Kapitel 6
2019
»Ich würde mich jetzt liebend gern mit dem alten Patriarchen Berend Börnsen unterhalten«, erklärte Felix, nachdem er sich bei Jan Feddersen für die Information bedankt hatte. »Aber der spricht nicht mit Medienvertretern, schon gar nicht mit mir. Seit ich
in einem Artikel die ungewöhnlich zügigen Baugenehmigungen für das Hotel Alte Liebe hinterfragt habe, reagiert er nicht mehr auf Anfragen.
Damals war sein Schwiegersohn Christopher Hansen noch Chef. Der saß außerdem, wie der alte Börnsen, im Stadtrat. Die beiden haben offenbar eng zusammengearbeitet. Bis ihr
bei euren Ermittlungen vor ungefähr zehn Jahren darauf gestoßen seid, dass Hansen Anfang der Neunzigerjahre eine Frau ermordet hat. Nach der
Anklage, noch vor dem Urteil, hat der Alte ihn fallengelassen. Hat übrigens lebenslänglich bekommen.«
»Ich erinnere mich. Wir hatten ihn in Verdacht, zwei seiner Gäste ermordet zu haben. Aber die Täterin war eine Frau. Durch deren Geschichte ist Hansens Verbrechen Jahre zuvor
ans Licht gekommen.«
»Genau«, bestätigte Felix. »Seit der Zeit redet Berend Börnsen auch nicht mehr mit Presseleuten.«
Maries Miene hatte sich entspannt. »Frau Santos hat Berend Börnsen ebenfalls erwähnt. Vielleicht sollten wir dem Herrn einen Besuch abstatten. Uns wird er ein
Gespräch nicht verweigern.«
»Du wolltest doch nur mal schauen«, wandte Felix ein. »Was ist mit deinem freien Tag?«
»Den nehme ich ein anderes Mal.« Sie breitete entschuldigend die Arme aus. »Der Fall lässt sich bestimmt schnell aufklären. Und dann …«
»Verstehe.« Felix grinste. »Dann bleibe ich auch dran. An dem Fall, meine ich.« Wortlos hob Marie die Schultern.
Jan Feddersen neigte den Kopf. »Falls Berend Börnsen wirklich so ein harter Knochen ist, wie Felix andeutet, wird’s schwierig. Aber wenn du deinen Charme spielen lässt … Am besten, wir fahren sofort hin. Vielleicht hat ihn noch niemand über den … das Ereignis informiert und wir können ihn mit der Todesnachricht aus der Reserve locken. Das ist zwar nicht nett,
aber vielleicht nützlich.« Er wandte sich an Felix. »Du weißt sicher, wo er wohnt.«
»Klar.« Maries Lebenspartner grinste. »Ich verrate euch die Adresse. Weil … wir von der Presse, wie gesagt, kooperativ sind. Ihr müsst dahin, wo es die teuersten Anwesen gibt, nach Duhnen in den Dünenweg. Die Hausnummer habe ich nicht mehr im Kopf, aber ihr könnt die Villa nicht verfehlen.«
Mit Felix’ Beschreibung machten sich Marie Janssen und Jan Feddersen auf den Weg zu den
Cuxhavener Kurgebieten. In Ortskern von Duhnen herrschte lebhaftes Gedränge. Obwohl nach Maries Vorstellung alle Kurgäste einen heißen Tag wie diesen am Strand verbrachten, waren rund um den Dorfbrunnen so viele
Touristen unterwegs, dass sie trotz Blaulichts Mühe hatten, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Das Signalhorn einzusetzen,
scheuten sie sich angesichts der vielen älteren Menschen und Familien mit kleinen Kindern.
»Aber Hallo«, staunte Jan Feddersen, als sie ihr Ziel erreichten und er den Motor abstellte.
»Der Hütte sind die Millionen anzusehen, die Börnsens Hotel von Anfang an eingebracht haben muss.«
»Hoffentlich ist der Hausherr da.« Marie stieg aus und strebte dem Hauseingang zu. Ihr Kollege folgte ihr zögernd, während er die Villa musterte. Ein zweigeschossiges Gebäude mit durchlaufenden Balkonen und gläsernen Fronten, gegliedert in zwei leicht versetzte Trakte, die jeder für sich schon ein geräumiges Eigenheim sein konnten. Die aufwendig gepflasterte Zufahrt führte nicht zu einer separaten Garage, sondern im Bogen hinter das Haus. Die
Stellplätze für Autos befanden sich im Kellergeschoss. Neben einem älteren Jaguar stand ein Land Rover.
Auf Maries Klingeln öffnete eine Frau mittleren Alters, deren Kleidung den Status einer
Hausangestellten erkennen ließ.
»Moin«, grüßte Marie. »Mein Name ist Janssen. Und …«
»Wir empfangen keine Besucher ohne Termin«, unterbrach die Hausdame. »Herr Börnsen hat für heute keinen Eintrag im Kalender.«
»Da werden Sie wohl eine Ausnahme machen müssen.« Marie zog ihren Dienstausweis aus der Tasche. »Mein Kollege, Kriminalhauptkommissar Feddersen, und ich haben Herrn Börnsen eine Mitteilung zu machen und ein paar Fragen zu stellen. Es geht um
seinen Sohn. Also melden Sie uns bitte an, Frau …«
Erschrocken riss die Angestellte die Augen auf und starrte auf den Ausweis. »Eilers, mein Name«, murmelte sie, »Friederike Eilers. Wenn Sie bitte eintreten möchten. Ich werde Herrn Börnsen informieren.«
Wenig später saßen sie dem Hausherrn in dessen Arbeitszimmer gegenüber. Der Raum war mit schweren dunklen Möbeln im Kolonialstil ausgestattet, die nach Maries Geschmack überhaupt nicht zur modernen Architektur der Villa passten. Eine Reihe heimischer
Jagdtrophäen zierte eine der Wände. Um einen Wildschweinkopf waren zahlreiche Gehörne gruppiert. Zur Seeseite bestand die Front vollständig aus Glas und eröffnete die Aussicht auf das graublaue Wasser der Nordsee. Marie hatte keinen
Blick dafür, ihr war unbehaglich zumute. Börnsen wirkte tatsächlich vital für sein Alter, war groß und schlank, hatte ein sonnengebräuntes Gesicht und stahlblaue Augen. Aber sein Blick strahlte Kälte aus. Er ähnelte einem amerikanischen Schauspieler, der früher Italo-Westernhelden gespielt und durch seine Unterstützung der Waffenlobby aufgefallen war. Marie kam nicht auf den Namen.
»Was wollen Sie von mir?« Seine Stimme klang scharf, der Tonfall war distanziert.
Jan schien Maries Empfindung zu ahnen, er ergriff das Wort. »Es ist unsere traurige Pflicht, Sie vom Ableben Ihres Sohnes Ralf in Kenntnis zu
setzen.«
Börnsen zeigte kaum eine Reaktion, nur seine Augenbrauen zogen sich ein wenig
zusammen. »Ableben?«, knurrte er. »Ralf? – Wenn Sie mich auf den Arm nehmen wollen …«
»Keineswegs«, warf Marie ein. »Ihr Sohn ist vor ungefähr zwei Stunden vom Dach des Hotels Alte Liebe gestürzt.«
Ein unwilliger Blick streifte sie. Sie kam sich vor wie in der Schule, wenn sie
ungefragt eine Bemerkung gemacht hatte. Doch Börnsen schwieg, schloss die Augen, verharrte reglos, wie erstarrt. Marie fragte
sich, ob ihn der Schlag getroffen haben konnte. Doch nach einer endlos
erscheinenden Minute öffnete er die Augen und wandte sich an ihren Kollegen. »Ein Unfall.« Es klang nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung.
»Das herauszufinden«, entgegnete Jan, »ist unsere Aufgabe. Einiges deutet darauf hin, dass Ihr Sohn über das Geländer gestoßen worden ist. Ein abschließendes Urteil kann erst nach der Obduktion und nach Auswertung aller Spuren gefällt werden. Von Ihnen würden wir gern erfahren …«
»Obduktion?«, unterbrach Börnsen ihn. »Sie wollen meinen Sohn …? Kommt überhaupt nicht infrage.«
»Darüber befindet der Staatsanwalt beziehungsweise der Ermittlungsrichter.« Marie versuchte die Andeutung eines Lächelns. »Und deren Entscheidung hängt vom Ergebnis unserer Ermittlungen ab.«
Böse starrte Börnsen sie an. »Ihre Ermittlungen? Sie sind doch höchstens …« Er brach ab und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie glauben allen Ernstes«, fuhr er schließlich fort, »ich sollte Ihnen bei der … Aufklärung helfen?«
»Allerdings.« Marie hielt dem bohrenden Blick stand. »Je mehr wir über das Opfer und sein Umfeld wissen, desto eher können wir einen möglichen Täter ins Auge fassen. Es wäre hilfreich, wenn wir von Ihnen erführen, ob Ihr Sohn in Schwierigkeiten steckte, ob er Feinde hatte und ob es
Menschen gibt, denen Sie eine solche Tat zutrauen.«
Börnsen schüttelte kaum merklich den Kopf. »Weder noch. Ich kann Ihnen nicht helfen. Aber Sie können der Familie Börnsen helfen. Indem Sie nicht in Ralfs Privatleben herumstochern.« Er wandte sich wieder an Jan Feddersen. »Haben Sie seine Frau informiert?«
»Nein. Wir wissen noch nicht, wo sie sich aufhält. Vielleicht können Sie uns …«
»Ich übernehme das. Christina ist schwerbehindert. Und hat schon ihren Sohn verloren.
Sie lebt in einem … in einer anderen Stadt. Man sollte sie nicht unnötig belasten.«
»Was ist mit dem Sohn geschehen?«, fragte Marie.
Berend Börnsen zögerte. »Eine unschöne Geschichte«, begann er schließlich. »Erik ist Anfang des Jahrtausends spurlos verschwunden. Angeblich mit einer
Segelyacht gekentert und in der Nordsee ertrunken.«
»Wieso angeblich?«
»Man hat ihn nie gefunden. Aufgeklärt haben Ihre Kollegen das damals nicht. Christina hat sehr darunter gelitten
und meinem Sohn die Schuld gegeben, weil er dem Jungen die Yacht überlassen hat.«
»Woran leidet Ihre Schwiegertochter?«, fragte Marie vorsichtig.
»Das geht Sie nichts an. Gehört auch nicht zur Sache.« Börnsen erhob sich. »Ich denke, das war’s. Sie dürfen jetzt gehen. Meine Haushälterin bringt Sie zur Tür.« Er griff nach einer kleinen goldfarbenen Glocke.
»Moment noch!« Jan Feddersen hob eine Hand. »Sie haben die Frage nach möglichen wirtschaftlichen Problemen nicht beantwortet.«
»Unser Hotel wirft Gewinn ab. Wenn Sie das meinen. Das Haus ist vollständig renoviert, alle Zimmer sind mit moderner Ausstattung versehen. Es gibt
keinen Investitionsstau und keinerlei finanzielle Belastungen. Wir haben eine
Auslastung von neunzig Prozent. Damit liegen wir im Spitzenbereich. Falls Sie
nach einem Motiv für einen Selbstmord suchen, liegen Sie falsch. Und ich warne Sie davor, eine
solche Version in Umlauf zu bringen. Dann bekommen Sie es mit unseren Anwälten zu tun.«
»Wir bringen überhaupt nichts in Umlauf«, erwiderte Jan. »Wir ermitteln nur. Wie in jedem anderen unnatürlichen Todesfall.«
»Dann ist es ja gut.« Börnsen ließ die Glocke ertönen. Im nächsten Augenblick erschien die Hausangestellte in der Tür. »Die Herrschaften möchten gehen«, teilte der Hausherr ihr mit.
Die Kriminalbeamten erhoben sich. »Vielen Dank für das Gespräch«, erklärte Marie. »Wir kommen wahrscheinlich noch einmal auf Sie zu. Je nachdem, wie die
Ermittlungen verlaufen, könnten sich noch Fragen ergeben.«
Börnsen ging nicht darauf ein, sondern deutete mit einer knappen Kopfbewegung in
Richtung Tür.
Vor der Villa überfiel sie die nachmittägliche Sommerhitze. »Puh«, murmelte Marie, »da drin ist mir richtig kalt geworden.«
»Das war die Klimaanlage«, vermutete Jan. Seine Kollegin schüttelte den Kopf. »Nicht nur. Der Mann strahlt so eine Kälte aus. Und seine Reaktion auf den Tod seines Sohnes war – ich weiß nicht – irgendwie seltsam.«
»Der Mann ist über achtzig. Vielleicht hat er schon zu viele Todesfälle erlebt. Außerdem wissen wir noch nichts über das Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Wenn einer keine Gefühle zeigt, heißt das nicht, dass er keine hat. Möglicherweise ist ihm der Ruf des Hotels und seiner Familie so wichtig, dass der
Tod seines Sohnes an die zweite Stelle rückt.«
Marie nickte nachdenklich. »Und jetzt?«, fragte sie, als sie wieder im Wagen saßen.
»Für den Rest des Tages lassen wir die Ermittlungen ruhen.« Jan startete den Motor. »Morgen früh sehen wir uns in der Dienststelle und entscheiden über die nächsten Schritte. Auf jeden Fall müssen wir die Angestellten vernehmen, die gestern Spätschicht hatten und deshalb heute nicht im Hotel waren.«
»Okay.« Marie nickte. »Das können wir den Kollegen Allmers und Frerksen überlassen. Ich würde mir gern die Akte zu dem Fall von Börnsens Enkel ansehen. Wenn es sich tatsächlich um einen ungeklärten Todesfall handelt, muss sie noch zugänglich sein. Vielleicht können wir den Lütten davon überzeugen, die Sonderermittlungsgruppe für Cold Cases damit zu befassen.«
»Gute Idee«, stimmte Jan Feddersen zu. »Wenn ich mich nicht irre, sollen dort mein Vorgänger im FK 1 Konrad Röverkamp und euer ehemaliger Chef Christiansen als externe Berater mitarbeiten.«
»Genau!« Marie hob einen Daumen. »Vielleicht können wir uns dann mit denen auch mal wieder treffen.«
*
Am nächsten Morgen war Marie früher als sonst im Fachkommissariat. Die Räume über der Volksbank, die schon vor Jahren wegen Platzmangels in der Dienststelle
angemietet werden mussten, waren weniger muffig als die in dem alten Kasten an
der Werner-Kammann-Straße. Aber weil Fenster und Türen aus Sicherheitsgründen nachts geschlossen bleiben mussten, stand die warme Luft des Vortages noch
in den Büros. Sie öffnete sämtliche Fensterflügel, um wenigstens etwas von der noch halbwegs frischen Morgenluft
hereinzulassen. Trotz der frühen Stunde klingelte das Telefon, kaum hatte sie sich an ihrem Schreibtisch
niedergelassen, um den Computer hochzufahren. Kriminalrat Lütjen war offenbar auch schon im Haus. »Moin, Frau Janssen«, schnarrte er, bevor Marie ihn begrüßen konnte. »Ich möchte Sie sprechen. Sie und Feddersen. Sofort.«
»Kollege Feddersen ist noch nicht da«, wandte Marie ein. »Ihnen wünsche ich ebenfalls einen guten Tag.«
»Dann kommen Sie zu mir, sobald Ihr Partner eingetroffen ist.« Es knackte, Lütjen hatte aufgelegt. Marie seufzte. Vor ihrem inneren Auge erschien das Bild
von Kriminaloberrat Christiansen. Ihr früherer Chef war in Konrad Röverkamps Alter gewesen, aber größer und schlanker. Ein angenehmer Vorgesetzter. Einer, der auf seine Mitarbeiter
eingegangen war und es verstanden hatte, die Fähigkeiten jedes einzelnen für die gemeinsame Arbeit zu nutzen, er hatte Eigenverantwortung gestärkt und darauf verzichtet, sich in Konrads und ihre Ermittlungsarbeit
einzumischen.
Sein Nachfolger war von der Natur mit geringer Körpergröße ausgestattet worden. Was der Lütte, wie sie ihn in der Inspektion nannten, wenn er nicht in der Nähe war, durch Schuhe mit Plateausohlen und durch energisches Auftreten
auszugleichen versuchte. Eigentlich war er für den Polizeidienst zu klein. Findige Kollegen hatten herausgefunden, dass er im
Saarland eingestellt worden war, wo es keine Mindestgröße für Polizeibeamte gab. Später hatte er sich nach Niedersachsen versetzen lassen.
»Oh, du bist schon hier?« Jan Feddersen steckte den Kopf zur Tür rein. »Moin. Hat dich der Fall aus den Federn getrieben?«
Marie nickte. »Moin, Jan. Der Lütte ist auch schon da und wartet auf uns.«
»Oha.« Ihr Kollege trat ein, schloss die Tür hinter sich und steuerte auf seinen Schreibtisch zu. »Das bedeutet meistens nichts Gutes.«
»Du brauchst dich gar nicht erst hinzusetzen«, sagte Marie. »Er will uns sofort sprechen.«
»Okay.« Jan drehte auf dem Absatz um, öffnete die Bürotür und machte eine einladende Handbewegung. »Bitte!«
Kriminalrat Lütjen stand auf, als sie das Büro betraten, und deutete auf die Besucherstühle. »Guten Morgen«, murmelte er, »Nehmen Sie Platz!« Er selbst blieb stehen. Nachdem Marie und Jan sich gesetzt hatten, hob er die
Stimme. »Ich hatte gestern einen Anruf von Staatsanwalt Krebsfänger. Er beklagte sich darüber, dass zwei Kriminalbeamte, offenbar aus unserer Inspektion, beim Vater des verstorbenen Hoteliers Ralf Börnsen eine Befragung durchgeführt hätten.« Mit dem Zeigefinger stieß er in Richtung Feddersen. »Das können nur Sie gewesen sein.«
Jan nickte, Marie empörte sich. »Sollen wir etwa nicht ermitteln, weil es um Verwandtschaft von Herrn Krebsfänger geht?«
Kriminalrat Lütjen wurde laut. »Was unterstellen Sie dem Staatsanwalt? Sind Sie von allen guten Geistern
verlassen? Hier geht es um einen Unfall und nicht um eine Mordermittlung. Da
ist Zurückhaltung geboten. Jedenfalls können Sie nicht einen Vater ins Verhör nehmen, der gerade erst vom Tod seines Sohnes erfahren hat.«
»Niemand hat jemanden verhört«, entgegnete Jan Feddersen mit ruhiger Stimme. »Verhöre gibt es meines Wissens in Deutschland schon sehr lange nicht mehr. Wir haben
auch keine Vernehmung durchgeführt, sondern die Todesnachricht überbracht. Und bei der Gelegenheit ein paar Fragen gestellt. Das war
unvermeidlich.«
»Unvermeidlich?«, echote Lütjen.
»Ja«, bestätigte Marie. »Denn entgegen der Darstellung des Staatsanwalts, die er offensichtlich von Herrn
Börnsen übernommen hat, handelt es sich nicht um einen Unfall.«
»Kein Unfall?« Auf Hals und Wangen des Kriminalrats erschienen rote Flecken.
»Wir gehen davon aus«, antwortete Jan Feddersen, »dass Ralf Börnsen weder freiwillig gesprungen noch versehentlich vom Dach des Hotels
gefallen ist.«
»Haben Sie Beweise?«, fauchte Lütjen.
»Bisher nur Indizien«, erklärte Marie. »Spuren, die Todesfallermittlungen unvermeidlich erscheinen lassen. Nach unseren
bisherigen Erkenntnissen könnte Börnsen ohne nennenswerte Gegenwehr über das Geländer gestoßen worden sein.«
»Hinweise auf den oder die Täter?«
Marie und Jan schüttelten den Kopf. »Die Zeugenbefragung ist noch nicht abgeschlossen«, antwortete Feddersen.
Der Kriminalrat verschränkte die Arme vor der Brust, presste die Lippen zusammen und starrte seine
Besucher grimmig an. »Also gut«, stieß er schließlich hervor, »ermitteln Sie! Aber ich möchte über jeden Schritt informiert werden. Und ich bitte mir Fingerspitzengefühl aus. Berend Börnsen ist nicht irgendjemand. So einem tritt man nicht ungestraft auf die Füße.« Mit einer Kopfbewegung deutete er zur Tür. »Sie können gehen.«
»Eine Bitte haben wir noch«, wandte Marie ein. »Es betrifft ebenfalls die Familie Börnsen. Der Sohn des Opfers ist vor etlichen Jahren spurlos verschwunden. Nach
Aussage seines Großvaters ist der Fall seinerzeit nicht aufgeklärt worden. Wenn wir unsere Sonderermittler für die Cold Cases damit befassen, könnten die Kollegen zur Klärung der Familienverhältnisse beitragen.«
»Auf gar keinen Fall.« Lütjen schüttelte energisch den Kopf. »Solange es keinen Zusammenhang zwischen beiden Fällen gibt, werden Sie nicht im Privatleben der Börnsens herumstochern.«
»Aber der familiäre Hintergrund …«, begann Marie.
»Kommt nicht infrage«, schnitt der Lütte ihr das Wort ab und wedelte mit einer Hand in Richtung Tür. »Bitte!«
»Ich muss irgendwie an die Akten von damals kommen, ohne dass der Lütte es mitkriegt«, murmelte Marie düster, als sie wieder in ihrem Büro waren.
»Er wird uns auf die Finger schauen«, gab Jan Feddersen zu bedenken. Seine Miene nahm einen verschmitzten Ausdruck
an. »Aber wir müssen es ja nicht selbst machen. Wenn wir Konrad Röverkamp die Sachlage schildern, werden er und Christiansen in der
Ermittlungsgruppe mit Dirk Allmers und Anne Lüken sich garantiert mit dem Fall befassen. Dirk wird bald pensioniert, dem kann
nichts mehr passieren. Außerdem dürfte er sich noch an die Geschichte erinnern. Allen traue ich zu, dass sie
diskret vorgehen.« Jans Grinsen wurde noch breiter. »Anne als Pressesprecherin könnte ihre guten Beziehungen zu den Cuxhavener Nachrichten und zur
Nordsee-Zeitung nutzen. Deren Archive sind vielleicht sogar noch ergiebiger als
unsere Akten.«
Während Jan sprach, hellte sich Maries Gesichtsausdruck auf. »Das ist eine sehr gute Idee. Sie hat außerdem den Vorteil, dass ich Felix nicht bitten muss. Der würde wieder eine Gegenleistung verlangen.«
»Siehst du!« Jan breitete die Arme aus. »Manchmal kommt man über Umwege ans Ziel. Willst du mit Röverkamp Kontakt aufnehmen? Oder soll ich ihn anrufen?«
»Ich mache das«, antwortete Marie. »Später. Jetzt sollten wir uns um Ralf Börnsens Frau kümmern. Ich würde gern mit ihr sprechen. Was meinst du?«
Jan Feddersen nickte. »Unbedingt. Ich schicke Dirk Allmers und Björn Frerksen ins Hotel Alte Liebe, damit sie das Personal von der Spätschicht des Vorabends befragen. Vielleicht kannst du herausfinden, wo sich die
Witwe befindet.«
*
Julia fühlte sich wie gerädert. Immer wieder war sie aus wirren Albträumen aufgeschreckt. Erst gegen Morgen, nachdem sie die doppelte Dosis eines
Beruhigungsmittels eingenommen hatte, war sie in einen leichten Schlaf
gesunken. Doch als sie die Augen aufschlug, war die Erinnerung an die Begegnung
mit Erik Börnsen wieder da. Voll innerer Unruhe wälzte sie sich aus dem Bett.
Im Bad kreisten ihre Gedanken erneut um die Ereignisse des Vortags. Gegen ihren
Willen schoben sich kleine Filme vor ihr inneres Auge: ihr Weg durchs Hotel,
das Bild des Mannes auf dem Pflaster, Eriks Auftritt in ihrer Wohnung.
Zwischendurch bäumten sich Angstgefühle auf. Um Leonie, aber auch um sie selbst. Vorerst war ihre Tochter in
Sicherheit, aber auf Dauer konnte sie nicht bei ihrer Mutter bleiben. Und was würde geschehen, wenn die Polizei sie, Julia, tatsächlich verdächtigen würde, Ralf Börnsen umgebracht zu haben? Würde ihr Bild in der Zeitung auftauchen? Sie sah Schlagzeilen vor sich. Mordverdächtige festgenommen. Dazu ein Foto mit einem schwarzen Balken über den Augen. Bildunterschrift: Hat Julia J. Cuxhavener Hotelier getötet? Arbeitskollegen, Bekannte, Freunde würden sie erkennen, sich von ihr abwenden. Ihre Mutter würde auf der Straße angesprochen, Leonie in der Schule gemobbt werden.
Mühsam kämpfte Julia aufwallende Panik hinunter. Sie zwang sich, ruhig zu atmen und
versuchte, sich an die Fakten zu halten. Sie hatte Börnsen nicht vom Dach gestoßen, also konnte sie auch nicht wegen Mordes verhaftet oder gar angeklagt werden.
Die Polizei würde sie befragen. Was sie im Hotel gemacht und was sie von Börnsen gewollt habe. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hatten sie den Täter längst gefunden. Zumindest einen Verdächtigen. Mörder, wusste sie aus zahlreichen Fernsehkrimis, kamen meistens aus dem Umfeld
des Mordopfers. Sie hatte mit den Börnsens nichts zu tun. Nicht mehr. Und wer wusste überhaupt davon?
Besaß die Polizei noch Akten von Eriks Verschwinden? Wohl kaum. Die Zeitungen hatten
darüber berichtet. Auch über den Segeltörn nach Helgoland. Mit zwei Begleitern war er aufgebrochen. Katharina B. und Benjamin W. Alle, hatte es geheißen, waren ums Leben gekommen. Ihr Name war nicht genannt worden. Obwohl sie sich
auf Helgoland an die Polizei gewandt hatte. Doch auf der Insel war nichts
Strafbares passiert. Die netten Polizistinnen hatten ihr zwar geglaubt und ihr
geholfen, nachdem die Yacht aus dem Hafen verschwunden war, hatten ihre
Personalien aber nicht aufgenommen und auch kein Protokoll angefertigt.