Kapitel 19
2019
»Der Name Börnsen stand nicht auf den Passagierlisten«, berichtete Marie, als Jan Feddersen das Büro betrat. »Zwei Tage vor der Tat sind tatsächlich etliche deutsche Reisende, aus Faro kommend, in Hamburg gelandet.
Darunter ein paar Geschäftsleute aus der Hansestadt, die sich leicht identifizieren ließen. Drei portugiesische Staatsbürger waren ebenfalls dabei, davon zwei Mitarbeiter von Restaurants im Hamburger
Portugiesenviertel. Der dritte Mann ließ sich bisher nicht zuordnen. Rodrigo Ferreira. Sein Flugticket wurde von einem Hotel gebucht.« Sie warf einen Blick in ihre Unterlagen. »Und das hat einen sehr interessanten Namen. Velho Amor.«
Jan sah sie fragend an und hob die Schultern.
Marie grinste. »Velho Amor«, wiederholte sie. »Auf Deutsch Alte Liebe. Drei-Sterne-Haus in Sagres, an der Algarve.«
»Ich fasse es nicht.« Jan ließ sich auf seinen Schreibtischsessel fallen und schüttelte ungläubig den Kopf. »Börnsen hat dort ein Hotel und das hat er Alte Liebe genannt?«
»Wahrscheinlich hatte er eins. Ich habe ein bisschen im Netz recherchiert. Es gehört zu einer Kette. Best Western. Aber erst seit einem Vierteljahr. Den Namen des
Vorbesitzers haben sie nicht rausgerückt. Aber den können uns die portugiesischen Kollegen nennen. Im Netz habe ich kein Dokument
gefunden, aus dem der Name des früheren Besitzers hervorgeht. Allerdings etliche Bilder. Vom Hotel, von der
Aussicht und von der Umgebung. Aber auch Erinnerungsfotos von englischen
Touristen. Bikinischönheiten am Pool und bierselige Typen an der Bar. Auf einem ist im Hintergrund
Erik Börnsen zu erkennen.«
»Super!« Jan Feddersen hob einen Daumen. »Ich habe auch was. Börnsen hat zwei Zeugen benannt, die angeblich bestätigen können, dass er sich an dem Sonntag, an dem sein Vater ums Leben kam, in Sagres
aufgehalten hat.«
»Dann sollten wir die Namen an die portugiesischen Kollegen vor Ort übermitteln lassen.« Marie schob ihm ein Blatt über den Schreibtisch. »Gehst du zum Lütten?«
Jan nickte, nahm den Zettel und stand auf. »Bis gleich!«
Kaum hatte ihr Kollege den Raum verlassen, machte sich Maries Smartphone
bemerkbar. Das Display zeigte das Konterfei von Felix. Sie ahnte den Grund
seines Anrufs. »Sag bloß, du kannst das Mädchen nicht nach Otterndorf fahren«, sagte sie, ohne ihn zu begrüßen.
»Tut mir leid, Marie.« Felix klang zerknirscht. »Ich muss den Termin eines Kollegen übernehmen. Es geht um eine Image-Kampagne der Stadt und des Landkreises. Sie
haben ein Unternehmen beauftragt, einen Film zu drehen. Luftaufnahmen. Das Cuxland von oben. Von der Elbmündung bis Bremerhaven. Wir bekommen Fotos und begleiten das Projekt mit einer
Serie. Heute kommt der Luftbild-Fotograf und zeigt die Rohfassung. Oberbürgermeister Getsch und Landrat Bielefeld sind dabei. Das kann ich nicht absagen.
Nele habe ich schon heute Morgen nach Otterndorf gebracht.«
Marie seufzte. »Die Mutter der kleinen Leonie ist in Not, und ich habe ihr versprochen, dass du
ihre Tochter zu meinen Eltern bringst. Wann hast du wieder Zeit?«
»Ich weiß es nicht. Habe keine Vorstellung, wie lange das dauert. Und danach habe ich
noch ein paar andere Termine. Wahrscheinlich kann ich erst wieder heute Abend.«
»Okay.« Marie gab sich Mühe, nicht enttäuscht oder verärgert zu klingen. »Wir finden eine andere Lösung.«
Sie verabschiedete sich von Felix und suchte die Nummer von Julia Jacobs heraus.
Vielleicht war es ohnehin einfacher, wenn sie ihre Tochter selbst nach
Otterndorf brachte. »Wir müssen nur sicherstellen«, murmelte sie vor sich hin, »dass Börnsen und Santos davon nichts mitbekommen.«
*
»Ja, ich weiß, wo die Großmutter des Mädchens wohnt«, bestätigte Joana Santos. »War nicht schwer herauszufinden. Sie heißt Monika Jacobs und steht mit Adresse im Telefonbuch. Inzwischen kenne ich auch
ihren Wagen. Die Kleine scheint sich zurzeit bei ihr aufzuhalten. Ob der Wink
mit der Puppe funktioniert hat, kann ich natürlich nicht sagen. Aber früher oder später wird Julia erfahren, dass eine fremde Frau mit ihrer Tochter gesprochen hat.
Ob sie daraus Schlüsse zieht, ist die zweite Frage.«
»Wird sie.« Erik Börnsen nickte. »Sie ist nicht dumm. Und sie steht unter Druck. Ich bin sicher, dass sie alle
Antennen ausgefahren hat und jedes Signal aufnimmt. Trotzdem könnten wir die Schrauben ein bisschen anziehen. Wenn ihr Kind für eine Weile verschwindet, dreht sie am Rad. Dafür reicht eine halbe Stunde. Kriegst du das hin?«
»Ich denke schon.« Joana nickte nachdenklich. »Das Mädchen wird sich erinnern, dass sie die kleine Piccolina von mir bekommen hat,
und mir vertrauen. Ich mache mich gleich auf den Weg. Allerdings brauche ich
deinen Wagen.«
»Steht unten.« Erik Börnsen griff in die Tasche, zog den Schlüssel hervor und warf ihn ihr zu. »Viel Erfolg!«
*
Der Anruf der Kriminalpolizistin hatte Julia beruhigt. In wenigen Stunden würde sie Leonie bei Monika abholen und nach Otterndorf bringen. Es wurde Zeit,
ein paar Sachen zusammenzupacken und das Kind auf den Besuch bei fremden Leuten
vorzubereiten. Sie griff erneut zum Telefon und wählte die Mobilfunknummer ihrer Mutter. Beim zweiten Versuch meldete sie sich.
»Wo seid ihr?«, fragte Julia.
»In Sahlenburg«, antwortete Monika Jacobs fröhlich. »Im Kletterpark. Deine Tochter ist unglaublich geschickt. Die turnt an Seilen und
Stangen herum wie ein Äffchen und steckt die gleichaltrigen Jungen locker in die Tasche.«
»Wie schön«, freute sich Julia. »Ich glaube, die Zeit bei dir bekommt ihr gut. Trotzdem möchte ich sie heute Nachmittag abholen. Um fünf seid ihr doch wieder zu Hause, oder?«
»Natürlich«, bestätigte Julias Mutter. »Aber warum kann sie nicht noch ein paar Tage bei mir bleiben?«
»Zur Sicherheit möchte ich sie nach Otterndorf bringen. Zu den Eltern von Frau Janssen, der
Kriminalpolizistin. Sie hat eine Tochter, die etwas jünger ist als Leonie, und sie meint, die beiden würden sich gut verstehen.«
»Fremde Leute?« Monika Jacobs klang empört. »Bei mir ist sie doch auch sicher.«
»Leider nicht«, widersprach Julia. »Die Frau, die Nele die Puppe geschenkt hat, gehört zu Erik Börnsen. Ich weiß nicht, was er vorhat; es könnte sein, dass er sie entführen will. Um mich zu erpressen.«
Für einen Augenblick herrschte Schweigen. »Bist du noch da?«, fragte Julia.
»Ja«, antwortete ihre Mutter. »Ich bin nur gerade sprachlos. Aber okay, wir sind pünktlich zum Abendessen zu Hause.«
»Gut. Du kannst ihr schon mal sagen, dass ich sie abholen werde. Oder ist sie
gerade bei dir? Kann ich sie sprechen?«
»Nein. Sie turnt gerade irgendwo zwischen den Bäumen herum.«
»Aber du hast sie im Blick?«, fragte Julia.
»Im Moment gerade nicht«, gab ihre Mutter zu. »Du glaubst gar nicht, was hier los ist. So viele Kinder, die balancieren und
klettern. Ich muss mal schauen. Eben war sie noch hier.«
Julia beschlich ein ungutes Gefühl. »Sieh bitte nach! Und bleib dran! Ich warte.«
Sie hörte ihre Mutter durch das Telefon atmen, vernahm ihre Schritte, im Hintergrund
ertönte Kindergeschrei. Das Atemgeräusch an ihrem Ohr wurde heftiger, ging schließlich in ein hektisches Schnaufen über. »Ich finde sie nicht«, keuchte ihre Mutter schließlich. »Aber sie muss hier irgendwo sein. Gerade war sie noch beim Piratenparcours.
Jedes Kind ist mit einer Leine gesichert. Mach dir keine Sorgen! Du kannst
ruhig auflegen. Ich frage beim Betreuer nach. Sobald ich sie gefunden habe,
rufe ich dich an. Kann sich nur um ein paar Minuten handeln. Bis gleich!« Die Verbindung wurde unterbrochen.
Mit rasendem Puls starrte Julia auf das Telefon. Sie musste sich zwingen, nicht
auf die Wahlwiederholung zu drücken. Dann wäre ihr Anschluss womöglich besetzt, wenn ihre Mutter zurückrufen würde.
*
Am Piratenparcours tummelten sich zahlreiche Kinder. Leonie zu finden, sollte
nicht schwer sein. Sie trug Jeans und Turnschuhe und hatte auffallend blondes
Haar. Doch zu Monika Jacobs Bestürzung waren fast alle Mädchen ähnlich gekleidet, und ihr Haar steckte unter einem roten Helm, den sie zusammen
mit dem Sicherungsgeschirr bei der Einweisung erhalten hatten. Mit zunehmender
Beklemmung musterte sie ein Kind nach dem anderen, konnte Leonie aber nicht
entdecken.
»Entschuldigung«, sprach sie einen der Betreuer an. »Ich suche meine Enkelin. Blonde Haare, blaue Augen, grünes Sweatshirt. Sie war gerade noch hier.«
»Dann kann sie nicht weit sein«, versicherte der Mann mit ruhiger Stimme. »Hier ist noch kein Kind verloren gegangen.«
»Aber ich sehe sie nirgends.« Panik stieg in Monika Jacobs auf. Gleichzeitig brach ihr der Schweiß aus. »Sie ist … war … hier am Piratenparcours.«
Der Mann hob die Schultern. »Die Kinder können sich eigentlich nicht selbstständig machen. Aber schauen Sie sich auch in den anderen Bereichen um. Das Gelände ist nicht eingezäunt. Es gibt nur ein Markierungsseil. Theoretisch könnte …« Er brach ab und schüttelte den Kopf. »Wenn Sie Ihre Enkelin nicht finden, melden Sie sich an der Kasse. Meine Kollegen
suchen dann mit.«
»Hier ist noch kein Kind verloren gegangen.« Der Satz des Kletterpark-Mitarbeiters kreiste in ihrem Kopf, während Monika Jacobs voller Angst über das Gelände hastete und nach Leonie Ausschau hielt. Gleichzeitig hörte sie Julia reden. »Ich weiß nicht, was er vorhat; es könnte sein, dass er sie entführen will.«
Der Gedanke an ihre Tochter verstärkte die Angst um das Kind. Wenn Leonie etwas zustieß, trüge sie, ihre Großmutter, die Schuld. Wie sollte sie damit leben? Wie sollte Julia damit leben?
Nein, es konnte nicht sein, durfte nicht sein. Sie musste ihre Enkelin wiederfinden. Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihr Fußgelenk und schoss bis zur Hüfte. Sie strauchelte, ruderte mit den Armen, verlor das Gleichgewicht und schlug
auf den Waldboden. Für einen kurzen Moment schwanden ihre Sinne. Im nächsten Augenblick wurde sie von zwei kräftigen Armen gepackt. Die hoben sie hoch, trugen sie zwischen den Bäumen hindurch zum Waldbistro und legten sie auf einer hölzernen Sitzbank ab.
»Unser Sanitäter kümmert sich gleich um Sie«, sagte einer der Männer. »Ich rufe den Notarzt.«
»Brauche keinen Arzt.« Monika Jacobs schüttelte den Kopf und richtete sich auf. »Bin nur umgeknickt. Geht schon wieder.« Sie tastete nach ihrem Mobiltelefon. »Muss meine Tochter anrufen. Wegen …« Sie brach ab, wedelte mit der freien Hand, um die Helfer zu verscheuchen, berührte das Symbol für die Kurzwahl. Julia meldete sich sofort, fragte atemlos nach Leonie.
Monika Jacobs wollte antworten, doch ihre Stimme versagte, Tränen verschleierten ihren Blick. Mit einer hilflosen Geste reichte sie einem der
Männer ihr Telefon.
»Mama«, erklang ihre Tochter. »Bist du noch da? Hörst du mich? Was ist mit ihr?«
»Hallo«, meldete sich mit ruhiger Stimme der Kletterpark-Mitarbeiter. »Hier spricht Markus Paulsen. Ihre Mutter hatte einen kleinen Unfall. Sie ist
gestürzt. Aber es geht ihr gut. Schlimmstenfalls ein Bänderriss am Fußgelenk. Wahrscheinlich aber nur verstaucht.«
»Was ist mit meiner Tochter?«, erklang es aus dem Telefon. »Leonie. Sie ist mit meiner Mutter im Kletterpark.«
Paulsen ließ das Telefon sinken. »Ihre Tochter fragt nach Leonie. Ihre Enkelin, nehme ich an.«
Monika Jacobs nickte unter Tränen und streckte die Hand nach ihrem Handy aus. »Ich glaube, jetzt geht’s.«
»Es tut mir leid«, flüsterte sie ins Telefon. »Ich hatte sie für einen Moment aus den Augen verloren. Der Betreuer vom Kletterpark hat gesagt,
hier ist noch kein Kind verloren gegangen. Sie suchen gleich nach Leonie. Ich
kann leider nicht auftreten. Aber du musst dir keine Sorgen … Warte mal!« Monika Jacobs starrte auf ein Kind, das aus Richtung Parkplatz angerannt kam. Täuschte sie sich schon wieder? War das wirklich Leonie? Ihr Herzschlag
beschleunigte sich, sie atmete rasch, winkte zögernd. Leonie winkte zurück. »Da kommt sie!«, rief Monika Jacobs ins Telefon. »Sie ist zurück, Julia. Leonie ist wieder da. Alles in Ordnung. Ich rufe später wieder an.« Sie legte das Telefon zur Seite und breitete die Arme aus. Sekunden später lag ihr Enkelkind in ihren Armen. »Oma«, rief das Mädchen aufgeregt und strahlte sie an. »Ich habe die nette Frau getroffen. Wir haben Eis gegessen. Banane, Erdbeer,
Schoko. Sooo lecker!« Erst jetzt bemerkte Monika Jacobs den verschmierten rotbraunen Rand um die
Lippen ihrer Enkelin und deren klebrige Hände. Die Erkenntnis, wie wenig Sicherheit sie dem Kind bieten konnte, traf sie
wie ein Schlag. Erneut traten Tränen in ihre Augen.
»Oma, warum weinst du?«, fragte Leonie irritiert. »Willst du auch Eis?«
Monika Jacobs schüttelte den Kopf. »Nein danke, mein Kind. Ich habe mir den Fuß verknackst. Das tut ziemlich weh. Und ich kann nicht Auto fahren. Wir müssen deine Mutter anrufen. Damit sie uns abholt.«
Leonie zeigte eine betrübte Miene. »Schade, dass Schneewittchen nicht mehr da ist, wenn Mama kommt.«
»Schneewittchen?«, fragte Monika Jacobs ahnungsvoll. »Von der du die Puppe hast?«
»Ja!«, rief Leonie begeistert. Sie rollte verschwörerisch mit den Augen und näherte ihre Lippen einem Ohr der Großmutter. »Es ist unser Geheimnis«, flüsterte sie. »Aber dir kann ich es ja verraten. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, machen wir einen Ausflug. Mit einem Schiff.« Sie richtete sich auf und klatschte in die Hände. »Ich freue mich schon.« Doch dann verdüsterte sich ihre Miene. »Mama erlaubt es bestimmt nicht.« Erwartungsvoll sah sie ihre Großmutter an. »Aber du kannst es mir ja erlauben.«
Monika Jacobs lächelte gequält. »Hat deine Mutter dir nicht gesagt, dass du niemals mit fremden Menschen mitgehen
sollst?«
Leonie nickte verständig. »Ja, ich darf nicht mit fremden Männern mitgehen. Aber das ist ja Schneewittchen, kein Mann. Und wir waren auch
nicht weg. Nur beim Eis.«
»Nur beim Eis«, wiederholte Monika Jacobs seufzend. »Jetzt rufe ich erst mal deine Mutter an. Damit sie uns abholt. Ich glaube, sie
hat mit dir heute noch etwas vor. Auch einen Ausflug.«
*
Das Haus in Otterndorf, idyllisch an der Medem gelegen, bot von der Terrasse
einen Blick ins Grüne und aufs Wasser. Marie genoss Besuche bei ihren Eltern. Wenn ihr Vater nicht
gerade über die Folgen der Elbvertiefung klagte oder ihre Mutter nach Zukunftsplänen fragte, womit sie eigentlich Hochzeitspläne meinte – ihr missfiel, dass ihre Tochter und Felix nicht verheiratet waren –, konnte sie ganz entspannt den Enten, Brachvögeln und Regenpfeifern zusehen. Heute war so ein Tag, Maries Eltern waren
vollauf mit Nele und Leonie beschäftigt.
Es gab Kuchen und Eis, Kakao und Limonade, ohne dass Marie eingegriffen hätte. Gelegentlich musste sie ihre Eltern daran hindern, ihre Enkelin allzu sehr
zu verwöhnen. Heute war alles anders. Es ging um Leonie und die Frage, ob sie bei Maries
Eltern bleiben würde, die sie gerade erst kennengelernt hatte. Die Chancen standen gut. Die Mädchen schienen sich zu verstehen. Als Sensation hatten sich die Kaninchen der
Janssens erwiesen. Sie durften sie füttern, herumtragen und bemuttern. Julia Jacobs hätte wohl nicht bleiben müssen, entschied sich aber, die erste Nacht mit ihrer Tochter in Otterndorf zu
verbringen.
Marie war erleichtert, weil ihr Plan aufgegangen war und sie damit Julia Jacobs
hatte entlasten können, die nach einer erneuten Begegnung ihrer Tochter mit »Schneewittchen« voller Angst gewesen war. Marie zweifelte nicht daran, dass Joana Santos
dahintersteckte. Und sie fragte sich, wie weit die Frau gehen würde, um Erik Börnsens hinterhältiges Vorhaben zu unterstützen. Leonie war nichts geschehen, aber ihre Aussage über einen Ausflug mit Schneewittchen deutete auf eine Entführung hin.
Es ärgerte Marie, dass sie weder Santos noch Börnsen eine kriminelle Handlung nachweisen konnte. Einem kleinen Mädchen eine Puppe zu schenken oder es zum Eis einzuladen, war ebenso wenig
strafbar wie der Versuch, Julia Jacobs zu einem unanständigen Deal zu überreden. Noch mehr bedrückte sie die Ungewissheit, ob es gelingen würde, im Fall Ralf Börnsen an gerichtsfeste Beweise zu kommen. Selbst wenn sich in den
sichergestellten Arbeitshandschuhen DNA-Spuren finden und Erik Börnsen zuordnen lassen würden, liefe es auf einen Indizienprozess hinaus. Marie seufzte. Außerdem, dachte sie, steht und fällt die Anklage mit Börnsens Alibi. Wenn die Männer, die er als Zeugen genannt hatte, in seinem Sinn aussagten, würde der Staatsanwalt den Fall zu den Akten legen.
Das Summen ihres Smartphones unterbrach ihre Gedanken. Felix. Wollte er jetzt
doch noch die Mädchen nach Otterndorf bringen?
»Du bist zu spät«, sagte sie ohne Begrüßung. »Wir sind bei meinen Eltern. Die Mädchen verstehen sich blendend. Leonies Mutter ist schon wieder … Was hast du gesehen? – Auf dem Dach? Ich verstehe nicht.«
»Also noch mal«, Felix’ Stimme klang aufgeregt. »Wir haben gerade diesen Film angeschaut, von dem ich dir erzählt habe. Mit OB Getsch, Landrat Bielefeld und Martin Elsen, dem
Luftbild-Fotografen aus Stade. Der ist mit seiner Kamera im Hubschrauber über dem Cuxland unterwegs gewesen und hat unter anderem die Küste aufgenommen. Wunderschön. Natürlich sind auch die Strände von Cuxhaven zu sehen. Dabei kommt das Hotel Alte Liebe ins Bild. Auf dem
Dach sind drei Personen zu erkennen. Und jetzt halt dich fest! Die Aufnahme ist
an dem Tag entstanden, an dem Ralf Börnsen abgestürzt ist. Die genaue Uhrzeit will der Kameramann noch herausfinden. Aber er ist
sicher, dass es am Vormittag war.«
Marie war vor Erregung aufgesprungen. »Kann man Gesichter erkennen?«
»Dafür ist die Entfernung zu groß und die Auflösung zu gering. Wenn ich mich nicht täusche, handelt es sich um zwei Männer und eine Frau. Mit etwas Glück bekommen wir aber auch noch ein Foto. Auf dem sind mehr Details zu erkennen.
Wenn es tatsächlich eine Aufnahme von der Szene gibt, wird der Fotograf sie heraussuchen.«
»Ich muss beides haben.« Marie spürte ihren Pulsschlag. »Den Filmausschnitt und das Foto. So schnell wie möglich.«
»Kriegst du. Selbstverständlich. Du weißt doch – wir verhalten uns kooperativ.« In Felix’ Stimme schien ein belustigter Unterton mitzuschwingen. Marie sah sein Gesicht
vor sich. Wahrscheinlich grinste er gerade. »Danke, Felix«, sagte sie. »Für unsere Ermittlungen kann das der Durchbruch werden. Wie schnell können wir das Material bekommen?«
»Noch heute Abend. Der Fotograf ist schon auf dem Weg nach Hause. Er schneidet
die Filmsequenz heraus und sucht nach der Fotodatei. Beides schickt er mir.
Morgen früh kannst du die Aufnahmen deinen Kollegen zeigen.«
»Super!« Marie gelang es nicht, die Euphorie in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Ich kann es kaum erwarten, die Bilder zu sehen. Wann kommst du nach Hause?«
»In einer guten Stunde«, antwortete Felix. »Ich habe nur noch einen Termin. In Duhnen. Wegen des Wattrennens am fünfundzwanzigsten August. Der Hauptpreis wird in diesem Jahr von Kultusminister
Tonne überreicht. Eine Gelegenheit für medienwirksames Auftreten von Tierschützern. Aber in diesem Jahr soll es keinen Anlass für Kritik geben. Sagen die Veranstalter. Sie wollen mir die Maßnahme erläutern, mit denen die Tierschutzbestimmungen eingehalten werden sollen. Von da
aus komme ich direkt nach Hause. Bist du dann schon da?«
»Ich denke schon«, antwortete Marie. »Sobald die Mädchen friedlich im Bett liegen, mache ich mich auf den Weg.«
Sie verabschiedete sich von Felix und wählte die Nummer von Jan. Doch nach dem zweiten Rufzeichen legte sie wieder auf.
Ihm und dem Lütten würde sie die gute Nachricht erst verkünden, wenn sie die Aufnahmen selbst gesehen hatte.
*
Nachdem Julia mit ihrer Tochter die Nacht bei den Eltern der Polizistin
verbracht hatte, fuhr sie zu ihrer Mutter, die das verletzte Fußgelenk mit kühlenden Bandagen umwickelt und ihre Beine hochgelegt hatte.
»Wie geht’s dem Knöchel?«, rief sie, als sie die Wohnung betrat. »Soll ich dir neues Eis bringen?«
»Nicht nötig«, antwortete Monika Jacobs. »Tut zwar noch weh, aber ich glaube, es ist nicht mehr ganz so dick. Kann ich
aushalten.« Sie streckte die Arme aus. »Komm zu mir! Was mich wirklich schmerzt, ist die Gefahr, in die ich Leonie
gebracht habe. Nicht auszudenken, wenn diese Frau das Kind einfach mitgenommen
hätte.«
»Hat sie ja nicht.« Julia umarmte ihre Mutter. »Es ist nichts passiert und Leonie ist in Sicherheit. Die Eltern von Frau Janssen
sind ganz reizende Menschen. Mit ihrer Enkelin Nele hat sich Leonie sofort
angefreundet. Für die beiden Mädchen ist es dort wie im Paradies. Um Leonie müssen wir uns keine Sorgen machen.« Sie deutete auf den lädierten Fuß. »Wohl eher um dich.«
»Halb so wild.« Monika Jacobs machte eine wegwerfen Handbewegung. »Im Keller habe ich noch eine Gehhilfe. Wenn du mir die holen könntest. Dann komme ich bestens zurecht.« Sie sah Julia aufmerksam an. »Was sagt denn die Kommissarin zu dem Deal, den Börnsen dir vorgeschlagen hat?«
»Vorerst soll ich mich auf nichts einlassen. Sie glaubt, dass er seinen Vater
umgebracht hat, und rechnet damit, ihm die Tat innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden nachweisen und ihn verhaften zu können.«
»Das hat sie dir gesagt?«
»Nicht direkt. Nur angedeutet. Unter vier Augen. Offiziell bin ich ja auch noch
verdächtig.«
»Hoffen wir, dass sie Recht behält. Und dass der Staatsanwalt mitzieht. Ich kenne den aus meiner Arbeit in der
Kanzlei. Er trägt den schönen Namen Krebsfänger und ist mit der Börnsen-Sippschaft irgendwie verwandt. Wenn ich mich recht erinnere, ist seine
Frau …«
Julia unterbrach sie, indem sie eine Hand hob, und zog ihr Smartphone aus der
Tasche, das sich summend bemerkbar gemacht hatte. »Ich glaube, das ist Erik Börnsen. Wahrscheinlich will er hören, ob ich jetzt nachgebe.«