Kapitel 5
Energisch schüttelte Joana Santos den Kopf. »Mein … Lebensgefährte und ich sind seit … vierzehn Jahren zusammen. Und Herr Börnsen ist … war verheiratet.«
Marie lächelte. »Affären am Arbeitsplatz werden durch den Familienstand nicht unbedingt verhindert.«
»Wir müssen dieser Frage auf den Grund gehen, denn wir können einen Mord nicht ausschließen«, warf Jan Feddersen ein und ließ sich nicht von dem entsetzten Blick der Angestellten beirren. »Wer, Frau Santos, hat im Gegensatz zu Ihnen schon länger mit Ralf Börnsen zusammengearbeitet und kann uns vielleicht Hinweise zum – sagen wir – hausinternen Beziehungsgeflecht geben?«
»Da wüsste ich im Augenblick niemanden. Sie können sich natürlich mit jedem Mitarbeiter unterhalten. Die meisten Kolleginnen und Kollegen können Ihnen mehr über gescheiterte als existierende Beziehungen erzählen. In der Gastronomie ist es nicht leicht, eine Partnerschaft zu pflegen. Beim Personal gibt es das, was Sie eine Affäre nennen, häufig. Die spielen sich allerdings gewöhnlich innerhalb der jeweiligen sozialen Gruppierung ab.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Marie legte eine Visitenkarte Tisch. »Was wir jetzt noch von Ihnen brauchen, ist ein möglichst genauer Tagesablauf ihres Chefs. Außerdem wüssten wir gern, mit wem er zuletzt gesprochen oder telefoniert hat. Könnten Sie das aufschreiben und uns mailen?«
»Selbstverständlich.« Joana Santos’ Blick wanderte von einem zum anderen. »War das schon alles?«
Marie zog ihr Smartphone hervor. »Wer kann uns Auskunft über die familiären Verhältnisse geben?«
»Wenn Sie jemanden suchen, der wirklich Bescheid weiß, sollten Sie sich mit Berend Börnsen in Verbindung setzen. Das ist der Vater von unserem Herrn Börnsen. Er ist gerade achtzig geworden, aber total fit. Nach meinem Eindruck hält er noch alle Fäden des Familienbetriebs zusammen.«
»Danke.« Marie gab den Namen ein. »Die wichtigste Frage«, fuhr sie fort, »fehlt noch. Haben Sie eine Idee oder einen Hinweis für uns zu einem möglichen Täter? Gab es auffälliges Verhalten von Herrn Börnsen? Und nicht zuletzt – hatte er Feinde im geschäftlichen Umfeld, zum Beispiel bei Geschäftspartnern oder Konkurrenten?«
»Ich weiß nicht, ob er Feinde hatte«, antwortete Joana Santos. »Die Cuxhavener Hoteliers sind zwar Konkurrenten, aber oft halten sie auch zusammen, zum Beispiel, wenn es um die Durchsetzung gemeinsamer Interessen gegenüber der Stadt geht. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass jemand aus der Branche …« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Und an seinem Verhalten ist mir nichts aufgefallen. Außer …« Sie brach ab und schloss kurz die Augen. »Heute hatte er Besuch. Eine Frau. Kurz bevor … Er hat sie oben empfangen, in der Wohnung. Das macht … das hat er sehr selten gemacht.«
Marie griff erneut nach ihrem Smartphone. »Wer war die Dame?«
Bedauernd breitete Joana Santos die Arme aus. »Das war privat. Sie hatte eine Chipkarte für den Aufzug und ist direkt nach oben gefahren. Die muss Börnsen ihr persönlich gegeben haben. Einen Eintrag im Terminkalender gab es jedenfalls nicht.«
»Aber Sie werden sie beschreiben können«, vermutete Jan Feddersen.
»Leider nicht«, entgegnete die Direktionsassistentin. »Ich habe sie nur ganz kurz und nur von hinten gesehen, als sie in den Fahrstuhl stieg. Ungefähr Ihre Größe und Statur, halblange dunkelblonde Haare. Sie trug eine helle Hose und ein blaues T-Shirt. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
Marie leerte ihr Glas und stand auf. »Die unbekannte Besucherin könnte eine wichtige Zeugin sein. Auch deshalb müssen wir jetzt schnell Ihre Kolleginnen und Kollegen befragen.«
Joana Santos nickte. »Soll ich sie zu Ihnen schicken?«
»Ja«, antwortete Jan Feddersen. »Das wäre sehr freundlich.«

*
Die Befragung des Personals ergab keine nennenswerten Erkenntnisse. Niemand hatte die Frau, die ihren Chef zur Tatzeit oder kurz davor besucht hatte, wirklich wahrgenommen. Auch die Frage nach innerbetrieblichen Konflikten wurde verneint. Und die Zusammenarbeit zwischen Börnsen und Joana Santos wurde von allen als gut und effizient bewertet, niemand äußerte den Verdacht, es habe zwischen den beiden mehr als eine professionelle Beziehung bestehen können. Als Marie Janssen und Jan Feddersen Börnsens Büro verließen, trafen sie auf die Kriminaltechniker, die mit ihren Metallkoffern vom Dach des Hotels zurückkehrten.
»Habt ihr noch was gefunden?«, fragte Marie hoffnungsvoll.
Bedauernd schüttelte Hauptkommissar Damme den Kopf. »Tut mir leid. Die Ausbeute ist mager. Vielleicht ergibt sich morgen noch was. Wenn wir die Faserspuren ausgewertet und in der AFIS-Datenbank nach den Fingerabdrücken gesucht haben.« Er gab seinen Leuten ein Zeichen und verließ mit ihnen die Hotelhalle.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Jan Feddersen. »Sollen wir heute noch den alten Börnsen befragen?« Er deutete zum Ausgang, von wo sich mit schnellen Schritten Felix Dorn näherte. »Oder führen wir jetzt ein Pressegespräch?«
»Ganz sicher nicht«, antwortete Marie und verdrehte die Augen. »Ich habe ihm gesagt, er soll sich gedulden. Aber du kennst ihn ja. Wenn er eine Story wittert …«
»Hallo, ihr beiden«, unterbrach Felix sie. »Moin, Jan. Gibt es schon Erkenntnisse über den Tathergang oder Hinweise auf einen Täter? War es Selbstmord?«
Marie holte tief Luft, um eine passende Antwort zu geben. Doch Jan Feddersen kam ihr zuvor. »Moin, Felix«, grinste er. »Schön dich zu sehen. Aber ich fürchte, du kommst zu früh.« Er hob die Stimme und schlug einen amtlichen Ton an. »Zu laufenden Ermittlungen können wir keine Auskunft geben und verweisen auf die Pressestelle der Polizeiinspektion Cuxhaven. Morgen steht unsere Sprecherin, Frau Hauptkommissarin Anne Lüken, allen Medienvertretern für aktuelle Informationen zur Verfügung.«
Der Redakteur schnappte nach Luft. »Ihr wollt mich doch nicht wirklich hier mit Sprüchen abspeisen. Wenigstens die Frage nach dem Tathergang könnt ihr beantworten. Bestimmt gibt es Zeugen, die etwas gesehen oder vielleicht sogar gefilmt haben. Denkbar, dass sich der ein oder andere bei uns meldet.« Er deutete zum Empfang. »Oder ich frage hier die Leute. Vielleicht gibt es schon ein Video im Internet. Das kann nicht in eurem Interesse sein. Außerdem …«
»Was außerdem?«, fuhr Marie wütend dazwischen. »Ich habe dir gesagt, dass ihr euch frühestens nach drei Stunden melden sollt.« Sie tippte auf ihre Armbanduhr. »Jetzt ist gerade mal die Hälfte davon um.«
Entschuldigend hob Felix Dorn die Hände. »Sei nicht so streng, Marie! Ich lasse euch ja gleich in Ruhe und mache meine eigenen Recherchen. Falls ich auf interessante Informationen stoßen sollte, stehe ich euch gern zur Verfügung.« Sein Ausdruck wurde spöttisch. »Selbstverständlich sind wir kooperativ.«
»Was wolltest du noch sagen?«, fragte Jan Feddersen. »Außerdem …?«
Felix winkte ab. »Ich wollte nur daran erinnern, dass es schon Fälle gegeben hat, bei denen wir mit Informationen aus unserem Archiv oder mit Nachforschungen, die euch nicht erlaubt sind, zur Klärung beitragen konnten.«
»Da ist was dran«, kommentierte Jan, bevor Marie eine bissige Antwort geben konnte. »Ich denke, es spricht nichts dagegen, wenn ich dir kurz erkläre, was passiert ist.« Er wandte sich an seine Kollegin. »Oder?«
Marie schlug die Arme unter und presste die Lippen zusammen. »Wenn du meinst,« stieß sie schließlich hervor.

*
Eriks Besuch war Julia auf den Magen geschlagen. Sie hätte nicht sagen können, wie viel Zeit seitdem vergangen war. Voller innerer Unruhe war sie durch die Wohnung getigert, hatte sinnlos Sachen hin- und hergeräumt. In der Küche hatten sich die Reste ihres Müslis zu einer grauen Pampe verbunden, die Nuss-Nougat-Creme war auf dem Toast eingetrocknet. Angeekelt leerte sie Teller und Schale in den Mülleimer, spülte das Geschirr unter laufendem Wasser ab und ließ es achtlos in der Spüle stehen. Die Eindrücke vom Abend und vom Vormittag ließen sich nicht verbannen.
Immer wieder tauchten die Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Die Angestellte, die ihr die Chipkarte überreichte, der Weg zum Hotel, ihr Gang durch die Penthouse-Wohnung, der Blick über das Geländer nach unten. Der Anblick des leblosen Mannes auf dem Pflaster war besonders hartnäckig, schob sich gegen Julias Willen immer wieder in den Vordergrund. Und die Begegnung mit Erik. Von ihm, spürte sie, ging eine Bedrohung aus. Wenn er es war, der den alten Börnsen umgebracht hatte, würde er nicht zögern, auch gegen sie Gewalt anzuwenden. Und gegen Leonie. Der Gedanke verursachte ihr Übelkeit und Magenschmerzen. Erik schien die Kindergarderobe im Flur gar nicht bemerkt zu haben, wusste also nicht, dass sie eine Tochter hatte. Aber herausfinden konnte er es. Er brauchte nur das Haus zu beobachten.
»Ich muss mir etwas einfallen lassen«, murmelte sie. »Leonie darf nicht in Gefahr geraten.« Ihrer Mutter durfte sie das Kind nicht länger als ein paar Tage zumuten. Vielleicht konnte sie anschließend bei einer Freundin bleiben. Das hatte sich ihre Tochter schon öfter gewünscht.
Julia zuckte zusammen, als im Flur ihr Smartphone zu klingeln begann. Die Melodie verriet ihr, dass es weder eine ihrer Freundinnen noch ihre Mutter sein konnte. Sie stürzte zum Schuhschrank. Anonymer Anrufer. Ahnungsvoll meldete sie sich mit einem zaghaften »Hallo?«
»Wollte nur mal hören, ob unsere Verbindung funktioniert. Hatte ja angekündigt, dass wir in Kontakt bleiben.« Erik kicherte. »Meine Nummer kann ich dir leider nicht geben. Aber ich frage wieder nach. Ich meine, falls du es dir anders überlegst und Lust auf einen netten Abend hast.«
»Das kannst du dir sparen«, fauchte Julia. »Von dir will ich nichts hören und nichts sehen.«
»Was nicht ist, kann ja noch werden. Vergiss jedenfalls nicht, was ich dir gesagt habe! Ich behalte dich im Auge. Wenn du Dummheiten machst, überlege ich mir, ob ich nicht doch auf … deine … Einwilligung verzichten kann. Tschüss, Seeteufelchen. Ich melde mich bald wieder.« Es knackte. Verbindung beendet erschien auf dem Display. Angewidert legte Julia das Smartphone aus der Hand. Seeteufelchen – so hatte er sie genannt, wenn Kathi und Benny nicht in der Nähe waren. Diesen Namen hatte er geraunt und sie in Richtung Kabine gezogen. Warum hatte sie nicht sofort Widerstand geleistet? Warum hatte sie sich auf ein Spiel eingelassen, dessen Regeln sie nicht bestimmen konnte?

2002
Trotz ihrer von Bier und Schnaps benebelten Sinne vernahm sie eine innere Stimme, die sie davor warnte, Erik zu folgen. Julia ahnte, worauf er hinauswollte, ließ sich dennoch treiben, verdrängte die aufblitzenden Signale. In ihrem Kopf dröhnten Fragmente der Musik aus der Diskothek, kreisten Bilder von wogenden Wellen eines Meeres, dessen Horizont von einer Schräglage in die andere kippte. Auch das Boot schwankte. All die seltsamen Erscheinungen machten ihr nichts aus. Sie fühlte sich wie auf einer Wolke, erhitzt und leicht, schwebte, trällerte Takte aus Shakiras Whenever, Wherever. Julia schob alle Bedenken beiseite, genoss Eriks ungezügeltes Begehren, seine Berührungen und fordernden Gesten, die festen Griffe, mit denen er sie entkleidete, gab sich dem Rausch des verbotenen Abenteuers hin, ließ ihn gewähren, als er sie in die Koje drückte und sich auf sie warf. Im letzten Augenblick blitzte ein Signal auf, sie sah Benny vor sich, zuckte zurück, doch da spürte sie Erik bereits in sich, ergab sich dem unwillkürlichen Reflex ihres Körpers.
Erik bewegte sich wie eine Maschine, gleichzeitig umfassten seine Hände ihren Hals, drückten ihr mehr und mehr die Luft ab. Atemnot ließ sie röcheln. Unwillig zerrte sie an seinen Unterarmen, wandte den Kopf, wollte schreien, bekam aber keinen Laut heraus. Verzweifelt schlug sie auf ihn ein, versuchte, seinen Bewegungen auszuweichen, strampelte mit den Beinen, zerrte an seinen Haaren. Doch ihre Kräfte ließen nach, reichten nicht, um sich aus der Umklammerung zu befreien oder dem Rhythmus seines Körpers auszuweichen, der sich schneller und schneller zu bewegen schien, während sie gegen das Schwinden ihres Bewusstseins ankämpfte. Plötzlich stöhnte Erik auf, krümmte sich und sackte auf sie nieder, gleichzeitig lockerte sich sein Griff um ihren Hals. Hastig sog Julia die Luft ein, keuchte, hustete, kam wieder zu Atem, zerrte und drückte an dem Körper herum, dessen Gewicht sie zu erdrücken schien.
Erik hob den Kopf. »Krass«, murmelte er. »Du bist absolut horny und deine …«
»Arschloch!«, krächzte Julia. »Runter von mir, notgeiler Lappen!«
»Hey, Seeteufelchen.« Erik rutschte ein wenig zur Seite. »War’s nicht gut?«
»Voll scheiße!« Julia hatte ihre Stimme wiedergefunden und schrie. »Du hättest mich fast erwürgt.« Sie wand sich unter ihm heraus.
»Ach das.« Erik zuckte mit den Schultern. »Das bringt mich so richtig auf Touren. Ist doch nichts passiert. Einfach nur so poppen ist langweilig. Du hast mich so was von angemacht, da konnte ich nicht anders.«
Mit aller Kraft schlug Julia ihm ins Gesicht. »Jetzt bin ich auch noch schuld, dass du mich beinahe umgebracht hättest? Was bist du für ein Wichser!«
»Mach nicht so ’ne Welle!«, schimpfte Erik. »War ja nur ein Spiel. Du hattest schließlich auch …«
»Ich hatte gar nichts«, schrie Julia. »Wenn es ein Spiel sein sollte, war es ein Scheißspiel!« Hastig raffte sie ihre Sachen zusammen und verließ die Kabine. Ihr Kopf war wieder klar. Sie würde Benny wecken und mit ihm die Seeteufel verlassen. Keinen Augenblick länger würde sie auf der Yacht bleiben.
Benny lag allein in seiner Koje und schnarchte. Kathi hatte anscheinend unverrichteter Dinge die Kabine verlassen. Als Julia an Bennys Schulter rüttelte, gab er einen Grunzlaut von sich, zeigte aber keine weitere Regung. »Wach auf!«, rief sie ihm ins Ohr und zerrte an seinem Arm. »Wir müssen weg.« Er knurrte unwillig, schlug die Augen auf, sah mit glasigem Blick durch sie hindurch, ohne wirklich zu sich zu kommen. In der nächsten Sekunde schnarchte er wieder.
Julia kämpfte mit den Tränen, während sie sich in ihrer Kabine anzog und hastig ihre Reisetasche eher vollstopfte als packte. Zur Not würde sie das Boot ohne Benny verlassen, den Tag auf der Insel ausharren und am späten Nachmittag mit der Wappen von Hamburg nach Cuxhaven zurückkehren. Erneut rüttelte sie an Bennys Schulter, bewirkte aber nicht mehr als eine kurze Unterbrechung des Schnarchtons. Schließlich nahm sie ihre Tasche und verließ die Kabine. In der Yacht war es ruhig, von außen drangen gedämpfte Hafengeräusche herein. Vorsichtig zog sie die Tür hinter sich ins Schloss und schlich zum Aufgang.
Sie erklomm die Stufen zum Deck und trat ins Freie. Ungewohnte Helligkeit schlug ihr entgegen, Sonnenstrahlen tauchten die Insel und ihre Häuser in ein rötliches Licht. Julia achtete nicht auf die Umgebung, wollte so rasch wie möglich das Boot verlassen. Doch etwas war anders. Hatten sie in der Nacht noch vom Kai aufs Deck springen können, lag das Boot inzwischen deutlich tiefer. Fast zwei Meter ragte die Kaimauer hinter dem Heck in die Höhe. Sie brauchte eine Leiter. Hektisch sah sie sich um. Zu einer Yacht wie dieser gehörte eine Gangway. Irgendwo hatte sie so ein Ding gesehen. Sie entdeckte es in einer Halterung, ließ ihre Tasche fallen, öffnete hastig die Verriegelung der Gangway, zog sie heraus und klappte sie auseinander. Dann zerrte sie sie hastig zum Heck und hob ein Ende an, bis es die Kaimauer erreichte. Automatisch kippten Stufen heraus. Sie griff nach ihrer Tasche und setzte einen Fuß auf den untersten Tritt. In dem Augenblick gab es hinter ihr ein Geräusch. Julia fuhr herum.
»Hey«, rief Erik. Er nestelte an seinem Hosenschlitz und starrte sie verständnislos an. »Was soll das? Wo willst du hin?«
Julia antwortete nicht, erklomm rasch die nächsten Stufen. Sekunden später packte eine Hand ihren Fuß. »Bleib hier!« Sie strampelte mit dem Bein, versuchte ihre Fessel aus der Umklammerung zu lösen. »Lass mich!«, schrie sie. »Keine Minute länger bleibe ich auf diesem Boot.« Doch die Hand ließ nicht locker. Voller Wut hob sie ihre Reisetasche an und schleuderte sie nach unten. Sie traf Eriks Kopf. Er stieß einen Fluch aus, sein Griff lockerte sich, Julia entriss ihm ihren Fuß und hastete die letzten Stufen der Gangway hinauf, erreichte die Kaimauer und rannte los.
An den Hummerbuden hielt sie keuchend inne. Ihr Kopf dröhnte, die Augen brannten und ihre Lungen rasselten. Bier und Schnaps vom Vorabend forderten ihren Tribut. Vorsichtig wandte sie sich zum Hafen um. Niemand war ihr gefolgt. Langsam beruhigte sich ihr Atem, und ihr wurde bewusst, dass sie ihre gesamte Habe auf der Yacht zurückgelassen hatte. Voller Panik befühlte sie die Taschen ihrer Jeans. Schlüssel, Portemonnaie und Perso – alles steckte in der Reisetasche.
Julias Magen krampfte sich zusammen, Tränen verschleierten ihren Blick. Wie sollte sie nach Hause kommen? Ohne Geld, ohne Ausweis, ohne Transportmittel. Wenn sie wenigstens ein Handy besäße ... Aber das läge jetzt auch in der Reisetasche. Musste sie zur Seeteufel zurückkehren und Erik um ihre Tasche bitten? Eine demütigende Vorstellung. Würde Benny ihr helfen? Ja, wahrscheinlich. Wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hätte. Und was war mit Katharina? Wäre sie auf ihrer Seite?
Unschlüssig musterte sie die Umgebung. Zu dieser frühen Stunde schien hier noch niemand auf den Beinen zu sein. Julia seufzte. Selbst wenn Helgoländer oder Touristen in der Nähe wären, würde ihr niemand helfen können. Sie hatte nur zwei Möglichkeiten. Zurück zur Yacht gehen oder im Ort um Hilfe bitten. Gab es eine Polizeistation auf Helgoland? Würden die Beamten ihr Glauben schenken? Sie telefonieren lassen? Wen sollte sie anrufen? Ihre Mutter? Unbewusst schüttelte sie den Kopf. Dass sie mit dem gleichaltrigen Sohn des Hotelmanagers Börnsen auf dessen Yacht nach Helgoland segeln würde, hatte sie wohlweislich verschwiegen. Sie müsste ihre Lüge eingestehen und ihre Mutter bitten, sie abzuholen.
Julias Blick wanderte zum Hafen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zur Yacht zurückzukehren. Vielleicht bekam sie ihre Tasche zurück, ohne Erik zu begegnen. Langsam setzte sie sich in Bewegung.
Nach gut zweihundert Metern blieb sie stehen. Eins der typischen Helgoländer Häuser in kräftigem Grün zeigte neben der Tür ein Schild mit der Aufschrift Polizei. Bei ihrer Flucht von der Seeteufel musste sie es übersehen haben. Ob sie hier Hilfe bekam? War um diese Zeit überhaupt schon jemand hier? Sie streckte die Hand nach der Klingel aus, zögerte, drückte schließlich auf den Knopf. Drinnen ertönte ein schnarrendes Geräusch. Aber niemand kam an die Tür, um zu öffnen. Mit hängenden Schultern blieb Julia davor stehen und fragte sich, ob sie zum Hafenkai gehen oder auf einen Polizeibeamten warten sollte.
Hinter ihr quietschte die Bremse eines Fahrrads. Eine Frau, die nur wenig älter als Julia sein mochte, sprang vom Rad und stellte es an der Hauswand ab. Unter einem weißblonden Haarschopf leuchteten freundliche blaue Augen. »Kann ich dir helfen?«
»Ich weiß nicht.« Julia hob die Schultern. »Eigentlich wollte ich …«
»Zur Polizei?« Die Blonde lächelte. »Dann bist du hier richtig.« Sie zog ein Schlüsselbund aus der Tasche und trat an die Tür. »Wenn du dich einen Augenblick gedulden kannst – ich bin gleich für dich da.« Die Tür schwang auf. Mit einer einladenden Handbewegung deutete die Frau ins Innere des Hauses. »Ich heiße Imke. Imke Broders. Und du?«
»Julia.«
»Setz dich, Julia! Ich ziehe mich nur schnell um.«
Wenig später saß Julia der Frau gegenüber, die nun eine Uniform trug. »Ich bin Polizeikommissarin«, erklärte sie. »Meine Kollegen und ich sind hier Schutzpolizei, Wasserschutzpolizei und Kripo zugleich. Was kann ich für dich tun?«
Julia fasste rasch Vertrauen zu der Polizistin und berichtete von ihrer Notlage. Die Details der Vorgeschichte ließ sie weg.
»Dann schauen wir uns die Yacht doch mal an«, schlug Imke vor. »Ich begleite dich. Wir müssen nur einen Moment warten. Bis meine Kollegin da ist.« Sie deutete auf eine Kaffeemaschine. »Möchtest du auch einen?«
Dankbar nickte Julia. Noch vor wenigen Augenblicken hätte ihr Magen rebelliert. Doch das kurze Gespräch mit Imke Broders hatte ihr Nervenkostüm wiederhergestellt. In Begleitung einer Polizeibeamtin konnte ihr nichts geschehen. Sie würde an Bord der Seeteufel gehen, ihre Reisetasche schnappen und die Yacht wieder verlassen. Benny würde sich entscheiden müssen, ob er sie begleiten oder an Bord bleiben wollte. Sofern er inzwischen ansprechbar war.
Kaum hatte Imke zwei Becher mit Kaffee gefühlt, erschien ihre Kollegin. Sie war etwas rundlicher, ebenfalls blond und trug bereits ihre Uniform. »Moin.« Sie streckte Julia die Hand entgegen. »Ich bin Swantje. Willkommen an Bord!«
»Das ist Julia«, erklärte Imke Broders. »Wir beide wollen gleich mal zum Hafenbecken. Es gibt da wohl ein kleines Problem mit einer Yacht.«
»Was Ernstes?«, fragte Swantje.
Ihre Kollegin schüttelte den Kopf. »Sie will nur ihre Sachen abholen. Und ich möchte mir den Skipper ansehen. Wenn wir unseren Kaffee ausgetrunken haben, gehen wir los. Ist das okay für dich?«
Swantje nickte. »Kein Problem.«
Zehn Minuten später wanderten Julia und die Helgoländer Polizistin die Hafenstraße entlang. »Welche ist denn jetzt die Yacht, von der du gesprochen hast?«, fragte Imke Broders, als sie sich der Westkaje näherten. »Die drei, die ich sehe, waren gestern Morgen schon da.«
Julia erschrak, beschleunigte ihre Schritte, streckte den Arm aus und zeigte zum Kai. »Sie muss hier irgendwo sein.«