mit über fünfzig war er offenbar so fit, dass er noch einmal für Nachwuchs sorgen konnte.«
»Wie Nachwuchs?« Börnsen schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht. Was meinst du?«
»Gleich«, antwortete sie und deutete mit einem Kopfnicken auf die Bedienung, die sich
mit einem weiteren Glas Prosecco näherte. Nachdem sie es vor Börnsen abgestellt hatte, hob seine Mutter ihr Glas. »Auf dein Wohl! Ich gratuliere dir, Erik. Du hast eine Schwester, eine
Halbschwester, um genau zu sein. Sie heißt Leonie und ist sieben Jahre alt.«
Erik Börnsen fiel die Kinnlade herunter und das Glas aus der Hand. Erst nachdem die
Bedienung die Scherben beseitigt und ein neues gebracht hatte, fand er seine
Sprache wieder. »Dieses Kind hat Lindhorst gemeint? Das soll von unserem Erbe profitieren? Hat
mein Vater dem Balg Unterhalt zugesagt oder was?«
»Darum geht es nicht.« Christina Börnsen schüttelte den Kopf. »Den Unterhalt hat er mit der Mutter anders geregelt. Sie – also die Tochter – erbt das Hotel. Bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr wird ein Geschäftsführer …«
»Nein!« Erik Börnsen war aufgesprungen und hatte so laut geschrien, dass sich die anderen Gäste nach ihm umdrehten.
»Setz dich und beruhige dich!« Seine Mutter leerte ihr Glas. »Für dich ist gesorgt. Du bekommst das Haus im Zentrum. Ralf hat es mir vermacht,
aber ich überschreibe es dir. Damit hast du ausgesorgt und musst dich nicht ums Hotel kümmern. Gastronomie hat dich doch nie interessiert.«
»Tut es jetzt aber«, widersprach Börnsen und nahm wieder Platz. »Ich habe während der letzten fünfzehn Jahre in der Branche gearbeitet. Und ich bin nach Cuxhaven zurückgekommen, um etwas Eigenes zu haben. Das Hotel unserer Familie. Es darf nicht
in fremde Hände fallen.«
»Die kleine Leonie ist keine Fremde, Erik. Sie ist die Tochter deines Vaters. Er
hat die Vaterschaft anerkannt und sie als Erbin eingesetzt. Alles notariell
beglaubigt. Wenn du wirklich ins Hotel Alte Liebe einsteigen willst, musst du
dich als Geschäftsführer bewerben und dich mit der Testamentsvollstreckerin und später mit deiner Halbschwester einigen.«
»Halbschwester«, murmelte Börnsen. »Dein Mann hat mit über fünfzig noch ein Kind gemacht. Das ist nicht normal. Wer ist überhaupt die Schlampe, mit der er …«
Börnsens Mutter hob eine Hand. »Eine Schlampe ist sie ganz bestimmt nicht. Im Gegenteil – eine reizende junge Frau. Krankenschwester, hübsch, ungefähr dein Alter. Sie wollte das Erbe nicht. Aber sie kann es nicht ablehnen, weil
nicht sie die Erbin ist, sondern ihre Tochter. Ich fürchte, du musst dich damit abfinden.«
Energisch schüttelte Börnsen den Kopf. »Niemals. Das Hotel gehört mir. Ich werde …. Weißt du, wie die Mutter heißt?«
Christina schloss die Augen. »Lindhorst hat uns bekannt gemacht. Ich glaube, sie hieß … heißt … Jakob. Nein, Jakobs.«
»Mit K oder mit C?«
»Das weiß ich nicht, ich habe den Namen nicht geschrieben gesehen. Aber ihr Vorname ist
Julia.«
Börnsen spürte, wie ihm Blut in die Wangen schoss und in den Ohren rauschte. »Das kann nicht wahr sein«, stöhnte er. »Nicht Julia Jacobs.«
Überrascht sah seine Mutter ihn an. »Warum? Kennst du sie?«
»Ich muss los.« Börnsen stand wieder auf. »Tut mir leid, Mama.« Er deutete auf die Gläser. »Kannst du das übernehmen? Ich fahre zurück. Dieses Miststück …«
Seine Mutter griff nach seiner Hand. »Mach keinen Fehler!«, mahnte sie. »Es ist, wie es ist. So wie die Dinge liegen, gibt es keine Möglichkeit, an der Entscheidung deines Vaters etwas zu ändern.«
»Es gibt immer eine Möglichkeit«, knurrte Börnsen düster. »Mach’s gut, Mama!« Er umarmte sie hastig und stürmte aus dem Café.
Auf dem Weg nach Cuxhaven dachte er an Katharina. Sie war aus seinem Leben
verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Auch in Deutschland verschwanden
täglich Menschen. Es musste einen Weg geben … Börnsen zermarterte sich das Gehirn, erwog eine Entführung auf See mit anschließendem Bootsunfall, einen Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang und eine Gasexplosion in Julias Wohnung. Bis zu seiner Ankunft
im Hotel hatte er noch keine Lösung gefunden, die ihm wirklich überzeugend erschien. Er musste sich mit Joana beraten, sie hatte immer gute
Ideen. Er fand sie in ihrem Büro.
Statt ihn mit einer Umarmung zu begrüßen, blieb sie auf ihrem Stuhl sitzen und schob zwei bedruckte Blätter über den Schreibtisch. »Sieh dir das an! Darum musst du dich kümmern.«
»Was ist das?«, knurrte er unwillig und legte die Papiere wieder zurück. Nach dem Schlag, der ihn in Stade getroffen hatte, stand ihm der Sinn nicht
nach buchungstechnischem Kleinkram. »Hat das nicht Zeit? Ich habe etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.«
»Das ist wichtig«, widersprach Joana Santos. »Es geht um die Personalkosten. Das sind die aktuellen Zahlen. Die wolltest du
haben. Außerdem brauchen wir ein Finanzierungskonzept für den Ausbau. Unsere Mittel aus dem Verkauf des Velho Amor reichen dafür nicht aus. Du musst das mit der Bank klären.«
»Ich? Mit der Bank?« Börnsen stieß ein schrilles Lachen aus. »Wie soll das gehen?«
»Ganz einfach. Ich mache dir einen Termin, du gehst hin und erklärst denen, dass wir für die Erweiterung des Hotels einen Kredit brauchen. Wir haben einen guten Ruf, können auf jahrzehntelange solide Umsätze zurückblicken und haben Sicherheiten. Dem Inhaber eines solchen Unternehmens geben
die gerne Geld.«
»Dem Inhaber vielleicht. Das ist der springende Punkt. Ich bin nicht der Inhaber.
Ich bin …«
»Reine Formsache«, unterbrach Joana ihn. »Du bist Erbe und Nachfolger deines Vaters. Darum …«
»Nichts bin ich!«, schrie Erik Börnsen und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Das ist es, worüber ich mit dir sprechen will. Mein Alter hat ein Testament gemacht und das
Hotel einer … anderen Person vererbt.«
Entsetzt starrte Joana ihn an, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. »Einer anderen Person?«, stieß sie schließlich hervor. »Das kann nicht sein. Ralf hatte niemanden. Seine Frau – deine Mutter – hätte nichts gewollt. Er wusste das. Ist das Testament echt?«
»Natürlich ist es echt«, fauchte Börnsen. »Beim Notar hinterlegt. Deswegen der Termin bei Lindhorst. Gestern war die
offizielle Testamentseröffnung. Meine Mutter war dabei. Sie hat mir alles erzählt. Du glaubst es nicht. Mein Alter hat mit über fünfzig noch ein Techtelmechtel gehabt und ein Kind gemacht. Ausgerechnet mit …« Er ächzte, schlug erneut auf die Tischplatte, diesmal mit beiden Fäusten, sprang auf und lief vor Joanas Schreibtisch auf und ab. »Wir müssen uns etwas einfallen lassen.«
»Woran denkst du?«, fragte Joana.
Börnsen blieb stehen. »An eine gewisse Katharina. Mit der bin ich damals nach Portugal gekommen. Also
lange vor deiner Zeit. Sie musste verschwinden, weil sie … Egal! Für sie gab’s jedenfalls eine Lösung. Irgendwie muss es auch für Julia Jacobs und ihr Balg eine geben.« Er nahm seine Wanderung wieder auf. »Leider habe ich noch ein anderes Problem. Hatte Besuch von einem Bullen. Dem
reicht mein Flugticket nicht aus. Er will herausfinden, ob ich an dem Sonntag
wirklich noch in Portugal war.«
»Das kriegen wir hin«, versicherte Joana. »Ich finde zwei, drei Leute, die dich an dem Tag in Sagres gesehen haben. Falls die portugiesische Polizei dem überhaupt ernsthaft nachgeht.«
»Okay, ich verlass’ mich auf dich. Und was machen wir wegen des Testaments?«
Joana sah ihn nachdenklich an »Was ist damals mit dieser … Katharina passiert?«