Kapitel 16
2002
»Nein.« Katharina schüttelte den Kopf. »Ich habe mich noch nicht entschieden. Du hast gesagt, ich habe Zeit, bis wir in Amsterdam ankommen.«
Erik nickte und drückte ihr die Einkaufstüten in die Hand. »Für die Fahrt durchs Ijsselmeer. Sieh zu, dass du was draus machst. Auf dem Wasser gibt’s weder McDonald’s noch Burger King. Ich kümmere mich ums Boot.«
Erleichtert, nicht erneut mit Erik diskutieren zu müssen, trug Katharina die Tüten in die Pantry, packte sie aus und inspizierte die Ausstattung der Bordküche. Töpfe und Pfannen, Geschirr und Gläser, Bestecke und Kochutensilien – alles war da. Zu Hause hatte sie gelernt, preisgünstige Gerichte zu kochen. Mit Eriks Einkauf würden sie gut zwei Tage auskommen.
Während sie mechanisch begann, ein Pfannengericht aus Nudeln, Gemüse und Garnelen vorzubereiten, kreisten in ihrem Kopf erneut die Erinnerungen, die Erik heraufbeschworen hatte. Sie wechselten sich ab mit Szenen aus Cuxhaven. Jedes Mal, wenn sie glaubte, sich für den Weg in die Freiheit des Südens entscheiden zu können, drängten Stimmen und Bilder aus ihrer Heimatstadt in den Vordergrund. Katharina seufzte und versuchte, sich auf die Küchenarbeit zu konzentrieren. Es gelang ihr, ein akzeptables Essen zuzubereiten, aber die widerstreitenden Gedanken kehrten immer wieder zurück, verfolgten sie bis in den Abend und in die Nacht. Während die Seeteufel mit Kurs auf Amsterdam das Ijsselmeer durchquerte, lag sie schlaflos in der Koje, lauschte auf die Geräusche der See und kämpfte mit sich selbst. Gegen Morgen fiel sie in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie erwachte, weil es um sie herum still geworden war und das Boot nicht mehr durchs Wasser pflügte, sondern sanft schaukelte. Es musste im Hafen liegen. Amsterdam! Festland! Plötzlich wusste Katharina, wie sie sich entscheiden würde. Eilig schwang sie sich aus der Koje.
So leise wie möglich schlich sie zum Bad, wusch sich flüchtig, packte ihre Sachen zusammen und schlüpfte in Jeans und T-Shirt. Erik schnarchte hinter der Tür der zweiten Kabine. Ihr Blick fiel auf ein paar Bierdosen, die er geleert haben musste, während er das Boot zum Zielhafen gesteuert hatte. Wahrscheinlich schlief er tief und fest, sodass sie seine Taschen nach ihrem Ausweis und dem Geld durchsuchen konnte.
Vorsichtig öffnete sie die Kabinentür, verharrte kurz und warf einen Blick ins Innere. Das Schnarchen war lauter geworden, blieb aber im Klangbild unverändert. Erik lag angezogen in der Koje, sein Brustkorb hob und senkte sich im Rhythmus des Geräuschs. Auf dem Boden entdeckte Katharina seine Jacke. Sie trat näher, hob sie auf und durchsuchte die Taschen. Schließlich stieß sie auf ihr Portemonnaie. Sie zog es heraus, ließ das Kleidungsstück fallen und wandte sich zum Gehen. In dem Augenblick brach das Schnarchen ab, stattdessen ertönte ein unwilliges Grunzen. Katharina hielt den Atem an, wagte weder, sich umzudrehen, noch, aus der Kabine zu flüchten. Sekunden später grunzte Erik erneut, die Koje knarrte, während er sich auf die Seite wälzte. Würde er aufspringen, sie packen und zu Boden zerren? Hinter ihr blieb es still. Mit klopfendem Herzen schlich Katharina aus der Kabine, kontrollierte ihr Portemonnaie. Der Ausweis steckte an seinem Platz. Erleichtert packte sie ihre Tasche und kletterte von Bord.
Über die Stege eilte sie, so schnell sie konnte, in die Richtung, in der sie die Stadt vermutete, erreichte das Pflaster des befestigten Bereichs, der in eine Straße mündete. Sie war von Gebäuden auf hohen Betonstelzen gesäumt. Aus deren Schatten tauchte ein dunkler Lieferwagen auf. Der Fahrer bremste ab, fuhr in Schrittgeschwindigkeit neben ihr her und ließ das Fenster herunter. »Hallo, mooie vrouw. We kunnen u meenemen.«
Katharina hob die Schultern und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht.«
Der Mann lachte. »Ah, du bist duits. Schöne Frau, sollen wir dich mitnehmen?«
Instinktiv schüttelte Katharina den Kopf. Doch dann überlegte sie es sich anders. Vielleicht war das ihre Chance, schnell weiterzukommen und die Distanz zwischen sich und Erik zu vergrößern. Sie hob einen Daumen. »Ich will zur Autobahn. Trampen. Nach Deutschland.«
»Okay, kein Problem.« Der Fahrer stoppte, auf der Beifahrerseite sprang ein zweiter Mann heraus, öffnete eine Schiebetür. Katharina umrundete den Wagen und wurde von dem rotblonden Typen empfangen, der mit einer einladenden Handbewegung auf eine Sitzbank im Inneren deutete. Katharina setzte einen Fuß auf das Trittbrett, doch ein plötzliches Gespür für Gefahr ließ sie zögern. »Ga je gang!« Der Blonde verzog das Gesicht zu einem Lächeln, aber seine Augen blieben kalt. Hastig trat Katharina einen Schritt zurück, schüttelte den Kopf, suchte nach einer Erklärung für ihren Sinneswandel, wollte sich abwenden. Doch in dem Augenblick stieß der Mann sie in den Wagen, sprang hinterher und drückte sie zu Boden. Die Schiebetür rauschte ins Schloss, der Wagen beschleunigte, Reifen kreischten. Mit Händen und Füßen wehrte sich Katharina gegen den Angreifer, versuchte zu schreien, doch der Mann presste seine Hand auf ihren Mund, hielt mit der anderen ihren Hals umklammert und drückte ihr die Luft ab. Bis ihr die Sinne schwanden.

2019
Für Marie war es fast wie früher. Nachdem Jan und sie Konrad Röverkamp und Claus-Peter Christiansen begrüßt und an dem alten Tisch im Keller der Polizeiinspektion Platz genommen hatten, nickte der ehemalige Kripochef seinem ehemaligen Ersten Kriminalhauptkommissar aufmunternd zu. Wie zu ihrer gemeinsamen Zeit im Fachkommissariat eröffnete Konrad darauf das Gespräch mit der Frage: »Also – was haben wir? – Möchtest du anfangen, Marie?« In dem Augenblick schien ihm bewusst zu werden, dass er nicht mehr der Leiter des FK 1 war. »Entschuldigung!« Er wandte sich an seinen Nachfolger. »Ist ja jetzt deine Angelegenheit, Jan. Ich will dir natürlich nicht vorgreifen. War nur so … aus Gewohnheit …«
Jan Feddersen winkte ab. »Kein Problem. Marie hat ohnehin die interessantesten Informationen.«
»Ich habe mit Julia Jacobs gesprochen«, begann seine Kollegin und berichtete, was sie in Erfahrung gebracht hatte. Anschließend ergänzte Jan Feddersen ihre Darstellung um Erik Börnsens Aussage. »Der Mann steht ziemlich unter Druck«, schloss er. »Nach meinem Eindruck allerdings nicht, weil er seinen Vater verloren hat, sondern weil ihm sein sicher geglaubtes Erbe durch die Lappen geht. Noch hat er ein Alibi, aber ich will es überprüfen lassen.« Er wandte sich an Claus-Peter Christiansen. »Dazu brauche ich Amtshilfe der portugiesischen Polizei.«
»Du hältst Börnsen für den Täter?«, fragte Christiansen.
Feddersen breitete die Arme aus. »Die Beweislage ist dürftig, ich weiß. Aber er ist von allen, mit denen wir es zu tun haben, der Einzige, dem ich einen Mord zutraue. Bisher sprechen die Fakten eher für Julia Jacobs, aber sie halte ich nicht für fähig, eine solche Tat zu begehen. Nach dem, was Marie gerade berichtet hat, erst recht nicht.«
»Das sehe ich auch so«, bestätigte Marie Janssen.
»Da wir gerade bei persönlichen Einschätzungen sind«, fuhr Feddersen fort, »mir ist noch etwas aufgefallen. Wenn mich mein Eindruck nicht täuscht, kennen sich Erik Börnsen und Joana Santos schon länger, vielleicht sind sie sogar ein Paar. So wie die sich angesehen haben …«
»Das wär’ ja ein Ding«, entfuhr es Marie. »Aber du hast Recht, die Vermutung ist nicht abwegig. Beide haben nach eigenen Angaben in Portugal gelebt. Beide haben in der Hotelbranche gearbeitet. Von daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie sich kannten, bevor Börnsen nach Cuxhaven gekommen ist. Fragt sich nur, warum sich Frau Santos drei Monate vorher im Hotel Alte Liebe beworben hat. Das wäre übrigens noch ein Argument für den Antrag auf Amtshilfe durch die portugiesischen Kollegen. Börnsen und Santos könnten gemeinsam den Plan verfolgt haben, das Hotel zu übernehmen.«
Konrad Röverkamp nickte. »In diesem Fall hätte er ein Motiv gehabt, seinen Vater aus dem Weg zu räumen. Ich würde diese Hypothese weiterverfolgen.« Er deutete auf die Akten, die noch auf dem Tisch lagen. »Wir dürfen aber auch den Fall von 2002 nicht aus den Augen verlieren. Nachdem wir wissen, dass die Segelyacht damals nicht gesunken ist, Frau Jacobs auf der Rückreise nicht mehr dabei war und Benjamin Wedemeyer nicht durch ein Bootsunglück ums Leben gekommen ist, stellt sich die Frage nach dem Verbleib der zweiten weiblichen Person. Katharina Blessing. Ihre Eltern mussten damals annehmen, sie sei ertrunken. Was ist wirklich mit ihr geschehen?«
»Noch ein Grund, in Portugal zu recherchieren«, warf Claus-Peter Christiansen ein. »Sie könnte mit Erik Börnsen dorthin gegangen sein.«

2002
Als Katharina wieder zu sich kam, spürte sie zuerst hämmernden Schmerz hinter der Stirn, dann ein Stechen im Unterleib und einen kühlen Luftzug auf ihrer Haut. Mühsam hob sie den Kopf, sah, dass sie nackt war und am ganzen Körper zitterte. Hose und T-Shirt, Schuhe und Slip waren um sie herum im Gras verstreut. Neben ihr ragte eine Bretterwand auf, die zu einem Schuppen zu gehören schien. Während sie ihre Kleidungsstücke heranzog und überstreifte, drangen die Geräusche des Hafens in ihr Bewusstsein. Damit kehrte auch die Erinnerung zurück. Ihre Flucht von der Seeteufel, die Begegnung mit den Männern im Lieferwagen. Sie tastete nach ihrer Geldbörse. Die Scheine fehlten, alles andere war noch da. Auch ihre Tasche. Mühsam richtete sie sich auf, tastete sich an der Schuppenwand entlang, erreichte erst einen Trampelpfad, dann eine Straße und erkannte wenig später die Gebäude wieder, an denen sie entlanggelaufen war. Ohne darüber nachzudenken, welches Ziel sie ansteuern sollte, wanderte sie weiter in Richtung Yachthafen. Alles, was sie jetzt wollte, waren eine Dusche und ein Bett, in das sie sich verkriechen konnte.
Drei Tage verbrachte Katharina in der Koje, wurde von Erik versorgt und unerwartet fürsorglich behandelt. Er war angesichts ihres Zustands entsetzt gewesen, hatte sich ehrlich über ihre Rückkehr gefreut, ihr keine Vorwürfe gemacht und jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Gedanken an einen neuen Fluchtversuch hatte sie seitdem verdrängt. Schon die Vorstellung, allein zu sein, löste Panik in ihr aus. Sobald die Erinnerung an die Männer mit dem Lieferwagen in ihr Bewusstsein kriechen wollte, beschwor sie die Bilder herauf, die Erik mit seinen Plänen erzeugt hatte. Wenn ihr das nicht gelang, bat sie ihn, ihr vom Leben unter südlicher Sonne zu erzählen. Mit Begeisterung und in aller Ausführlichkeit kam er ihren Wunsch nach.
Am Tag vier nach dem schrecklichen Ereignis überraschte er sie mit der Bitte, die Koje zu verlassen. »Wir müssen hier raus, Kathi. Ich habe das Boot verkauft. Es hat nicht ganz so viel gebracht, wie ich gehofft hatte, weil ich nicht alle Papiere habe. Aber wir haben genug Kohle, um in Portugal ein neues Leben anzufangen. Das Land ist in der Europäischen Union. Als deutsche Restaurantfachfrau findest du sofort einen Job in einem Hotel, das auf Urlauber aus deutschsprachigen Ländern spezialisiert ist.«
»Und du? Was machst du?«
»Das findet sich, wenn wir da sind. Surf- und Segelschule vielleicht. Zur Not suche ich mir ’n Job im Gastgewerbe. Für den Anfang. Irgendwann machen wir uns selbstständig. Du und ich mit eigenem Hotel – das ist mein Ziel.«
Katharina stellte Eriks Plan nicht infrage. Sie wunderte sich über sich selbst, weil ihr stattdessen ein praktisches Problem in den Kopf kam. »Wie kommen wir nach Portugal?«
»Mit dem Flugzeug. KLM oder TAP. Hab mich erkundigt. Schon morgen könnten wir fliegen. Flughafen Schiphol. Knappe halbe Stunde mit dem Taxi. Drei Stunden Flug bis Faro.«
Katharina erschien der Weg in den Süden nun endgültig als Rettung. Alles hinter sich lassen, Erinnerungen aus dem Gedächtnis streichen, neu anfangen. Der Gedanke trieb sie aus der Koje. »Machen wir klar Schiff?«
Am frühen Abend hatten sie die Kabine gereinigt, das Boot auf Vordermann gebracht und an den Vertreter einer Agentur übergeben. Durch den Verkauf und weitere Abhebungen mit Hilfe der Kreditkarten waren fast eine Viertelmillion Euro zusammengekommen. Gut gelaunt präsentierte Erik ihr einen silberglänzenden Aluminiumkoffer voller Bargeld.
Ein Taxi brachte sie zum Sheraton Airport Hotel, wo sie eine Suite in der Club-Etage bezogen. Den Abend verbrachten sie im Stripes Restaurant und an der Bar. Während sie mit einem Ohr Erik zuhörte und mit den Augen einem Barbesucher folgte, der aussah wie Nick Carter von den Backstreet Boys, trank Katharina reichlich Caipirinha, versank im Gefühl der Schwerelosigkeit, das die Cocktails auslösten, und genoss den Traum, in das sich ihr Leben verwandelt hatte.
Am Morgen spürte sie die Folgen des Alkohols, doch mit dem Sekt beim Frühstück in der Lounge tauchte sie rasch wieder in die Illusion eines neuen Lebens ein. Sie erstarrte, als der gutaussehende Typ vom Vorabend auf sie zukam, sie anlächelte und ihr zunickte. »I like your hair«, sagte er und verharrte kurz an ihrem Tisch, bevor er weiterging. Es war Nick Carter! Und er hatte sie angesprochen! Katharina bekam eine Gänsehaut. Rasch leerte sie ihr Glas. Wenn sie vom realen Nick Carter wie eine gute Bekannte begrüßt wurde, war der Traum vom anderen Leben schon jetzt Realität geworden. Sie bedauerte, ihren Freundinnen nicht davon erzählen zu können. Noch nicht. Eines Tages, wenn sie als erfolgreiche Geschäftsfrau nach Cuxhaven zurückkehren würde, konnte sie die Begegnung beiläufig erwähnen.

2019
Seit der Testamentseröffnung war Julia voller innerer Unruhe. Am Tag danach hatte sie den Notar noch einmal aufgesucht, um ihn zu fragen, ob es nicht doch eine Möglichkeit gebe, das Erbe auszuschlagen. Doch Dr. Lindhorst hatte ihr haarklein auseinandergesetzt, was ihre Mutter vorausgesagt hatte. »Du musst dich damit abfinden und dich mit dem Notar auf einen Geschäftsführer einigen. Es passiert ja sonst weiter nichts, das dich oder Leonie belastet. Nach ihrem achtzehnten Geburtstag kann sie selbst entscheiden, ob sie die Erbschaft annehmen will oder nicht. Bis dahin ändert sich für euch nichts.«
In dieser Hinsicht konnte Julia ihr nicht folgen. Ihr Leben hatte sich bereits geändert. Wenn sie gerade nicht abgelenkt war, drehten sich ihre Gedanken im Kreis. Sie war sicher, dass Erik Börnsen die Entscheidung seines Vaters nicht akzeptieren und versuchen würde, das Hotel an sich zu bringen. Einen legalen Weg gab es nicht. Also musste er Leonie aus dem Weg räumen. An dieser Stelle stoppte ihr Gedankenfluss, Panik erfasste sie und blockierte ihr weiteres Denken. Sie musste sich bewegen, joggen, Rad fahren oder putzen. Wenn sie zu ihrer Mutter fuhr, um Leonie zu besuchen, machte sie Umwege, sah sich ständig um und schlüpfte erst ins Haus, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war. Noch war ihr Kind in Sicherheit, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis Börnsen herausfinden würde, wo es sich aufhielt.
Die sympathische Polizistin, der Julia ihre Sorge um Leonie anvertraut hatte, war voller Verständnis gewesen. Sie hatte selbst eine Tochter in dem Alter. »In der gegenwärtigen Situation«, hatte sie versucht, Julia zu beruhigen, »kann Börnsen keine Straftat riskieren, auch nicht den Versuch. Er gehört zum Kreis der Verdächtigen, wir haben ihn im Auge und würden sofort eingreifen, wenn er Sie oder Ihre Tochter bedroht.« Der Satz hatte sich eingebrannt. Wieder und wieder murmelte Julia ihn vor sich hin und kontrollierte in ihrem Smartphone die Nummern, die sie von der Beamtin bekommen hatte. »Sie können mich rund um die Uhr erreichen«, hatte sie versichert. »Oder meinen Kollegen Jan Feddersen. Wir kommen sofort oder schicken eine Streifenwagenbesatzung.«
Die Gewissheit, jederzeit Hilfe rufen zu können, hatte Julia ein wenig beruhigt. Dennoch zuckte sie jedes Mal zusammen, wenn sich ihr Telefon meldete, jemand an der Haustür klingelte oder sie Schritte im Treppenhaus vernahm. So wie jetzt. Das Smartphone summte und zeigte einen Anruf mit unterdrückter Nummer an.
Sie meldete sich mit einem halblauten »Ja?«
»Hallo, Julia, Erik hier. Ich bin an der Haustür. Lässt du mich rein? Ich möchte dir einen Vorschlag machen.«
Unbewusst schüttelte sie den Kopf. »Kommt nicht infrage. Ich lasse dich nicht in meine Wohnung. Sag, was du willst! Oder ich lege auf.«
»Es gibt eine Lösung für unser Problem«, behauptete Börnsen. »Aber das ist etwas kompliziert. Ich würde dir das gern persönlich erklären. Es wäre auch zu deinem Vorteil.«
»Mag sein, dass du ein Problem hast. Aber ich habe keins«, widersprach Julia, obwohl sie seit der Testamentseröffnung die Last des Erbes vor Augen und die Angst um ihre Tochter ständig im Bewusstsein hatte, »schon gar keins mit dir gemeinsam.«
»Doch, Julia.« Erik klang ungewohnt nachsichtig. »Es hat keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Ich werde auf das Hotel meines Vaters nicht verzichten. Wenn ich Lindhorst richtig verstanden habe, hättest du das Erbe gern ausgeschlagen. Weil du aber gar nicht geerbt hast, kannst du das nicht.« Er machte eine Pause und fügte hinzu: »Noch nicht.«
Julia brauchte ein paar Sekunden, um die Drohung zu verstehen.
»Bist du noch da?«, fragte Erik nach einer Weile.
»Ja«, krächzte Julia heiser. Ihr Mund war trocken, ihr Puls raste, und ihre Knie wurden weich. Sie sank auf einen Stuhl, unterdrückte den Impuls, das Telefon von sich zu werfen. »Wir können uns in der Austernperle treffen«, flüsterte sie schließlich. »Das Restaurant vorne an der Ecke. In zehn Minuten.«
»Auch gut. Bis gleich.« Erik beendete die Verbindung.
Julia legte das Telefon zurück in die Ladeschale, zog sich Schuhe an und griff nach ihrem Smartphone. Auf dem Display wurde der Telefonbucheintrag der Kriminalpolizistin sichtbar, den sie vorhin aufgerufen hatte. KOK Janssen. Sollte sie die Beamtin anrufen und ihr sagen, dass sie sich mit Erik Börnsen traf? Ihr von seiner indirekten Drohung berichten? Sie entschied sich dagegen. Leonie war in Sicherheit. Und ihr konnte er im Restaurant nichts antun. Zuerst würde sie sich seinen Vorschlag anhören. Danach würde sie wissen, was Börnsen wollte und konnte Marie Janssen oder ihren Kollegen darüber informieren.

*
Das Gespräch mit Kriminalrat Lütjen war unerwartet erfolgreich verlaufen. Er hatte sich die bisherigen Ermittlungsergebnisse angehört, Marie und Jan gelobt und einem Amtshilfeersuchen zugestimmt. Sogar Maries Vorschlag, für Julia Jacobs notfalls Personenschutz zu organisieren, hatte er positiv aufgenommen. Obwohl er sie weiterhin für verdächtig hielt. Maries Verblüffung schien sich in ihrer Miene gespiegelt zu haben, denn der Lütte hatte plötzlich geschmunzelt und einen vertraulichen Ton angeschlagen. »Staatsanwalt Krebsfänger sieht den Fall inzwischen ein wenig anders. Es geht ihm offenbar nicht mehr um Diskretion und Rücksichtnahme im Umgang mit der Familie Börnsen, sondern um rückhaltlose Aufklärung.« Lütjen hatte einen Zeigefinger gehoben und hinzugefügt: »Seine Worte. Er hat sogar angedeutet, die Anklage nicht selbst zu erheben, sondern den Fall an einen Kollegen abzugeben, wenn es so weit kommt.« Dann hatte er die Stimme noch weiter gesenkt. »Dabei scheint ein Gespräch eine Rolle gespielt zu haben, das er mit dem Senior der Sippschaft geführt hat. Berend Börnsen hat ihn anscheinend ermuntert, den Fall von 2002 aufzuklären. Vielleicht reden Sie noch einmal mit dem Senior.«

*
Der alte Herr empfing sie diesmal deutlich weniger abweisend. Marie glaubte sogar, den Anflug eines Lächelns wahrgenommen zu haben, als er sie begrüßte. Selbst die Raumtemperatur in seinem Arbeitszimmer schien nicht mehr ganz so niedrig zu sein.
Börnsen kam sofort zur Sache. »Ich habe mit Staatsanwalt Krebsfänger gesprochen. Offenbar sind Sie mit Ihren Ermittlungen vorangekommen.«
»So ist es«, bestätigte Jan Feddersen. »Das angebliche Bootsunglück von 2002 stellt sich inzwischen völlig anders dar. Die Yacht ist nicht gesunken. Ihr Enkel Erik ist nicht ertrunken, sondern erfreut sich bester Gesundheit.«
»Er ist wieder in Cuxhaven«, fügte Marie hinzu.
Wenn Börnsen überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken. »Haben Sie herausgefunden«, fragte er, »was damals wirklich passiert ist?«
»Nur zum Teil«, antwortete Feddersen. »Wir wissen, dass er die Yacht in Holland verkauft hat und weiter nach Portugal gereist ist. Dort hat er sich seitdem aufgehalten. Nicht aufklären konnten wir bisher den Verbleib einer weiblichen Person, die mit auf der Seeteufel war.«
Börnsen nickte nachdenklich. »Wissen Sie, wann Erik zurückgekommen ist? Vor oder nach dem … Ereignis?«
»Wir überprüfen selbstverständlich die Alibis aller Personen, die für die Tat infrage kommen«, versicherte Jan Feddersen. »Warum fragen Sie? Halten Sie es für möglich, dass ihr Enkel …«
Mit einer energischen Handbewegung schnitt Börnsen ihm das Wort ab. »Erik ist nicht mein Enkel. Er ist der Sohn meiner Schwiegertochter. Aber Ralf war nicht der Erzeuger.«
Marie sah ihn überrascht an. »Woher wissen Sie das?«
»Beweisen kann ich es nicht«, gab Börnsen zu. »Aber ich kann zwei und zwei zusammenzählen. Im Jahr vor Eriks Geburt hatte Christina eine Affäre mit einem unserer Angestellten, einem Fitnesstrainer. Für sich genommen, muss das nichts bedeuten. Aber ich habe das Kind aufwachsen sehen. Wie zuvor meinen Sohn Ralf. Zwischen beiden gab es keinerlei Ähnlichkeit. Weder im Verhalten noch im Aussehen. Dafür glich die Physiognomie des jungen Erik von Jahr zu Jahr mehr der des Trainers. Den habe ich natürlich entlassen und ihm eine Stelle in der Schweiz besorgt, damit er von hier verschwand.«
»Und Ihr Sohn? Wie ist er damit umgegangen?«
»Solange Erik Kind war, ging alles gut. Ralf hat sich einigermaßen um ihn gekümmert. Später, in der Pubertät, gab es wie in allen Familien heftige Auseinandersetzungen. Und danach einen Wechsel zwischen Zuwendung und Abneigung. Ralf hat irgendwann den Fehler gemacht, Eriks Zuneigung mit Geld erkaufen zu wollen. Damit hat er den Jungen endgültig verdorben.«
»Sie haben vorhin indirekt nach Eriks Alibi gefragt«, erinnerte Jan Feddersen. »Darum noch einmal meine Frage. Halten Sie es für möglich, dass er Ihren Sohn vom Hoteldach gestoßen hat?«
Berend Börnsen antwortete nicht sofort. Marie sah ihm an, dass es in ihm arbeitete. Wahrscheinlich kämpfte er noch immer mit der Angst vor dem Ansehensverlust, den seine Familie treffen konnte. »Ich halte alles für möglich«, stieß er schließlich hervor.

*
»Das ist ihm nicht leichtgefallen«, bemerkte Marie, als sie wieder neben Jan saß, der den Dienstwagen zurück in die Stadt lenkte. Sie kamen nur langsam voran, weil vor ihnen auf dem Wehrbergsweg eine kleine Kolonne gelb leuchtender Wattwagen unterwegs war, die vom Tagesausflug zur Insel Neuwerk zurückkehrten.
»Du meinst das mit dem Kuckuckskind?«, fragte Jan.
»Ja, das auch. Und den Verdacht gegen seinen Enkel zu äußern, der Erik Börnsen ja offiziell ist. Ich hätte dem alten Herrn wirklich nicht zugetraut, dass er sich so der Realität stellt. Sie uns gegenüber einzuräumen, zeugt von innerer Stärke.«
Jan nickte. »Wahrscheinlich hat er sich mit Krebsfänger beraten, und die beiden sind übereingekommen, die Flucht nach vorn anzutreten. Je schneller der Fall aufgeklärt ist, desto eher kommt der Name Börnsen aus der öffentlichen Diskussion.«
»Vermutlich liegen sie damit richtig.« Marie warf einen Blick auf die Uhr. »Vielleicht ist der Bericht der Kriminaltechnik schon da, wenn wir in die Dienststelle kommen.«
»Ja«, bestätigte Jan mit sarkastischem Unterton und deutete nach vorn auf die hochrädrigen Wagen. »Wenn wir es heute noch schaffen.«
Marie schmunzelte. »Ein paar Minuten wird’s noch dauern. Die Wattwagen biegen nach und nach in Seitenstraßen ab. Dann hast du wieder freie Fahrt.« Sie wandte sich ihm zu. »Bist du eigentlich schon mal mit dem Wattwagen nach Neuwerk gefahren?«
»Hab ich noch nicht geschafft.« Jan hob die Schultern. »Hat irgendwie nie gepasst. Aber ich hab’s vor.«
»Wird auch Zeit. Du bist jetzt mindestens drei Jahre bei uns in Cuxhaven. Als sportlicher Mensch kannst du eine Strecke zu Fuß zurücklegen. Luca macht sicher gerne mit.«
»Da wäre ich nicht so sicher«, widersprach Jan. »Aber ich mach’s. Versprochen. Vielleicht kommt ihr ja mit – du und Felix und Nele.«
»Einverstanden.« Marie hob einen Daumen. »Ich werde dich daran erinnern, wenn die Saison zu Ende geht und es etwas ruhiger wird.«

2005
»Das muss aufhören!« Erik Börnsen hatte Mühe, seine Wut zu bezwingen. Seit sie das Hotel am Stadtrand von Sagres an der portugiesischen Algarve übernommen hatten, gab es immer öfter Auseinandersetzungen mit Katharina. Sie war für die Gästebetreuung zuständig und erfüllte diese Aufgabe gern, indem sie mit ihnen trank. Sie animierte die Urlauber, ihren Durst mit Vinho verde, diesem leicht prickelnden frischen Weißwein zu löschen und den Bedarf an mehr Alkohol durch Medronho zu befriedigen. Der scharfe Obstschnaps wurde aus der Frucht des Erdbeerbaums gewonnen, war günstig zu bekommen und brachte deutlich mehr Gewinn als andere hochprozentige Getränke.
Erik hatte das Haus Velho Amor getauft. Noch war es nicht das, was ihm vorschwebte, aber es war ausbaufähig. Wegen seiner Lage mit Blick aufs Meer war es gut gebucht. Die Ausstattung der Zimmer konnte den Ansprüchen betuchter deutscher Gäste nicht genügen. Das würde sich ändern. Die überwiegend englischen Gäste störte das schlichte Ambiente jedenfalls nicht, sie kamen auch nicht wegen der Aussicht, sondern weil vom Velho Amor Diskotheken, Bars und Clubs gut zu erreichen waren. Von dort kehrten die meisten von ihnen stark angeheitert zurück und verlangten an der hauseigenen Bar nach Whisky, Gin oder Medronho. Anfangs war der Umsatz an Getränken die wichtigste Stütze des Betriebs gewesen, aber die ausufernden Gelage bis in die frühen Morgenstunden gingen Erik zunehmend auf die Nerven. Zumal Katharina regelmäßig volltrunken ins Bett fiel und dort den halben Tag verbrachte. Fehler bei Buchungen, beim Einkauf und beim Personaleinsatz häuften sich. Am späten Nachmittag saß sie meistens schon wieder an der Bar. Wie jetzt – obwohl noch keine Urlauber da waren.
»Lass mich in Ruhe!«, zischte Katharina und schenkte sich nach. »Ohne mich hättest du nur halb so viele Gäste und halb so viel Umsatz.«
Dass dieses Argument nicht von der Hand zu weisen war, ärgerte Erik zusätzlich. Trotzdem mochte er es nicht mehr gelten lassen. Es wurde Zeit, umzusteuern. Renovieren, das Niveau erhöhen, einen Stern hinzugewinnen, bessere Klientel bekommen. Weniger Umsatz an der Bar wäre dann zu verkraften. »Ich warte nicht, bis du völlig abdrehst. Wenn du nicht aufhörst zu saufen«, drohte er, »schmeiße ich dich raus.«
Katharina leerte ihr Weinglas und kicherte. »Das wagst du nicht. Du bist auf mich angewiesen. Die Typen, die uns die Kohle bringen, stehen auf mich.«
»Das ist nicht zu übersehen«, knurrte Erik. »Aber mit denen kommen wir nicht weiter. Im Winter wird renoviert, die Zimmer werden besser ausgestattet. Dann können wir eine andere Zielgruppe ins Auge fassen. Mehr Leute mit mehr Geld. Solche, die nicht zum Saufen herkommen, weil hier der Sprit billiger ist als zu Hause. Ich will den dritten Stern und ein Jahr später den vierten. Eine alkoholisierte Chefin passt dazu nicht. Also entscheide dich!«
Erneut füllte Katharina ihr Glas. »Ich lasse mir meinen Vinho nicht wegnehmen,« maulte sie. »Meinen besten Freund und Helfer.«
Erik nahm ihr das Glas weg und leerte es ins Spülbecken. »Das ist er mit Sicherheit nicht. Du gehst daran kaputt. Ist nur eine Frage der Zeit.«
Katharina griff nach der Weinflasche, doch Erik war schneller und entfernte sie aus ihrer Reichweite. »Ich meine es verdammt noch mal ernst«, brüllte er. »Und jetzt verzieh dich nach oben! Ich mache das hier heute. Die Bar bleibt für dich tabu.«
»Aber …« Plötzlich brach Katharina in Tränen aus. »Nur eine«, schluchzte sie. »Eine kleine Flasche. Nur noch heute. Ab morgen trinke ich nichts mehr. Versprochen.«
»Das hatten wir schon«, zischte Erik. »Du kriegst keinen Tropfen mehr. Und du bleibst im Haus. So lange, bis du trocken bist. Und danach heißt es, um sechs Uhr aufstehen und abends um zehn ins Bett.«
»Du willst mich einsperren?«, kreischte Katharina. »Das ist kriminell! Du bist ein Verbrecher, Erik Börnsen! Von dir lasse ich mich nicht einsperren. Von dir nicht. Ich verlasse dich. Hier gibt es genügend Männer mit Verständnis für eine Frau mit …«
»… krimineller Vergangenheit?«, fiel Erik ihr ins Wort. »Du hast Benny Wedemeyer erschlagen. Schon vergessen?«
»Das ist eine Lüge!« Katharina schlug mit beiden Fäusten auf Erik ein. »Er hat noch gelebt, als du ihn über Bord geworfen hast.«
Börnsen stieß sie von sich. »Hat er nicht. Das redest du dir ein – in deinem Suff. Verschwinde jetzt! Du kriegst nichts mehr.«
»Leck mich!« Mit erhobenem Arm und ausgestrecktem Mittelfinger stolzierte sie aus der Bar, durchquerte die Hotelhalle und verschwand im Aufzug.
Ich muss nachsehen, ob sie in der Wohnung ist, dachte Erik, verschob den Kontrollgang aber, weil eine Gruppe junger Männer auftauchte, die bedient werden wollten. Weitere Gäste strömten herein, sodass er keine Gelegenheit fand, die Hotelbar zu verlassen. Erst gegen Morgen sah er Katharina wieder.
Sie torkelte ins Schlafzimmer und fiel stöhnend aufs Bett.
»Wo warst du?«, fragte er, obwohl ihm klar war, in welchen Bars sie die Nacht verbracht haben musste. »Ich hatte dir doch gesagt, dass du …«
»Und ich habe dir gesagt«, unterbrach sie ihn, »dass du mich am Arsch lecken kannst.« Sie kicherte und richtete mühsam ihren Oberkörper auf. »Am besten gleich. Letzte Gelegenheit.«
Er sah sie fragend an.
»Ich habe«, fuhr sie undeutlich fort, »beschlossen, dich zu verlassen. Dich und dieses verfluchte Hotel. Ich gehe zurück nach Cuxhaven. Und dann erfahren alle, was für ein Arschloch du bist.« Sie ließ sich aufs Bett sinken. »Ende der Durchsage.«
Erik fand keinen Schlaf. Die Drohung hatte Katharina nicht zum ersten Mal ausgesprochen. Aber diesmal, spürte er, meinte sie es ernst. Vor seinem inneren Auge sah er sie mit alten Freundinnen und Freunden zechen, hörte sie ihre Geschichte erzählen und ihre Anschuldigung vorbringen. Zur Polizei würde sie wohl nicht gehen. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand die Behörden aufmerksam machen würde. Und es seinem Vater zu Ohren kam. Ihn hatte er um die Yacht und viel Geld erleichtert. Wie würde er reagieren? Würde er versuchen, alles totzuschweigen? Oder würde er ihn zur Rechenschaft ziehen wollen? Aber Kathi wusste, wo er zu finden war. Wenn sie nach Deutschland zurückkehrte, war er geliefert. Wenn sie nicht zur Vernunft kam, musste er sie zum Schweigen bringen.