Kapitel 8
2019
»Christina Börnsen lebt in einem Hamburger Seniorenheim, das auch Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen aufnimmt.« Marie legte den Telefonhörer auf und verzog das Gesicht. »Dafür kriegen wir keine Dienstreisegenehmigung. Der Lütte ist garantiert dagegen, die Witwe zu befragen. Außerdem müssten wir die Hamburger Kollegen um Hilfe bitten. Anderes Bundesland.« Sie schlug mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte. »Das kann dauern. So ein Mist!«
»Ich könnte das übernehmen«, schlug Jan Feddersen vor. »In den nächsten Tagen muss ich sowieso nach Hamburg. Privat, meine ich. Wegen Luca. Der will unbedingt ein Praktikum bei einer Filmproduktion machen. Ein Besuch im Pflegeheim ließe sich damit gut verbinden.«
»Ich weiß nicht.« Marie machte ein bedenkliches Gesicht. »Als Privatperson … Obwohl … Vielleicht ist das doch keine so schlechte Idee.« Ihr Ausdruck änderte sich zu einem halb spöttischen, halb vergnügten Grinsen. »Du bist wahrscheinlich genau der Richtige dafür. Gutaussehend, freundliche Ausstrahlung, charmantes Auftreten. Typ Traumschwiegersohn. Eine Dame mittleren Alters dürfte dir kaum widerstehen können. Ich weiß ja nicht, weshalb Frau Börnsen dort ist, aber wenn ihre Sinne funktionieren, wird sie dich nicht hinauswerfen.«
Jan hob abwehrend beide Hände. »Danke für die Blumen! Aber versprich dir nicht zu viel. Selbst wenn sie mich nicht gleich rausschmeißt, heißt das nicht, dass sie mir Fragen zu ihrer Familie beantwortet.«
»Einen Versuch ist es wert.« Marie erschien ein Erfolg nicht mehr unwahrscheinlich. »Fahr hin! Das Senioren- und Pflegeheim heißt Carolinum Alsterblick.« Sie notierte Namen und Adresse auf einem Zettel und schob ihn ihrem Kollegen zu. »Aber verrate mir bitte noch, was deinen Sohn zum Film zieht. Will er nicht zur Polizei?«
»Auf keinen Fall möchte er Beamter werden. Lieber was Kreatives machen. Musiker, Schauspieler, Regisseur – so was. Er spielt ganz gut Gitarre und macht mit ein paar Gleichaltrigen regelmäßig Musik. In der Schule arbeitet er in einer Theater-AG mit. Hat schon den Puck in Shakespeares Sommernachtstraum gegeben.«
»Alle Achtung!«, staunte Marie. »Davon hast du mir noch nie erzählt. Das ist doch eine tolle Leistung. Vielleicht wird Luca noch berühmt. Und das Praktikum ist der Anfang seiner Karriere.«
Jan zuckte mit den Schultern. »Das hat sich erst in den letzten eineinhalb Jahren so richtig entwickelt. Seit er dann von dem Udo-Lindenberg-Film Mach dein Ding! gehört und den Trailer gesehen hat, war er nicht mehr zu bremsen. Bin gespannt, wie lange es anhält.«
»Das weiß man in dem Alter nie. Als Fünfzehnjährige wollte ich unbedingt Tierärztin werden. Aber als ich dann im Praktikum mit blutenden Wunden, ekligen Bandwürmern und tödlichen Tumoren zu tun bekam, habe ich mich ganz schnell umentschieden.« Sie deutete auf den Computermonitor. »Hast du mal die Firma gegoogelt, in der er sein Praktikum machen will?«
»Klar! Es musste unbedingt die Produktionsfirma sein, die den Lindenberg-Film macht. Letterbox. Hatte ich vorher nie gehört. Aber er hat es geschafft, da einen Vorstellungstermin zu bekommen. Darum müssen wir nach Hamburg.«
»Ist doch toll. Ich wünsche euch viel Erfolg. Und uns natürlich auch. Ich meine, wenn du bei der Gelegenheit tatsächlich mit Christina Börnsen ...«
Das Telefon auf ihrem Schreibtisch unterbrach sie. »Dirk Allmers«, erklärte sie nach einem Blick auf das Display, drückte auf die Taste für den Lautsprecher und meldete sich. »Hallo, Dirk, habt ihr schon was für uns? Jan hört mit.«
»Allerdings«, ertönte die Stimme des Kollegen aus dem Apparat. »Eine Mitarbeiterin des Hotels hat gestern im Auftrag von Börnsen einer Frau eine Information und eine Chipkarte überbracht. Bei der Nachricht ging es um einen Besuchstermin bei ihm, und mit der Karte konnte sie den Lift benutzen. Und zwar bis zum Penthouse.« Allmers machte eine Pause.
»Habt ihr den Namen?« Marie klang ungeduldig.
»Haben wir«, antwortete der Hauptkommissar. »Und noch etwas. Haltet euch fest! Der Verabredungstermin von Börnsen mit dieser Frau und die mutmaßliche Tatzeit stimmen überein.«
»Man muss auch mal Glück haben«, rief Jan Feddersen. »Schick uns Namen und Adresse der Dame aufs Handy! Damit wir ihr einen Besuch abstatten können.«

*
Die Erinnerungen an die Ereignisse auf Helgoland hatten Julia aufgewühlt. Sie versuchte, sich abzulenken, indem sie Hausarbeiten verrichtete – aufräumen, Waschmaschine füllen, Staub wischen, saugen, Fenster putzen. Am liebsten wäre sie zur Arbeit gegangen. Den Gedanken, im Krankenhaus anzurufen und sich zurückzumelden, verwarf sie jedoch gleich wieder. Es war schwer genug gewesen, während der großen Ferien Urlaub zu bekommen. Jeder wollte gern im Sommer verreisen. Als alleinerziehende Mutter mit einem nun schulpflichtigen Kind war sie erstmalig für den begehrten Zeitraum berücksichtigt worden.
Während sie die Scheiben des Küchenfensters polierte, wanderte ihr Blick immer wieder hinaus auf die Straße. Es erschien ihr wie ein böser Traum, dass Erik Börnsen aufgetaucht war. Noch einmal würde sie ihn nicht in ihre Wohnung lassen. Aber natürlich konnte sie auch nicht ständig Fahrbahn und Gehsteig vor dem Haus im Auge behalten. Gerade näherte sich aus Richtung Zollkaje ein grauer Mittelklassewagen in niedriger Geschwindigkeit. Wahrscheinlich suchte der Fahrer eine Hausnummer. Der Wagen stoppte direkt unter ihr. Beide Türen wurden geöffnet, zwei Personen in Julias Alter stiegen aus. Sie waren blond und sommerlich gekleidet. Die Frau warf einen Blick auf ihr Handy und deutete dann zu dem Mietshaus, in dem Julia wohnte. Ein mulmiges Gefühl beschlich sie. War das Polizei? Kamen Beamte in Zivil, um sie zu verhaften? Nein, dachte sie, das geht nicht. Ich muss mich um Leonie kümmern. Außerdem habe ich nichts getan. Plötzlich sah sie sich in einem fensterlosen Raum an einem schlichten Tisch, gegenüber zwei Polizeibeamte. »Nein«, beteuerte sie, »mit dem Tod von Herrn Börnsen habe ich nichts zu tun. Er lag schon unten auf dem Pflaster, als ich …« Sie erschrak. Damit würde sie zugeben, dass sie auf dem Dach des Hotels gewesen war. Unmittelbar nach dem Sturz. Das sollte sie besser für sich behalten. Oder machte sie sich damit erst recht verdächtig? Gab es Zeugen, die sie gesehen hatten?
Die Klingel riss sie aus ihren Gedanken. Sie erstarrte, der erste Impuls drängte sie, sich nicht zu rühren, Abwesenheit vorzutäuschen. Aber die Polizisten würden wiederkommen. Sie würden sie verdächtigen, wenn sie sich vor ihnen versteckte. War es nicht besser, offen mit der Situation umzugehen? Ja, ich war im Hotel. Ja, auch im Penthouse und ja, sogar auf dem Dach. Aber da lag er schon … Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Was sollte sie tun?
Es klingelte erneut. Zögernd schlich Julia zur Tür und legte einen Finger auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Ja bitte?«
»Frau Jacobs?«, meldete sich eine weibliche Stimme. »Hier ist Kriminaloberkommissarin Marie Janssen. Mein Kollege und ich würden gern mit Ihnen sprechen.«
Obwohl sich Julias Magen verkrampfte, drückte sie die Taste für den Summer, öffnete die Wohnungstür und lauschte ins Treppenhaus, in dem die Schritte der Besucher rasch näherkamen. Kurz darauf standen die Beamten vor ihr. Beide hielten ihren Ausweis hoch. »Guten Tag, Frau Jacobs«, begrüßte sie der Mann. Er war groß und blond und erinnerte sie an einen Schauspieler aus einer Fernsehserie. »Mein Name ist Jan Feddersen, Kriminalhauptkommissar. Meine Kollegin hat sich ja schon vorgestellt. Dürfen wir einen Moment hereinkommen?«
Julia nickte stumm, trat zur Seite und ließ die Tür aufschwingen. »Bitte!«
Wenig später saß sie in ihrem Wohnzimmer den Kriminalbeamten gegenüber. Ihr Herz schlug heftig, und sie spürte, dass ihre Handflächen feucht waren.
»Frau Jacobs«, begann der große Blonde, »Sie hatten gestern eine Verabredung mit dem Inhaber des Hotels Alte Liebe. Richtig?«
»Ja«, flüsterte Julia. »Das stimmt.«
»Wie kam es dazu?«
»Herr Börnsen wollte mich sprechen. Hat mir eine Angestellte ausgerichtet. Sie war vorgestern Abend hier und hat mir eine Chipkarte für den Aufzug gegeben. Ich sollte um zehn Uhr zu ihm kommen. Aber er war nicht da.«
»Sie waren also um zehn Uhr in Börnsens Wohnung?«, hakte die Kommissarin nach.
»An der Wohnungstür«, korrigierte Julia. »Nicht in der Wohnung. Ich habe geklingelt, aber niemand hat geöffnet. Da bin ich wieder gegangen.« Während sie die Lüge formulierte, schoss ihr die Frage durch den Kopf, ob sie irgendetwas angefasst und Fingerabdrücke hinterlassen hatte.
Die Beamten warfen sich kurze Blicke zu. »Herr Börnsen ist gestern vom Dach des Hotels gestürzt. Möglicherweise hat jemand nachgeholfen. Genau zu der Zeit, als sie dort waren«, erklärte der Kommissar.
Julia schlug die Hand vor den Mund. »Ist er … tot?«
»Ja«, antwortete der Kommissar, »der Sturz war tödlich.« Er sah sie fragend an. »In welcher Beziehung stehen beziehungsweise standen Sie zu Herrn Börnsen? Es ist ja eher ungewöhnlich, dass einer der führenden Hoteliers eine Angestellte losschickt, um einen Verabredungstermin überbringen zu lassen.«
Julia brach der Schweiß aus. Sollte sie zugeben, wie gut sie Ralf Börnsen kannte? Sie entschloss sich zu einer Lüge und zuckte mit den Schultern. »Ich kenne … kannte ihn kaum. Nur …«
»Nur?«
»Seinen Sohn. Erik. Aber das ist lange her. In den neunziger Jahren waren wir … in einer Clique.«
Die Polizistin nickte nachdenklich und fixierte sie. »Was könnte Ralf Börnsen von Ihnen gewollt haben?«
»Keine Ahnung.« Julia breitete die Arme aus. »Vielleicht war es wegen Erik.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Er hat mich schon mal auf ihn angesprochen. Vor ungefähr zehn Jahren.«
»Worum ging es da?«
»Um den Segeltörn, bei dem sein Sohn, dessen Freundin und ein Freund mit Börnsens Yacht verunglückt sind.«
»Was wissen Sie darüber?«
Erneut beschleunigte sich Julias Puls. Was damals geschehen war, hatte nichts mit Ralf Börnsen zu tun. Wieder flüchtete sie in eine Lüge. »Nichts. Nur das, was damals in der Zeitung stand.«
»Okay, Frau Jacobs.« Der Kommissar legte eine Visitenkarte auf den Tisch. »Wir müssen Sie bitten, kurzfristig in der Dienststelle an der Werner-Kammann-Straße vorbeizuschauen. Am besten noch heute. Wir brauchen Ihre Fingerabdrücke.« Er lächelte. »Das ist eine unvermeidliche Routinemaßnahme.«
»Wir können Sie auch gleich mitnehmen«, schlug seine Kollegin vor.
Julia nickte stumm. Ihr war klar, dass sie daran nicht vorbeikommen würde, und hoffte weiter inständig, keine Abdrücke hinterlassen zu haben.
»Gut.« Die Kommissarin stand auf. »Dann fahren wir jetzt.«

*
Statt auf ein schwarzes Stempelkissen, wie sie es aus Fernsehkrimis kannte, hatte Julia ihre Finger auf ein elektronisches Lesegerät legen müssen. Schnell und sauber waren ihre Abdrücke genommen worden, kaum länger als zwanzig Minuten hatte sie sich im Polizeigebäude aufgehalten. Die Beamten hatten sich freundlich verabschiedet und sie einfach so gehen lassen. Ohne den Satz, den die TV-Kommissare immer sagten. Halten Sie sich zu unserer Verfügung! Vielleicht kam das ja nur im Film vor. Trotzdem schlug ihr Herz noch immer bis zum Hals. Sie lenkte ihre Schritte in Richtung Fußgängerzone. Um sich ein wenig abzulenken, würde sie durch ein paar Geschäfte bummeln, sich vielleicht einen Eisbecher gönnen, zuvor aber bei Oliva die Bestsellerliste anschauen. Dort fand sie fast immer spannende Lektüre.
Neben der Buchhandlung am Kaemmererplatz gab es eine Reihe von Schaufenstern, in denen die jeweils aktuelle Ausgabe der Cuxhavener Nachrichten ausgehängt war. Wurde dort schon über Börnsens Sturz berichtet? Julia ignorierte die ersten Seiten mit den Berichten über den Sommerabend am Meer, stieß schließlich auf den gesuchten Artikel. Vom Dach gestürzt lautete die Schlagzeile. Dann: Bekannter Cuxhavener Hotelier verliert durch tragischen Unfall sein Leben. Hastig überflog sie den Text, suchte nach einem Hinweis auf den Hintergrund des Sturzes. Aber davon war nicht die Rede, schon gar nicht von der Möglichkeit eines Fremdverschuldens. Diese Information hatte die Polizei für sich behalten. War das Taktik? Oder hatten die Beamten ihr gegenüber geblufft, um sie aus der Reserve zu locken? Vielleicht gab es wirklich keinen Verdacht gegen sie und sie machte sich unnötig Sorgen. An diese Hoffnung klammerte sie sich und betrat die Buchhandlung. Wie immer nahm sie die Atmosphäre sofort gefangen. Schon als kleines Mädchen war sie eine Leseratte gewesen. Dieses Eintauchen in andere Welten hatte sie sich erhalten. Zielstrebig durchquerte sie den vorderen Bereich, um zur hauseigenen Bestsellerliste zu kommen. Ganz oben standen drei Kriminalromane. Ein Cuxland-, ein Küsten- und ein Neuwerk-Krimi. Sie konnte nicht widerstehen und nahm alle drei. Die Bücher, wusste sie, würden sie für viele Stunden ablenken.
Mit dem Buchpaket unter dem Arm schlenderte sie durch die Nordersteinstraße, der Kauf gab ihr das Gefühl, für den Abend und die nächsten Tage gut vorgesorgt zu haben. Weniger angespannt als zuvor schlenderte sie weiter, kaufte im Drogeriemarkt einen neuen Lippenstift, probierte in mehreren Geschäften T-Shirts an und ließ sich schließlich vor dem Eiscafé Da Dalto an einem freien Tisch nieder. Sie bestellte einen Mandarinenbecher und zog eins der Bücher aus der Tasche. Beim Kauf hatte sie nicht auf den Wortlaut der Titel geachtet, sondern sich an den Cover-Bildern orientiert, die ihr unbekannt waren. Als sie das Buch umdrehte, zuckte sie zusammen, glaubte für eine Sekunde an eine Halluzination. Hotel Alte Liebe prangte auf dem Umschlag. »Nein«, flüsterte sie. »Das kann nicht sein.« Ihr war zum Heulen und gleichzeitig zum Lachen zumute. Sie beschloss, den absurden Zufall als Ironie des Schicksals zu nehmen, und schob das Buch zurück in die Tüte. Ihr Leben war nun einmal mit der Familie Börnsen verbunden. Daran war nichts zu ändern.
Während Julia ihr Eis löffelte, beobachtete sie die Menschen um sie herum. Im Außenbereich des Eiscafés war jeder Platz belegt. Gesprächsfetzen, Geraune und Gelächter erfüllten die Luft. In Norderstein- und Segelckestraße drängten sich Einheimische und Touristen, leicht auseinanderzuhalten an der Geschwindigkeit, mit der sie sich fortbewegten. Ältere Paare blieben gelegentlich stehen und betrachteten den Findling, auf dem die Städtepartnerschaft mit Vannes mit der Jahreszahl 1963 verewigt war. Überhaupt schienen mehr ältere Feriengäste in der Stadt zu sein als junge Leute. Trotz Sommerferien waren Jugendliche in der Minderheit. Wahrscheinlich tummelten sich die Jüngeren an den Sandstränden von Döse, Duhnen und Sahlenburg.
Die süße Mischung aus Eis und Sahnelikör neigte sich rasch dem Ende zu. Julia erwog, noch einen Baileys Cup zu bestellen. Zum Glück musste sie weder auf ihre Figur noch auf ihren Kontostand Rücksicht nehmen. Leonies Erzeuger hatte ihr, um keine Unterhaltszahlungen leisten zu müssen, die Wohnung in der City Marina Cuxhaven gekauft, sodass sie keine Miete zahlen musste und mit ihrem Gehalt als Stationsschwester gut über die Runden kam. Ihre Mutter hatte sie vor dem Deal gewarnt. Julia hatte sich trotzdem darauf eingelassen und war froh darüber. Als Vater hätte der Mann ohnehin nicht in Erscheinung treten können. Für die Wohnung hatte er fast doppelt so viel ausgegeben, wie er an Unterhalt über siebzehn Jahre hätte zahlen müssen. Und inzwischen war der Wert der Immobilie deutlich gestiegen. Für sie war die Regelung vorteilhaft, auch wenn sie beim Standesamt »Vater unbekannt« hatte eintragen lassen müssen und Leonie ihn niemals kennenlernen würde. Nur fragen würde sie eines Tages.
Sie bestellte einen weiteren Eisbecher und schob die unangenehmen Gedanken beiseite. Um das Problem würde sie sich kümmern, wenn es so weit wäre. Jetzt musste sie erst einmal heil aus der Börnsen-Sache herauskommen. Das Gespräch mit den Polizeibeamten war weniger beunruhigend gewesen, als sie gedacht hatte. Natürlich mussten die Kriminalisten klären, wer in der Nähe des Tatorts gewesen war. Wirklich verdächtig war sie wohl nicht. Sonst hätte man sie stärker bedrängt, wahrscheinlich sogar festgenommen. Und wenn der wahre Täter gefasst war, wäre sie ohnehin aus dem Schneider.
Mit dem Baileys Cup ließ sie sich Zeit, genoss jeden einzelnen Löffel, indem sie die cremige Mischung langsam auf der Zunge zergehen ließ. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel und entwickelte erstaunliche Kraft. Julia rückte ein wenig zur Seite, um etwas mehr Schatten von einem der Sonnenschirme zu bekommen. In dem Augenblick schob jemand den freien Stuhl neben ihr näher heran und ließ sich nieder.
»Moin, Julia. Schöner Tag heute. Perfekt zum Eisessen. Oder?« Der bärtige Mann trug ein Basecap, das er tief ins Gesicht gezogen hatte. Auf den zweiten Blick erkannte sie ihn.
»Was willst du?«, zischte sie unwillig.
Erik deutete auf ihren Baileys Cup. »Das würde mir gefallen.«
»Dann bestell dir was«, entgegnete Julia. »Aber lass mich in Ruhe!«
»Du warst schon mal netter zu mir, Seeteufelchen.« Er drehte sich um und winkte der Bedienung.
Stumm starrte Julia auf ihr Eis. Der Appetit war ihr vergangen. Am liebsten wäre sie aufgestanden und gegangen. Aber sie musste noch bezahlen. Als die Serviererin an den Tisch trat und Erik bestellte, bat sie um die Rechnung.
»Du kannst mir ruhig noch ein bisschen Gesellschaft leisten«, schlug Erik vor und grinste. »Und mir berichten, was du heute so erlebt hast. Zum Beispiel bei den Bullen.«
»Spionierst du mir nach?«
»Was für ein hässliches Wort.« Erik lachte. »Ich behalte dich im Auge. Wie angekündigt.« Er beugte sich zu ihr hinüber und senkte die Stimme. »Also, was war los?«
»Nichts«, gab Julia unwillig zurück. »Die brauchten meine Fingerabdrücke. Das war alles.«
»Mehr nicht? Haben sie dich nicht in Verdacht wegen meines Alten?«
Julia zuckte mit den Schultern. »Anscheinend nicht.«
»Von mir war nicht die Rede?«
»Nein. Du bist ja schließlich tot.«
Erik kicherte. »Ein paar Tage muss ich es auch noch bleiben. Denk immer dran!«
»Wenn du derartig viel Wert darauf legst«, entgegnete Julia, »solltest du nicht hier sitzen. Jemand könnte dich erkennen.«
»Du willst mich loswerden«, grinste er. »Verständlich. Aber sonst … Niemand rechnet mit mir. Also sieht mich auch keiner. Ähnlichkeiten mit dem Erik von damals gibt es kaum noch.«
»Ich habe dich erkannt«, widersprach Julia.
Erik zuckte mit den Schultern. »Ausnahme. Und kein Wunder. Schließlich waren wir ja mal …« Er brach ab, als die Bedienung den Eisbecher vor ihm abstellte und Julias Rechnung auf den Tisch legte.
»Ich übernehme das«, erklärte Erik großzügig. »Bin ja Alleinerbe des großen Ralf Börnsen und demnächst Inhaber des führenden Hotels im Elbe-Weser-Dreieck.«
Wahrscheinlich hat er sogar Recht, dachte Julia und schüttelte unbewusst den Kopf über so viel Selbstgewissheit. Die Polizei würde ihn ins Visier nehmen, als Erbe war er automatisch verdächtig. Auch wenn die Ermittler nicht wussten, wozu Erik Börnsen fähig war. Wahrscheinlich hatte er auch Benjamin und Katharina auf dem Gewissen. »Was ist mit Kathi?«, zischte sie. »Hast du sie umgebracht? Und Benny?«
»Das mit Benny war ein Unfall. Hat sich ungeschickt auf dem Bootsdeck bewegt, den Baum an die Rübe gekriegt und ist über Bord gegangen.«
»Und Katharina? Ist die auch …?«
»Die dumme Kuh hätte sich beinahe selbst umgebracht. Wollte ihn unbedingt retten und ist hinterhergesprungen. Ich habe nach den beiden gesucht und Kathi nach zwanzig Minuten aus dem Wasser gezogen. Benny ist nicht mehr aufgetaucht.«
»Ruft man da nicht über Funk die Seenotrettung zu Hilfe?«
Erik winkte ab. »Bis die da gewesen wären … Benny war nicht mehr zu helfen.«
Julia glaubte ihm nicht, wollte sich aber auch nicht vorstellen, was damals auf der Yacht passiert sein konnte. »Jedenfalls bist du für seinen Tod verantwortlich«, murmelte sie. Die aufkommenden Bilder schob sie energisch zur Seite. Zwei Dinge interessierten sie noch. »Wo warst du die ganze Zeit? Und was ist mit Kathi?«
»Wir waren zusammen in Portugal. Sie ist dort bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Hab da ein Hotel aufgebaut. Aber irgendwann hat es mich in die Heimat gezogen. Dachte, dass der Alte einen Nachfolger braucht. Außerdem habe ich erfahren, dass er meine Mutter durch einen Unfall …« Er brach ab. Julia glaubte, einen Schatten zu erkennen, der sich über seine Miene gelegt hatte. »Egal. Jedenfalls bin ich wieder hier. Und jetzt kommt es darauf an, dass du mir nicht in die Quere kommst. Also denk dran, ich behalte dich im Auge!«
Julia lag eine bissige Antwort auf der Zunge, aber sie beherrschte sich, nahm einen Geldschein aus ihrem Portemonnaie, legte ihn auf den Tisch, griff nach der Büchertüte und stand auf. »Einladen lasse ich mich von dir nicht.« Fast wäre sie über den Stuhl eines anderen Gastes gestolpert, als sie sich eilig durch die Tischreihen drängte. Ohne sich umzudrehen, überquerte sie den Vanneter Platz in Richtung City Center.