Kapitel 7
2002
Hektisch lief Julia auf und ab, breitete hilflos die Arme aus und deutete erneut
zum Hafenbecken. »Aber sie war vorhin noch hier!«, rief sie. »Seeteufel. Eine weiße Segelyacht. Ziemlich groß. Die kann doch nicht einfach verschwinden.« Sie beugte sich über die Kaimauer und starrte in die Tiefe. Nein, gesunken konnte sie auch nicht
sein. So tief war das Hafenbecken nicht. Ratlos sah sie Imke Broders an. »Ich verstehe das nicht«, murmelte sie, während sie gegen aufsteigende Tränen kämpfte.
Die Polizistin nestelte an einer seitlichen Tasche ihrer Uniformhose, zog ein
Fernglas hervor und setzte es an die Augen. Langsam bewegte sie das Glas über den Horizont, hielt plötzlich inne und streckte es Julia entgegen »Schau mal in diese Richtung!« Ihr Arm deutete nach Süden.
Julia sah zunächst nur ein zitterndes Bild, hatte Mühe, das Glas ruhig zu halten. Schließlich fing sie den Horizont ein, suchte das Meer darunter ab und erstarrte. Weit
draußen segelte die Seeteufel hart am Wind. »Da ist sie!«, rief sie empört. »Die sind einfach … ohne mich …« Das Bild verschwamm, weil ihr erneut Tränen in die Augen schossen.
»Bist du sicher?«, fragte Imke Broders. »Aus dieser Entfernung ist ein Boot schwer zu identifizieren.«
»Ich weiß nicht«, murmelte Julia und gab das Fernglas zurück. »Es könnte auch ein anderes sein. Aber genauso sah die Seeteufel aus.«
»Wahrscheinlich hast du Recht«, stimmte die Polizistin zu, nachdem sie noch einmal einen Blick durch das
Fernglas geworfen hatte. »Es ist weit und breit die einzige Segelyacht. Tut mir leid, Julia. Aber wir können nichts machen. Es liegt keine strafbare Handlung vor. Oder willst du
Anzeige erstatten?«
Erschrocken schüttelte Julia den Kopf. »Nein. Nein, natürlich nicht. Es ist ja nichts passiert, weswegen ich …« Sie brach ab. Erik hatte ihr Gewalt angetan. Aber er würde es abstreiten. Und ihr würde man nicht glauben. Die Vorstellung, ihre Mutter, ihre Freunde und womöglich viele andere Cuxhavener würden von dem Vorfall erfahren, ängstigte sie.
»Du kannst es dir ja noch überlegen.« Imke Broders steckte das Fernglas ein. »Jetzt gehen wir erst mal zurück zur Dienststelle und trinken Tee. Du kannst zu Hause anrufen und Bescheid
geben, dass du abgeholt werden willst. Oder habt ihr Verwandte oder Freunde auf
Helgoland, die dir weiterhelfen können?«
»Nein«, stieß Julia unter Tränen hervor, »ich kenne hier niemanden.«
»Na, immerhin haben wir uns kennengelernt.« Die Polizistin legte einen Arm um Julias Schultern. »Komm! Wir gehen. Das wird schon wieder.«
In der Polizeidienststelle wurde Julia bewusst, wie verfahren ihre Lage war. Während Imke Broders Tee aufsetzte, wählte sie die Nummer ihrer Mutter. Doch zu Hause meldete sich niemand.
Wahrscheinlich war sie schon auf dem Weg zum Wochenmarkt an der Beethovenallee.
Wie jeden Samstag.
Julia legte auf und fragte sich, wen sie noch anrufen konnte. Kathi war auf dem
Boot, außer ihr gab es noch zwei Freundinnen, die vertrauenswürdig waren. Steffi und Nina. Ihre Telefonnummern hatte sie im Kopf. Doch während sie die erste Nummer wählte, kamen ihr Zweifel, und sie legte wieder auf. Sie würde erklären müssen, warum sie ohne Geld, ohne EC-Karte und ohne Ausweis auf Helgoland war. Natürlich würden beide hoch und heilig versprechen, niemandem etwas zu erzählen. Aber Julia wusste auch, wie sich Nachrichten unter dem Siegel der
Verschwiegenheit ausbreiten konnten. Der missglückte Ausflug mit Erik, Kathi und Benny wäre eine Neuigkeit, die, versehen mit höchster Geheimhaltungsstufe, ihren Weg über Freunde und deren Freunde durch die halbe Stadt finden würde. Besser, sie wartete, bis ihre Mutter wieder zu Hause war.
»Hier, trink erst mal!« Imke Broders riss sie aus ihren Gedanken, stellte einen dampfenden Becher Tee
vor ihr ab und ließ sich auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches nieder.
Julia sah sich um. »Wo ist … deine Kollegin?«
»Swantje holt uns ’ne Kleinigkeit vom Inselbäcker. Der ist gleich um die Ecke. Manchmal machen wir das so. Wenn nichts
Dringendes anliegt, frühstücken wir hier zusammen.« Sie lächelte Julia an. »Du hast wahrscheinlich heute auch noch nichts bekommen. Danach schauen wir, ob
du jemanden erreichst oder ob wir etwas für dich tun können.«
*
Als Benjamin zu sich kam, wusste er sofort, dass etwas nicht stimmte. Statt des
sanften Schaukelns spürte er harte Stöße durch die Matratze der Koje. Offenbar fuhr die Seeteufel mit hoher Geschwindigkeit und hart am Wind durch die Wellen. Die Schräglage der Yacht drückte ihn gegen die Wand. Der Versuch, die Augen zu öffnen und sich aufzurichten, scheiterte. Sein Kopf dröhnte und alles um ihn herum begann sich zu drehen. Er sackte zurück, schloss die Lider und klammerte sich an die Einfassung der Koje. In seinem
Darm rumorte es, im Magen schien ein Feuer zu brennen und die Blase machte sich
schmerzhaft bemerkbar. Er musste raus. Einige Atemzüge verharrte er regungslos, öffnete dann die Augen, ohne sich zu bewegen. Schließlich hob er vorsichtig den Kopf, richtete sich langsam auf und streckte die
Beine über die Kojenkante. Diesmal klappte es. Er hielt sich mit beiden Händen fest und sah sich um. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Der Besuch in der Helgoländer Diskothek, später Bier und Schnaps auf dem Deck der Yacht. Damit endete der Film. Wie war er
in die Koje gekommen? Und wo war Julia? Wahrscheinlich draußen. An der frischen Luft. Die brauchte er jetzt auch. Aber vorher musste er aufs
Klo.
»Moin, Alter!«, begrüßte Erik ihn, als er wenig später den Aufgang zum Deck erklommen hatte. »Schon ausgepennt?« Er trug eine Sonnenbrille unter dem weißen Basecap, stand am Ruder und grinste mitleidig. »Du siehst scheiße aus. Einer von den Helgoländern war wohl schlecht.«
»Helgoländer?«
»Na, dieses süße Zeug aus Kirschsirup und Korn und Pfefferminzlikör.«
»Sowas haben wir getrunken?«
Erik kicherte. »Nicht zu knapp.«
»Wieso fahren wir?«, ächzte Benjamin. »Warum liegen wir nicht im Hafen? Und wo sind die Mädels?«
»Kathi liegt noch in der Koje. Apropos – wie war’s denn?«
»Wie war was?«
Erik stieß einen anzüglichen Lacher aus. »Mit Kathi. Ich meine, mit dir und Kathi? Oder hast du keinen mehr hochgekriegt?«
»Wieso Kathi und ich? Du bist doch mit Kathi ... Wo ist überhaupt Jule?«
»Die ist auf Helgoland geblieben. Wir mussten den Plan ändern und die Rückreise antreten. Sie wollte nicht mit.«
»Aber wieso?« Benjamin starrte ihn verständnislos an. »Ich verstehe nicht. Warum …?«
»Kleine Meinungsverschiedenheit.« Erik zuckte mit den Schultern. »Sie wollte mit mir …« Er nahm seine Hände vom Steuerstand und machte eine anzügliche Bewegung. »Habe dankend abgelehnt. Sie hat mich beschimpft und beleidigt, daraufhin habe ich ihr eine gescheuert. Da ist sie abgehauen.«
»Das verstehe ich nicht. Jule würde doch nie …« Benjamin brach ab und schlug die Hand vor den Mund. »Scheiße«, presste er hervor, »ich muss kotzen.«
»Zu der Seite!«, rief Erik und deutete in die dem Wind abgewandte Richtung. Er ließ Fock und Großsegel fieren, sodass die Seeteufel Fahrt verlor und sich aufrichtete. »Kotzt du Richtung Lee, geht es in die See.«
Benjamin stolperte und rutschte über das Deck, erreichte im letzten Augenblick die Reling. Nachdem sein
Mageninhalt über Bord gegangen war, hangelte er sich zurück in die Plicht. Das Bedürfnis, sich hinzulegen, kämpfte gegen den dringenden Wunsch, Klarheit über Jules Verschwinden zu bekommen und den Grund für die vorzeitige Rückreise zu erfahren.
»Warum segeln wir zurück?«, keuchte er, als er den Steuerstand erreichte. »Wir wollten doch erst morgen …«
»Wetterumschwung«, erklärte Erik. »Sie haben die Vorhersage geändert. Morgen würden wir Probleme mit Wind und Sicht bekommen.«
Nach Julia fragte Benjamin nicht noch einmal. Eriks Antwort erschien ihm nicht überzeugend, aber er ahnte, dass er keine andere Auskunft bekommen würde. Vielleicht wusste Kathi mehr. »Ich hau mich wieder hin«, murmelte er und stieg den Niedergang hinab. In der Kajüte öffnete er den Kühlschrank, nahm eine Flasche Wasser heraus und öffnete sie. Nachdem er ein paar Schlucke getrunken hatte, fühlte er sich besser. Statt in seine Koje zurückzukehren, klopfte er an die Tür der anderen Kabine. In seinem Kopf kreiste Eriks Frage. Hatte er mit Kathi …?
Sie reagierte nicht auf sein Klopfen, also drückte er die Klinke nieder und öffnete die Tür. Kathi lag in einer der Kojen in zerwühltem Bettzeug. Ein nacktes Bein, ein Arm und ihr langes dunkles Haar hingen über die Kojenkante. Ihr gleichmäßiger Atem deutete darauf hin, dass sie schlief. Er trat näher und berührte ihre Schulter. Kathi seufzte, drehte sich zur Seite, schlief weiter.
»Hallo, Kathi!« Benjamin rüttelte sie vorsichtig. Sie gab erneut einen Seufzer von sich, drehte sich um und
schlug die Augen auf. »Hallo, Benny!«
»Kathi«, sagte er rasch, »ich muss dich was fragen.«
Katharina lächelte und griff nach seiner Hand. »Bist du wieder klar? Hast du’s dir anders überlegt?«
»Wie? Was? Anders?« Irritiert sah er sie an. »Was meinst du? Ich verstehe nicht …?«
»Aber ich.« Sie kicherte. »Du hattest zu viel getankt. Aber jetzt …« Sie griff nach der Decke und schlug sie zurück.
*
»Es gibt vielleicht eine Möglichkeit.« Swantje schluckte den letzten Bissen ihrer Puddingschnecke, tupfte sich
Zuckerkrümel von den Lippen und spülte mit Tee nach. »Vielleicht nicht unbedingt heute, aber auf jeden Fall morgen.« Sie musterte Julia. »Bist du schon mal geflogen? Ich meine jetzt nicht ein Verkehrsflugzeug, sondern
in so einer kleinen Maschine, in der nur zwei bis sechs Personen Platz haben?«
Julia schüttelte den Kopf. »Nee. Warum fragst du?«
»An Wochenenden wie diesem haben wir auf der Düne ziemlich viel Flugverkehr. Da kommen Leute vom Festland für einen Kurzaufenthalt. Oft ist beim Hin- wie Rückflug ein Platz frei. Ich kenne den Flugleiter und könnte ihn fragen, ob er sich umhören kann.«
»Das ist die Idee«, warf Imke ein und strahlte Julia an. »Dann bist du vielleicht sogar früher zu Hause als deine treulosen Freunde.«
»Ja, aber … Ich weiß nicht, ob ich …« Julia zögerte. Vor Cuxhavens Küste waren öfter Kleinflugzeuge zu sehen, sie war aber nie auf den Gedanken gekommen, selbst
einmal in so ein Ding zu steigen.
»Das ist wie Autofahren«, begeisterte sich Swantje. »Nur schöner. Mein Freund fliegt auch. Mit ihm war ich schon mal in Nordholz. Das ist
nicht weit von Cuxhaven. Glaub mir, es wird dir gefallen.« Sie stand auf, ging zum Schreibtisch und griff zum Telefonhörer. »Moin, Bjarne«, hörte Julia kurz darauf. »Swantje hier. Viel los bei euch? – Ja, klar. Ist ja noch früh. Hör mal! Ich brauche einen Platz in einem Flieger nach Nordholz. Oder irgendwo in
die Nähe von Cuxhaven. Zur Not Bremerhaven. Möglichst noch heute. – Nein, nicht für mich. Es geht um eine junge Deern, die hier gestrandet ist. – Nein, ohne Gepäck. – Du hörst dich um? – Super! Dank dir, Bjarne! – Ja, Tschüss.« Die Polizistin legte auf und kehrte zum Tisch zurück. »Kann jetzt ’ne Weile dauern«, sagte sie. »Aber ich bin sicher, dass Bjarne einen Piloten findet, der dich mitnimmt.«
»Danke«, flüsterte Julia. »Das ist wirklich sehr nett. Ich weiß gar nicht, wie ich mich bei euch bedanken kann. Obwohl … Ist das nicht gefährlich?«
»Du musst kein’ Schiss haben.« Swantje grinste. »Fliegen ist die sicherste Fortbewegung. Die Piloten wollen ja auch zu Hause
ankommen. Und überm Wasser wackelt’s auch nicht. In ’nem Boot ist es unruhiger.«
Julia war nicht überzeugt, nickte aber. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie sie in ein
Kleinflugzeug stieg, das neben der Startbahn wartete. Der Flugplatz befand sich
auf der Helgoländer Düne, die von der Hauptinsel aus nur mit dem Boot zu erreichen war. Es gab eine Dünenfähre, aber für die Überfahrt hatte sie kein Geld.
Imke schien ihre Gedanken zu erraten. Sie tauschte einen Blick mit ihrer
Kollegin. »Wir bringen dich rüber«, sagte sie dann.
»Aber wie?«, fragte Julia.
Die Polizistinnen lächelten. »Mit unserem Polizeiboot«, antwortete Swantje. »Ist ja schließlich ein Notfall. Außerdem müssen wir die Einsatzbereitschaft unseres Außenborders prüfen. Da gab’s gestern ein Problem mit dem Vergaser.«
*
Benjamin starrte Katharinas entblößten Körper an. Plötzlich wurde ihm klar, was Erik gemeint hatte. Dunkel erinnerte er sich an
dessen Gerede von neuen Erfahrungen, aufregenden Abenteuern und vom Ausleben
erotischer Fantasien. Er hatte es nicht ernst genommen, nicht glauben können, dass die Mädchen sich darauf einlassen könnten. Kathi bewies ihm gerade das Gegenteil. Hatte Jule mit Erik …? Unwillig schüttelte er den Kopf. Der reagierte mit einem schrillen Schmerz auf die Bewegung.
Benjamin verzog das Gesicht.
»Was ist?«, fragte Kathi. »Geht’s dir doch noch nicht gut? Du hast gestern Abend aber auch wirklich ordentlich
getankt. Erik hat allerdings ein bisschen nachgeholfen.« Sie grinste verschwörerisch. »Komm, wir machen es uns jetzt ein bisschen nett.«
»Jule ist weg«, stieß Benjamin hervor.
Katharina streckte beide Arme aus. »Sie ist nicht weg. Wahrscheinlich ist sie bei Erik in der Kabine und die beiden
schlafen noch. Komm!«
»Nein!« Benjamin spürte die Verzweiflung in seiner Stimme. »Die Seeteufel fährt. Merkst du das denn nicht? Wir sind auf hoher See. Jule ist auf Helgoland
geblieben. Erik ist einfach …«
»Das kann nicht sein«. Katharina setzte sich auf, neigte den Kopf. »Doch. Du hast Recht. Wir fahren. Wieso fahren wir? Und warum ist Jule …?«
»Erik meint, sie wollte nicht mitkommen. Außerdem hat er gesagt, Jule wollte mit ihm … Du weißt schon was. Er aber nicht mit ihr. Da hat sie ihn beschimpft und er hat ihr
eine geknallt und dann ist sie weg.«
Mit einer schnellen Bewegung streifte Katharina sich ein T-Shirt über und stieg aus der Koje. »Das kann ich nicht glauben. Erik wollte unbedingt mit Jule poppen. Darum diese
ganze Aktion, darum diese Idee mit dem Partnertausch. Und das Besäufnis.« Sie schlüpfte in ein Höschen und stieg in ihre Jeans. »Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen. Und ich hätte Jule warnen müssen. Erik geht manchmal ganz schön heftig zur Sache. Wahrscheinlich war es genau andersrum. Sie wollte nicht und
er hat sie irgendwie … keine Ahnung.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Benjamin unsicher.
Katharina zog den Reißverschluss ihrer Hose hoch und knöpfte sie zu. »Wir fragen ihn. Er soll uns das mal erklären.« Sie wandte sich zur Tür. »Komm mit!«
Erik hatte es sich auf der Sitzbank am Steuerstand bequem gemacht, die Füße hochgelegt, in der Hand eine Bierdose. In seiner Sonnenbrille spiegelten sich
die weißen Segel der Yacht vor dem blauen Hintergrund des Himmels. Die Seeteufel glitt mit mäßiger Geschwindigkeit durch die Wellen. Erik schob die Brille über die Stirn und grinste. »Na? Habt ihr’s gepackt? Wie war’s?«
»Was ist mit Jule?«, fuhr Benjamin ihn an. »Warum ist sie auf Helgoland geblieben?«
»Das habe ich dir doch schon erklärt.« Erik leerte die Bierdose und warf sie über Bord. »Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.«
»Wir glauben dir nicht.« Katharina baute sich vor ihm auf und stemmte die Arme in die Hüften. »Julia würde nie …«
»Hat sie aber«, unterbrach Erik sie. »Und nun lass gut sein! Erzählt lieber mal, wie’s bei euch war.«
»Da gibt’s nichts zu erzählen.« Benjamin schob Katharina zur Seite und packte Erik am Kragen seines Polohemds.
Mit einer heftigen Bewegung riss er ihn hoch. »Was hast du mit Jule gemacht, du Arsch?«
Erik stieß ihn von sich. »Mann, reg dich nicht auf! Wir haben nur ein bisschen gepoppt. Ihr doch auch.« Er kicherte. »Oder war bei dir Komasutra?«
Erneut stürzte Benjamin sich auf ihn, nahm ihn in den Schwitzkasten und drückte ihn zu Boden. »Spar dir deine dummen Sprüche!«, schrie er. »Was du mit Jule gemacht hast, will ich wissen.«
Statt zu antworten, riss Erik ihm ein Bein weg, sodass Benny mit dem Gesicht auf
die Bank krachte. Der gab seinen Widersacher frei und presste die Hand vor die
Nase. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor.
»Aufhören!«, rief Katharina. »Das bringt doch nichts!«
Die Jungen schienen sie nicht zu hören. Benjamin starrte auf seine blutige Hand. Erik packte ihn an seinem Hals und
drückte zu.
»Hör auf!«, schrie Katharina. »Benny kriegt keine Luft.« Erik reagierte nicht, hielt Benjamins Hals weiter umklammert. Benny röchelte und ruderte mit den Armen, aus seiner Nase lief Blut.
Katharina umklammerte Erik von hinten, versuchte ihn von Benny zu trennen, doch
er schüttelte sie ab. »Lass mich!«, brüllte er. »Der ist total durchgedreht.«
»Du erwürgst ihn ja!«, schrie Katharina. Sie sah sich um, suchte nach einem Gegenstand, mit dem sie
die Kampfhähne trennen konnte, entdeckte den Flaggenstock am Heck, löste ihn mit fliegenden Fingern aus der Halterung und kehrte zu den Kämpfenden zurück. Noch immer beugte sich Erik über seinen Widersacher und umklammerte dessen Hals. Inzwischen war Bennys
Gesicht blau angelaufen, seine Abwehrbewegungen ließen nach.
Katharina holte aus, um den Stock auf Eriks Rücken niedergehen zu lassen. In dem Augenblick richtete er sich auf und ließ sein Opfer los. Der Schlag traf Bennys Schläfe.
Mit einem entsetzten Aufschrei ließ sie den Flaggenstock fallen, stieß Erik zur Seite, stürzte sich auf Benny, der sich nicht mehr bewegte. Sie umfasste mit beiden Händen seinen Kopf, achtete nicht auf das Blut, das aus der Wunde sickerte. »Hörst du mich, Benny?«, rief sie. »Es tut mir so leid, Benny. Bitte mach die Augen auf! Ich wollte doch nur …« Tränen schossen ihr in die Augen, ein Weinkrampf schüttelte ihren Körper, ihre Knie sackten weg, sie sank auf Bennys Brust.
»Hast du ihn umgebracht?«, fragte Erik hinter ihr und packte ihre Schultern. »Komm, lass mich mal sehen!« Er zog sie hoch, dirigierte sie zur gegenüberliegenden Bank und drückte sie auf die Sitzfläche. Dann wandte er sich dem reglosen Körper zu und tastete nach dessen Halsschlagader.
»Was ist mit ihm?«, schluchzte Katharina mit Verzweiflung in der Stimme.
Erik reagierte nicht sofort. Schließlich drehte er sich um und sah sie an. Sein Blick war nicht zu deuten.
*
»Danke, Bjarne! Du hast uns mal wieder sehr geholfen. – Ja, wir kommen dann mit der Passagierin rüber zur Düne.« Swantje legte den Telefonhörer auf. »In zwei Stunden fliegt jemand nach Bremen. Doktor Jepsen, Frauenarzt. Landet mit
seiner Cessna öfter auf der Düne. Bringt seine Familie. Oder holt sie wieder ab. Bjarne hat schon mit ihm
gesprochen. Wenn du willst, kannst du mitfliegen.«
»Super«, freute sich Imke. »Glück im Unglück nennt man das. Von Bremen nach Cuxhaven wirst du es sicher irgendwie
schaffen.«
Julia nickte tapfer, obwohl die Vorstellung, in einem kleinen Flugzeug über dem Wasser der Nordsee zu schweben, ein flaues Gefühl in ihr auslöste. Sie versuchte ein Lächeln. »Vielen Dank für eure Hilfe. Ohne euch …«
Swantje winkte ab. »Da nich für! Es gehört zu unserem Job, Menschen zu helfen.«
»Du kannst uns eine Nachricht schicken«, ergänzte Imke. »Wenn du wieder zu Hause bist.« Sie zog eine Visitenkarte aus der Brusttasche, notierte auf der Rückseite eine Mobilfunknummer und schob sie über den Tisch. »Mein privates Handy.« Sie stand auf. »Ich mache schon mal das Boot klar. Ihr könnt in zehn Minuten zum Hafen kommen. Zeit ist ja noch genug, sodass wir einmal
um die Insel düsen können, bevor wir dich am Flugplatz abliefern. – Wenn du Lust hast.«
*
Eine gute Stunde später saß Julia auf einer Bank vor dem Empfangsgebäude in der Sonne und beobachtete die ankommenden und abfliegenden Maschinen. Die
freundlichen Polizistinnen hatten sie mit Bjarne bekannt gemacht und sich dann
verabschiedet.
Die kleinen Flieger starteten und landeten in rascher Folge, Julias Vertrauen in
diese Art der Fortbewegung wuchs. Menschen aller Altersgruppen stiegen aus oder
ein, zeigten keinerlei Anzeichen von Besorgnis oder Unwohlsein. Die Ankömmlinge schienen guter Dinge, wirkten erwartungsfroh, die Abreisenden waren
braungebrannt und zeigten eher bedauernde Mienen.
Während sie den Menschen zusah, wanderten ihre Gedanken zur Seeteufel. Obwohl sie es versuchte – das Erlebnis mit Erik Börnsen ließ sich nicht ausblenden. Es war ein Fehler gewesen, den Ausflug nach Helgoland
mitzumachen. Und ein noch viel größerer Fehler, auf Eriks und Kathis verrückte Idee einzugehen.
Was hatte sie getrieben, sich auf das seltsame Spiel einzulassen? Unablässig kreiste die Frage in ihrem Kopf, aber sie fand keine Antwort, wusste nur,
dass sie falsch gehandelt hatte. Wie mochten Kathi und Benny das sehen? Würden sie sich ähnliche Gedanken machen? Darüber reden? Wie gern hätte sie jetzt mit Katharina gesprochen, sie gefragt, ob ihr bei der Sache wohl
gewesen sei. Und ob sie gewusst habe, zu welch kranken Verhaltensweisen Erik
neigte. Die beiden waren schließlich schon länger zusammen. Oder hatte er sich ihr gegenüber zurückgehalten? Das Bild eines dunkelroten Streifens unter Kathis Kehle schob sich
vor ihr inneres Auge. »Ich habe mich geschrammt«, hatte sie erklärt. Hatte sie gelogen? War in Wahrheit Erik dafür verantwortlich?