Kapitel 20
»Ich glaube, das Mädchen ist nicht mehr bei seiner Großmutter«, berichtete Joana Santos, nachdem sie ins Hotel zurückgekehrt war. »Ich habe das Haus eine Zeit lang beobachtet. Die Frau geht an Krücken. Ist anscheinend verletzt. Sie müssen das Kind irgendwo anders untergebracht haben.«
Erik Börnsen nickte nachdenklich. »Deshalb fühlt sie sich so sicher. Ich meine Julia. Habe mit ihr telefoniert. Sie war
ziemlich abweisend und sehr kurz angebunden. Hat nicht erkennen lassen, ob sie
sich auf den Deal einlässt. Dabei war eigentlich alles klar. Kommt mir so vor, als ob sie Zeit gewinnen
will. Weiß nur nicht, wofür. Du musst herausfinden, wo sie das Mädchen versteckt hat. Damit ich wieder mehr Druck machen kann.«
»Du darfst es aber nicht übertreiben«, wandte Joana Santos ein. »Diese Kriminalkommissarin Janssen sollten wir nicht unterschätzen. Die kann zwei und zwei zusammenzählen. Wenn sie herausfindet, dass ich der Kleinen am Spielplatz die Puppe
geschenkt und im Kletterpark mit ihr Eis gegessen habe, weiß sie, dass du dahintersteckst.«
Erik hob die Schultern. »Na und? Soll sie doch. Mit der Erkenntnis kann sie nichts anfangen. Für den Sonntag, an dem mein Alter abgestürzt ist, habe ich ein Alibi. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als die Ermittlungen einzustellen. Früher oder später. Kommt nicht so drauf an. Hauptsache ich kriege Julia Jacobs dazu, den
Vertrag zu unterschreiben. Und dafür musst du herausfinden, wo sie ihre Tochter gelassen hat.«
Joana Santos seufzte. »Wir haben niemanden, bei dem wir ansetzen können. Nur die Großmutter.«
»Reicht doch«, antwortete Erik. »Bring sie zum Reden! Mach ihr irgendwie Druck! Du schaffst das schon.«
»Okay. Ich werde ihr nachher einen Besuch abstatten. Du kannst dann schon mal
einen guten Wein öffnen, damit wir auf den Erfolg anstoßen können.«
*
»Damit haben wir ihn.« Jan Feddersen deutete auf das Videobild, das über den Monitor flimmerte. Der Ausschnitt aus dem Image-Film lief bereits zum
dritten Mal ab. Vom linken Bildrand glitt der Küstenstreifen vor Cuxhaven langsam nach rechts. Im Osten bildeten der Grünstrand der Grimmershörn-Bucht, im Norden der weißgelbe Sandstrand von Döse und Duhnen die Grenze zur erstaunlich blauen Nordsee. Strandkörbe und Menschen erschienen als leuchtende Farbpunkte und ließen die Menge der Urlauber erahnen, die allein auf diesem Abschnitt den Sonntag
verbracht hatten. Langsam schob sich das Hotel Alte Liebe ins Bild. Wie
Spielfiguren in einer Spielzeuglandschaft erschienen drei Personen auf der
Dachterrasse vor dem Penthouse. Der Wind bewegte die lange dunkle Haarpracht
einer der Figuren. Ein bärtiger Mann, dessen Gesicht im Schatten eines Basecaps lag, eine dritte Figur,
die als einzige eindeutig erkennbare Merkmale aufwies. Die kräftige Gestalt mit stark gelichtetem Haar, deren Kopfhaut in der Mittagssonne
leuchtete, wies auf Ralf Börnsen hin. Er gestikulierte mit ausgebreiteten Armen und stand dicht am Geländer. Die beiden anderen Figuren bewegten sich auf ihn zu. Doch bevor sie ihn
erreichten, verschwand die Szene aus dem Bildausschnitt, der weiter über den Küstenstreifen wanderte. Die am Rand eingeblendete digitale Uhr zeigte 09:56 an.
»Als Beweis reicht das nicht aus«, wandte Kriminalrat Lütjen ein. Sie saßen in seinem Büro, weil hier ein großer Bildschirm zur Verfügung stand, auf den Marie per Smartphone den Film gestreamt hatte. »Was ist mit dem Foto, von dem Sie gesprochen haben?«
»Moment.« Marie berührte das Display ihres Handys, und auf dem Monitor erschien die Aufnahme, die
der Luftbild-Fotograf zur Verfügung gestellt hatte. Im Gegensatz zum Video zeigte sie Einzelheiten in
bestechender Qualität. Leider war die Szene auf dem Dach nicht vollständig zu erkennen. Das Hotel Alte Liebe hatte nicht im Fokus des Fotografen
gelegen, so hatte seine Kamera nur einen Teil des Daches erfasst. Zu sehen
waren zwei Personen, die sich zweifelsfrei als Joana Santos und Ralf Börnsen identifizieren ließen. Von dem bärtigen Mann ragte nur ein ausgestreckter Arm ins Bild.
Marie deutete auf den Monitor. »Das muss Erik Börnsen sein.«
Der Kriminalrat verzog das Gesicht. »Eine naheliegende Schlussfolgerung, Frau Kollegin. Wahrscheinlich haben Sie
Recht, aber das Fotomaterial dürfte ein Gericht kaum überzeugen. Wir brauchen einen Beweis dafür, dass der junge Börnsen zur Tatzeit auf dem Dach war.«
»Oder eine entsprechende Aussage«, meldete sich Jan Feddersen zu Wort. »Joana Santos war dabei. Sie muss gesehen haben, was sich abgespielt hat. Wir
sollten sie noch einmal vernehmen und mit dem Bildmaterial konfrontieren.«
»Und ihr klarmachen«, ergänzte Marie, »dass sie sich wegen Beihilfe zum Mord verantworten muss.«
Lütjen neigte den Kopf. »Das könnte ein Hebel sein. Wenn die Dame allerdings von Anfang an Börnsens Komplizin war, wird sie ihn nicht ans Messer liefern.«
»Es käme auf einen Versuch an«, schlug Jan Feddersen vor. »Wir suchen sie nicht auf, sondern lassen sie von uniformierten Kollegen
herbringen und vernehmen sie hier. Vielleicht können wir sie weichkochen.«
»Ihren letzten Satz habe ich nicht gehört«, bemerkte der Kriminalrat. »Aber der Ansatz ist richtig. Von mir haben Sie grünes Licht.« Mit einer Kopfbewegung deutete er in Richtung Tür.
Jan Feddersen stand auf und nickte Marie zu. »Also los!«
Marie erhob sich ebenfalls. Bevor sie die Bürotür erreichten, klopfte es. Im nächsten Augenblick stand eine uniformierte Polizistin im Türrahmen. Anne Lüken, die Pressesprecherin. »Moin zusammen.« Sie hielt eine bedruckte Seite hoch. »Gut, dass ihr alle hier seid. Das hier ist gerade bei mir angekommen. Dürfte euch interessieren.« Sie drückte Jan das Blatt in die Hand. »E-Mail aus Portugal.«
»Danke!«, stieß Jan hervor, der, so schien es Marie, für einen kurzen Augenblick die Kontrolle über seine Gesichtszüge verloren und Anne bewundernd angesehen hatte. War er immer noch in die
Kollegin verliebt? Sie schob den Gedanken zur Seite und deutete auf die
Schriftstücke. »Bringt uns das weiter?«
»Ganz bestimmt.« Anne nickte nachdrücklich. »Ich bin zwar nicht auf dem neuesten Stand, aber ich glaube, auf diese
Informationen habt ihr gewartet. Und keine Sorge – ist auf Deutsch.«
»Vielen Dank, Frau Lüken«, mischte sich der Kriminalrat ein. »Gut, dass Sie gleich damit zu uns gekommen sind.«
»Ist doch selbstverständlich.« Anne zwinkerte Marie zu und verabschiedete sich.
Lütjen deutete auf die Besuchersessel. »Nehmen Sie wieder Platz! Und lesen Sie uns vor, was die portugiesischen Kollegen
herausgefunden haben.«
»Das Schreiben kommt von der Polícia Judiciária, Portimão. Unterzeichnet ist es von einem Capitán José Cardozo.«
Sehr geehrte Kolleginnen, sehr geehrte Kollegen,
in der Angelegenheit Erik Börnsen erhalten Sie in Kürze die angeforderten Dokumente. Dabei handelt es sich um die
Vernehmungsprotokolle der Personen, die Börnsen benannt hat, sowie das Ergebnis der Befragung des Rodrigo Ferreira zu
jenem Flug von Faro nach Hamburg. Ich gehe davon aus, dass die Originale mit
amtlich beglaubigten Übersetzungen vorgelegt werden müssen, sollte es zu einer Gerichtsverhandlung kommen. Darum bekommen Sie sie auf
dem Postweg zugesandt.
Vorab möchte ich Ihnen eine Zusammenfassung sowie einige persönliche Anmerkungen übermitteln. Ein deutschsprachiger Freund, der hier seinen Ruhestand verbringt,
hat mir diese Zeilen übersetzt.
Um es gleich vorwegzunehmen: Es gibt keine eindeutige Aussage. Die von B.
genannten Zeugen glauben, ihn am fraglichen Tag in Sagres gesehen zu haben, räumen aber ein, sich irren zu können. Keinesfalls wollen sie sich festlegen. Insofern gibt es aus unserer Sicht
keine Bestätigung dafür, dass er sich tatsächlich hier aufgehalten hat. Rodrigo Ferreira war viele Jahre Angestellter von Börnsen. Er behauptet, an dem in Ihrer Anfrage genannten Tag von Faro nach Hamburg
und wieder zurück geflogen zu sein. Eine schlüssige Erklärung für seinen kurzen Aufenthalt in Deutschland konnte er allerdings nicht geben. Dazu
müssen Sie wissen, dass Senhor Ferreira äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit mit Börnsen hat. Er könnte ihm seinen Ausweis geliehen und ihm damit die Möglichkeit gegeben haben, mit falscher Identität zu reisen.
Ich hoffe sehr, dass es Ihnen gelingt, Erik Börnsen der Tat zu überführen, derer sie ihn beschuldigen. Mir war es leider nicht vergönnt, ihn vor Gericht zu bringen, obwohl ich der Überzeugung war, es mit einem Mörder zu tun zu haben. Der Fall liegt etliche Jahre zurück. Im Jahr 2005 hat es hier einen spektakulären »Unfall« gegeben, bei dem die deutsche Lebensgefährtin von Börnsen getötet wurde. Sie ist mit ihrem Wagen von der Straße abgekommen und die Steilküste hinabgestürzt. Da sie stark alkoholisiert war, sind die örtlichen Kollegen – leider auch der Staatsanwalt – von einem Verkehrsunfall ausgegangen. Meine Hinweise auf Spuren, die eine
andere Schlussfolgerung nahelegten, wurden als nicht ausreichend angesehen. Möglicherweise spielten dabei auch sachfremde Erwägungen eine Rolle. Ich wurde kurze Zeit später versetzt. Eine Kopie des Unfallprotokolls lasse ich Ihnen ebenfalls
zusenden.
Nun, da ich vor meiner Pensionierung stehe, wünsche ich mir die späte Genugtuung, Börnsen in naher Zukunft hinter Gittern zu wissen. Für eine entsprechende Nachricht zu gegebener Zeit wäre ich sehr dankbar.
Mit freundlichen Grüßen
José Cardozo, Capitán PJ
»Wow!« Marie blies die Backen auf und ließ hörbar die Luft entweichen. »Wenn das nicht Katharina Blessing ist. Ich meine war.«
»Von wem sprechen Sie?« Kriminalrat Lütgen schien irritiert.
»Von der Toten, die der portugiesische Kollege erwähnt hat. 2002 ist mit Erik Börnsen eine junge Frau verschwunden. Sie galt – wie er – als Opfer des Untergangs der Yacht Seeteufel. Da es dieses Unglück gar nicht gegeben hat, ist sie wohl mit ihm nach Portugal gegangen. Schade,
dass der Kollege ihren Namen nicht erwähnt. Aber der steht sicher im Unfallprotokoll.«
Jan Feddersen legte das Blatt auf den Tisch. »Für mich ist die Sache klar. Börnsens Alibi hat sich aufgelöst und wahrscheinlich hat er nicht nur seinen Vater, sondern auch diese
Katharina Blessing auf dem Gewissen.«
»Benjamin Wedemeyer womöglich ebenfalls«, fügte Marie hinzu. »Die Version vom Unfall an Bord erscheint mir wenig glaubhaft. Aber ein Tötungsdelikt können wir ihm nicht nachweisen, weil die einzige mögliche Zeugin nicht mehr lebt.«
»Wie auch immer.« Kriminalrat Lütjen griff nach dem Ausdruck. »Mit den amtlichen Unterlagen, die dieser Capitán Cardozo ankündigt, kann die Staatsanwaltschaft Anklage erheben. Ich rufe gleich in Stade an.« Mit dem Zeigefinger deutete er auf Marie und Jan Feddersen. »Und Sie beide machen sich auf den Weg zu Erik Börnsen und nehmen ihn vorläufig fest.«
Marie erhob sich. »Mit Vergnügen. Komm, Jan! Auf zum Hotel Alte Liebe!«
*
»Er scheint zu Hause zu sein.« Jan Feddersen deutete nach vorn, während er den Dienstwagen langsam auf das Hotel zurollen ließ. »In der Einfahrt steht sein Auto beziehungsweise der seines Vaters. Das schwarze
SUV.«
Marie nickte. »Und da kommt Joana Santos. Sie geht auf das Auto zu. Wir können sie gleich mitnehmen. – Warte! Halt mal an! Vielleicht ist sie in Börnsens Auftrag unterwegs. Wäre interessant zu sehen, wohin sie fährt.«
»Aber wir wollen Börnsen festnehmen«, wandte ihr Kollege ein.
»Machen wir ja auch. Später. Der läuft uns nicht weg. Lass uns erst mal der Santos folgen.«
»Was versprichst du dir davon?«
»Nichts Konkretes. Aber ich muss immer wieder an Julia Jacobs denken. Börnsen benutzt die Santos, um auf sie Druck auszuüben. In einer ganz perfiden Art. Indem die beiden den Eindruck erwecken, Leonie
Jacobs jederzeit in die Hand bekommen zu können. Deshalb ist das Mädchen jetzt bei meinen Eltern. Das wissen sie aber nicht. Also müssen sie herausfinden, wo sich das Kind befindet.«
»Okay.« Jan Feddersen wendete. »Dann schauen wir mal, wohin sie fährt. Vielleicht will sie ja nur einkaufen.«
In gebührendem Abstand folgten sie dem SUV. Santos steuerte weder das Stadtzentrum noch
einen Supermarkt an. »Anscheinend will sie nach Süderwisch«, stellte Marie kurze Zeit später fest. »Das ist ja interessant.«
»Warum?« fragte Jan.
»In Süderwisch wohnt Monika Jacobs, Leonies Großmutter. Im Drangstweg. Bei ihr war das Kind, bis wir es abgeholt und nach
Otterndorf gebracht haben.«
Wenig später deutete Marie nach vorn. »Sie parkt vor dem Eingang. Halt an! Wir warten, bis sie reingegangen ist.«
Sobald Joana Santos geklingelt und das Haus betreten hatte, folgten ihr die
Ermittler. Nachdem ihnen ein freundlicher Bewohner geöffnet hatte, hasteten sie die Treppe hinauf und fanden Monika Jacobs’ Wohnungstür. Jan drückte den Klingelknopf.
»Es hat geläutet.« Monika Jacobs, die wegen ihrer Krücken nicht hatte verhindern können, dass die Besucherin in ihre Wohnung eindringen konnte, wandte sich zum
Flur. »Das wird meine Nachbarin sein. Sie wollte mir …«
Mit einer raschen Bewegung trat die Fremde gegen eine der Gehhilfen. Sie
polterte zu Boden. »Hierbleiben!«
Monika Jacobs wankte. Rasch entriss die Frau ihr auch die zweite Krücke. »Wo ist Leonie?«, zischte sie. »Antworten Sie! Oder ich muss Ihnen wehtun.« Mit der Gehhilfe stieß sie gegen den verbundenen Fuß.
»Bei einer Freundin meiner Tochter«, stöhnte Monika Jacobs. »Aber ich weiß nicht, bei welcher. Und wenn ich’s wüsste, würde ich es Ihnen nicht sagen. Sie arbeiten für Börnsen und haben sich an meine Enkelin herangemacht. Sie sollten sich schämen, Sie …«
Erneutes Klingeln und Klopfen an der Wohnungstür unterbrach sie. Gedämpfte Stimmen drangen hindurch. »Aufmachen! Polizei. Wenn Sie nicht öffnen, brechen wir die Tür auf.«
Die fremde Frau sah sich hektisch um, entdeckte die offene Balkontür, ließ die Krücken fallen und rannte hinaus.
»Moment! Ich komme«, rief Monika Jacobs, bückte sich nach den Gehhilfen, humpelte zur Tür und öffnete. »Sie ist über den Balkon!«
»Feddersen, Kriminalpolizei«, sagte ein junger Mann und drängte sich an ihr vorbei. Seine Begleiterin drehte sich wortlos um und hastete
die Treppe hinunter.
Als Marie aus der Haustür stürmte, öffnete Joana Santos gerade die Tür des SUV. Sie musste wie eine Katze am Fallrohr hinuntergeklettert oder aus großer Höhe gesprungen sein. »Halt! Polizei«, rief Marie und zog ihre Dienstwaffe. »Stehen bleiben!«
Joana Santos duckte sich, versuchte, in gebückter Haltung in den Wagen zu klettern. Marie senkte die Pistole, zielte auf die
Reifen. Weit würde sie nicht kommen. Schon war das Geräusch des Anlassers zu hören. In dem Augenblick tauchte Jan Feddersen hinter dem Haus auf, sprintete zum
Wagen und richtete seine Waffe auf die Windschutzscheibe.
Langsam hob Joana Santos beide Hände.
»Der Wagen«, flüsterte sie, nachdem Marie und Jan sie in ihr Dienstfahrzeug verfrachtet hatten. »Erik braucht ihn.«
»Kein Problem«, entgegnete Jan Feddersen. »Ich glaube zwar nicht, dass Herr Börnsen den in nächster Zeit benötigen wird, aber ich wollte schon immer mal so eine aufgeblasene Klotzkiste
fahren.« Er streckte die Hand aus.
Zögernd übergab sie ihm den Schlüssel. »Und was passiert mit mir?«
»Wir nehmen Sie mit zur Vernehmung. Auf dem Weg zur Dienststelle sammeln wir noch
Ihren Lebensgefährten ein. Sie begleiten uns freundlicherweise, damit wir ohne Umweg in die
Wohnung kommen und ihn überraschen können.«
*
Von der Tiefgarage des Hotels fuhren sie mit dem Lift direkt ins Penthouse. Sie
trafen Erik Börnsen an der Küchenzeile, wo er mit einer Flasche Wein und einem Korkenzieher neben einer
offenen Schublade stand. Sichtlich verblüfft und mit offen gezeigtem Unmut musterte er die Ankömmlinge. »Was soll das?«, knurrte er. »Belästigen Sie jetzt auch meine Angestellten?«
»Wer hier wen belästigt«, erwiderte Marie, »wird sich noch herausstellen. Diese Dame ist, wie wir inzwischen wissen, nicht
nur Ihre Angestellte. Aber darum geht es jetzt nicht. Auch nicht um Ihre
gemeinsame Vorgeschichte in Portugal. Frau Santos war gerade in Ihrem Auftrag
unterwegs, um den Aufenthaltsort von Leonie Jacobs herauszufinden. Damit Sie
Frau Jacobs unter Druck setzen können. Das ist schon mal versuchte Erpressung. Aber auch darum geht es uns im
Augenblick nicht. Sondern um ein Tötungsdelikt.«
Börnsen stellte die Flasche ab und ließ die Hand mit dem Korkenzieher sinken. »Wollen Sie hier jemanden beschuldigen? Sind Sie noch zu retten?«
»Nicht irgendjemanden«, warf Jan Feddersen ein, »sondern Sie! Ich nehme Sie vorläufig fest. Wegen des Verdachts, Ihren Vater getötet zu haben. Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern und einen
Verteidiger …«
Mit einem schrillen Lachen unterbrach Börnsen die Belehrung. Er trat auf die Gruppe zu, packte Joana Santos am Arm, riss
sie zu sich heran, hatte plötzlich ein Messer in der Hand. Dessen Spitze richtete er gegen ihren Hals. »Hier wird niemand verhaftet«, schrie er. »Gehen Sie zurück! Waffen auf den Boden!«
Marie erkannte die Entschlossenheit in Börnsens Blick, zog langsam ihre Dienstwaffe aus dem Holster und legte sie auf dem
Fußboden ab. Jan zögerte.
»Sie auch!«, schrie Börnsen und ritzte mit der Messerspitze die Haut seiner Geisel, sodass ein
blutiges Rinnsal entstand. Joana Santos reagierte mit einem unartikulierten
Laut. Marie sah ihren Kollegen an und nickte kaum merklich. Wie in Zeitlupe
legte auch Jan seine Pistole nieder und trat einen Schritt zurück.
Börnsen hob die Waffen auf, steckte eine in den Gürtel und warf die andere in den Müllschlucker. »Wir verabschieden uns jetzt«, verkündete er, schob seine Geisel vor sich her in Richtung Lift. »Wenn mir einer zu nahekommt, steche ich sie ab.«
»Er hat den Wagenschlüssel«, flüsterte Joana Santos und deutete vorsichtig mit einer Kopfbewegung auf Jan
Feddersen.
»Her damit!«, rief Börnsen.
Jan warf ihm den Schlüssel zu, den dieser geschickt mit der freien Hand auffing. Im nächsten Augenblick schloss sich die Tür der Kabine.
»Los! Wir nehmen die Treppe.« Im Laufen nahm Marie ihr Smartphone ans Ohr. »Brauchen dringend Verstärkung. Schnell. Hotel Alte Liebe. Tatverdächtiger Erik Börnsen entzieht sich Festnahme durch Flucht. In Begleitung einer weiblichen
Person. Vermutlich benutzt er einen dunklen SUV. Ende.«
»Ich versuche, die Ausfahrt der Tiefgarage mit dem Dienstwagen zu versperren«, rief Jan, während sie die Stufen hinunterhasteten.
Marie nickte. »Gute Idee! Ich kümmere mich um die Kollegen. Und verscheuche Passanten und andere Unbeteiligte.« Sie erreichten das Erdgeschoss, durchquerten im Laufschritt die Hotelhalle. Vor
dem Haus war alles ruhig. Jan rannte zum Dienstwagen, Marie hielt Ausschau nach
Einsatzfahrzeugen. Auf der Straße näherte sich langsam ein dunkelgrüner Geländewagen dem Hotel. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, ein solches Fahrzeug
kürzlich gesehen zu haben. Ihr Blick wanderte zwischen Jan, der sich gerade hinter
das Steuer warf, und der Ausfahrt der Tiefgarage hin und her. Würde er es schaffen, die Fahrbahn zu blockieren? Kam er aus der Parklücke, bevor der Landrover ihn daran hindern konnte?
In dem Augenblick, als der Motor des Dienstwagens aufheulte, schoss Börnsens schwarzer SUV die Auffahrt herauf, stoppte vor der Schranke, die sich
langsam öffnete. Marie biss sich auf die Lippen. Es kam jetzt auf Sekunden an. Wo blieb
Jan? Sie stöhnte auf, als sie erkannte, dass der grüne Geländewagen mitten auf der Straße stehen geblieben war und keine Anstalten machte, den Weg freizugeben.
Die Schranke war oben, Börnsen ließ den Wagen anrollen, beschleunigte rasch, wich auf den Gehsteig aus, um den
Landrover zu passieren. Vor ihrem inneren Auge sah Marie ihn durch die Stadt
rasen, in den Verkehr eintauchen und verschwinden. Sie und Jan hatten versagt.
In dem Augenblick fielen unmittelbar hintereinander zwei Schüsse.
Der schwarze SUV brach aus der Spur, krachte gegen einen Pfosten, kippte auf die
Seite, blieb schließlich auf dem Dach liegen. Der Motor heulte auf und erstarb. Eine Qualmwolke
stieg auf.
Marie lief los. Jan war aus dem Dienstwagen gesprungen und kam ebenfalls
angerannt. Er riss die Fahrertür auf und zog als Erstes die Pistole aus Börnsens Gürtel. Dann zerrten sie gemeinsam die Insassen aus dem Fahrzeug. Sie waren
benommen, aber äußerlich unverletzt.
»Jetzt können Sie ihn festnehmen«, rief hinter ihnen eine männliche Stimme. Neben dem Landrover stand ein Mann, in der Hand ein Jagdgewehr.
Berend Börnsen.
»Das hat ein Nachspiel«, rief Marie über die Schulter. »Legen Sie die Waffe weg!«
Bereitwillig stellte Berend Börnsen das Gewehr zur Seite. »Ich habe nur auf die Reifen geschossen«, betonte er, offensichtlich gut gelaunt. »Die Folgen nehme ich gern in Kauf.« Mit zufriedenem Ausdruck sah er zu, wie sich Handschellen um die Gelenke von
Erik Börnsen und Joana Santos schlossen.
Inzwischen waren mehrere Streifenwagen aufgetaucht. Zwei uniformierte Polizisten
kamen auf sie zu, zwei weitere begannen, die Unfallstelle mit Flatterband
abzusperren.
»Die Herrschaften bringt ihr bitte zur Vernehmung in die Dienststelle«, ordnete Hauptkommissar Feddersen an. »Setzt sie in verschiedene Räume und behaltet sie im Auge, wir kommen gleich nach. Haben hier noch was zu klären.« Er stieß Marie in die Seite.
Sie nickte. »Die Dienstwaffe«, flüsterte sie kaum vernehmbar. »Wir müssen sie aus dem Müllcontainer fischen. Ich glaube, es ist meine.«
»Egal«, erwiderte Jan. »Ich gehe da rein. Du stehst Schmiere. Wenn jemand fragt, suchen wir nach
Beweismitteln. Okay?«
*
»Danke, Jan«, sagte Marie, als sie wieder im Wagen saßen und in Richtung Dienststelle fuhren. »Danke, dass du in den Abfall gekrochen bist.«
»Da nich für«, erwiderte ihr Kollege. »Hauptsache, wir haben beide unsere Waffen wieder. Wär’ ja sonst oberpeinlich. Die Santos mit nach oben ins Penthouse zu nehmen, war
ein fundamentaler Fehler. Hätte uns nicht passieren dürfen. Aber den müssen wir ja niemandem auf die Nase binden.«
Marie lächelte und ließ die Fensterscheibe herab. »Apropos Nase …«
»Ich weiß«, unterbrach Jan sie. »Ich stinke wie ein Biber. Aber das müssen wir jetzt aushalten.«
Vor dem Dienstgebäude stand ein BMW mit Stader Kennzeichen. Marie deutete auf den Wagen. »Kackfrech im Halteverbot. Sieht nach Krebsfänger aus. Der muss mit Höchstgeschwindigkeit über die B 73 gefegt sein. Mich wundert, dass der Mann noch seinen Führerschein hat. So wie der fährt …«
Jan zuckte mit den Schultern. »Hauptsache, er hat sich um einen Haftbefehl gekümmert. Oder er beantragt ihn noch. Am besten für Joana Santos gleich mit. Ich bin davon überzeugt, dass die beiden die Übernahme des Hotels gemeinsam geplant haben. Börnsen hat sie vor drei Monaten vorgeschickt, damit sie alles auskundschaften
konnte. Bin gespannt, was sie aussagt. Ob sie noch zu ihrem Lebensgefährten hält oder ihn über die Klinge springen lässt.«
»Nach der Szene heute«, vermutete Marie, »dürfte ihr klar geworden sein, welche Rolle sie gespielt hat. Sie war sein
Instrument.«
*
»Sie können mir nichts nachweisen«, erklärte Erik Börnsen eine gute Stunde später großspurig. »Vorhin – das war eine Panikreaktion, die Sie provoziert haben.« Er deutete auf Marie Janssen und Jan Feddersen. »Mit dem Tod meines Vaters habe ich nichts zu tun. Sie sollten sich um Julia
Jacobs kümmern. Die war zu dem Zeitpunkt auf dem Dach.«
Er hockte auf einem Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches, seine Handgelenke waren auf dem Rücken fixiert. Neben den Ermittlern saßen Kriminalrat Lütjen und Staatsanwalt Krebsfänger. Beide zogen hin und wieder die Nase kraus und sogen unauffällig Luft ein.
»Mit dem letzten Satz haben Sie Recht«, bestätigte Marie Janssen und nahm ihr Smartphone zur Hand. »Frau Jacobs war tatsächlich dort. Weil Frau Santos sie in Ihrem Auftrag dorthin bestellt hat.
Allerdings ist sie erst nach der Tat auf dem Hoteldach erschienen. Vorher hat
sich das hier abgespielt«. Sie tippte auf das Display. »Erkennen Sie die Personen? Es gibt auch ein Foto. In besserer Qualität.«
Mit sichtlichem Widerwillen verfolgte Börnsen das Geschehen im Video. »Die Aufnahme«, erklärte Marie, »ist am Tattag um neun Uhr sechsundfünfzig entstanden. Sie zeigt, dass Sie zu diesem Zeitpunkt hier waren.«
Börnsen schüttelte den Kopf. »Ich bin darauf nicht zu erkennen. Außerdem war ich in Portugal. Dafür gibt es Zeugen.«
»Leider nicht«, widersprach Jan Feddersen. »Die von Ihnen benannten Personen können Ihr Alibi nicht bestätigen.« Er hielt einen Schnellhefter hoch. »Stattdessen haben wir die Aussage von Frau Joana Santos. Sie bestätigt die Szene auf dem Dach.«
Börnsen sprang auf. »Das glaube ich nicht«, schrie er.
»Hinsetzen!«, knurrte Kriminalrat Lütjen drohend.
»Nach ihrer Aussage«, fuhr Feddersen ungerührt fort, »sind Sie handgreiflich geworden und haben Ihrem Vater einen Stoß versetzt, der ihn über das Geländer stürzen ließ. Außerdem haben wir eine Analyse des Landeskriminalamts, die Ihre DNA nachweist. Sie
stammt aus einem Arbeitshandschuh, den wir auf dem Dach gefunden haben.«
Bei Feddersens Worten war Börnsen blass geworden. Wütend starrte er ihn an, seine Kiefer mahlten. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. »Ich will einen Anwalt«, stieß er schließlich hervor.
»Wäre wohl auch angebracht.« Der Staatsanwalt schob ein Blatt über den Tisch. »Das ist ein Haftbefehl.« Dann wandte er sich an Marie. »Sie können den Herrn jetzt abführen lassen.«
Nachdem Börnsen durch zwei uniformierte Beamte hinausgeleitet worden war, wandte sich Krebsfänger an Kriminalrat Lütjen. »Riecht das hier immer so streng?«
Der Lütte schüttelte den Kopf, trat an das vergitterte Fenster und öffnete es. »Ich kann mir das auch nicht erklären. Normalerweise …«
»Das bin ich«, gab Jan Feddersen zu. »Im Hotel … ich musste … den Müllcontainer durchsuchen. Wegen …« Er sah Marie Hilfe suchend an.
»Beweismittel«, sagte sie rasch. »Es sah so aus, als hätte Börnsen, als wir ihn festnehmen wollten, einen Gegenstand im Müllschlucker verschwinden lassen. Danach haben wir … hat Kollege Feddersen gesucht. War aber nichts.«
»Na ja.« Krebsfänger hob die Schultern. »Die Umstände der Festnahme erscheinen mir ohnehin etwas fragwürdig. Aber das klären Sie bitte mit Ihrem Vorgesetzten. Ich muss jetzt los.« Er verabschiedete sich und wandte sich zum Gehen. In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Gute Arbeit!«
»Danke!«, rief Kriminalrat Lütjen ihm nach und wandte sich an Marie und Jan. »Das Lob gilt Ihnen. Was den Ablauf der Festnahme betrifft – die Einzelheiten besprechen wir später. Wenn Ihr Bericht vorliegt.«
Nachdem er den Raum verlassen hatte, griff Marie zu ihrem Smartphone. »Erst mal rufe ich Julia Jacobs an. Sie kann ihre Tochter abholen.«
»Und dann?«, fragte Jan.
»Dann machen wir Feierabend und treffen uns mit Klaus-Peter Christiansen und
Konrad Röverkamp. Die haben sich eine Einladung zum Essen verdient.«
Ende