Kapitel 9
Wie ein Pflegeheim sieht das nicht gerade aus, dachte Jan Feddersen, als er das Carolinum Alsterblick erreichte. Die Villa, die ihren Ursprung offenbar in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts hatte, war sehr aufwendig restauriert. Ihm fielen die Fenster auf, die ganz im Stil des Originals gehalten, aber mit Dreifachverglasung versehen worden waren. Der Eingangsbereich war über eine breite Treppe zu erreichen und entsprach äußerlich ebenfalls der Architektur der Gründerzeit. Doch als er sich den gläsernen Türen näherte, glitten diese geräuschlos zur Seite.
Er betrat eine Halle, die an die Lobby eines Erste-Klasse-Hotels erinnerte. Auch hier waren Elemente der historischen Epoche mit moderner Ausstattung verschmolzen. Es gab einen geschwungenen Empfangstresen mit mehreren Monitoren, hinter denen in dezentem Blau gekleidete Angestellte hantierten. Bequeme Cocktailsessel, Tische und Vitrinen aus glänzendem Nussbaum verbreiteten eine Atmosphäre gediegener Eleganz. Aus verborgenen Lautsprechern erklang leise klassische Musik. Die wenigen Bewohner, die sich in dem Raum aufhielten, wirkten keineswegs pflegebedürftig, waren allerdings durchweg betagt und zeigten durch Kleidung, Schmuck und andere Accessoires ihre Zugehörigkeit zur finanziellen Oberklasse. Jan fragte sich, ob Marie eine falsche Auskunft bekommen hatte. Sicher gab es in diesem Haus auch medizinische Versorgung, aber geistig oder körperlich beeinträchtigte Menschen wurden hier wohl eher nicht betreut.
Er trat an den Empfang. »Guten Tag. Mein Name ist Jan Feddersen«, stellte er sich vor. »Ich würde gern mit Frau Christina Börnsen sprechen.«
»Sind Sie ein Angehöriger?«, fragte die Angestellte und musterte ihn kritisch. Ihr Blick blieb an dem Werbeprospekt der Filmproduktion Letterbox hängen, der aus Jans Jackentasche ragte. Augenblicklich änderte sich ihr Ausdruck. Von skeptisch-zurückhaltend zu freundlich-neugierig. »Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor. Sind Sie nicht der Kommissar aus …?« Sie brach ab und schlug die Hand vor den Mund. »Entschuldigung. Das geht mich nichts an. Ich dachte nur gerade … Wir haben einige bekannte Schauspieler bei uns.« Jan versuchte ein verständnisvolles Grinsen. Nach einer Schrecksekunde, sie könnte seinen Beruf gemeint haben, war er zum ersten Mal dankbar für die Ähnlichkeit mit einem Fernsehdarsteller. Entschuldigend strahlte sie ihn an. »Frau Börnsen wird sich freuen. Ich melde Sie an.« Sie griff zu einem Telefonhörer.
Wenig später saß Jan Feddersen der Witwe in ihrem Apartment gegenüber. Es war größer als seine Wohnung in Cuxhaven, stilvoll eingerichtet und mit teuren Accessoires ausgestattet. Christina Börnsen trug ein tief ausgeschnittenes champagnerfarbenes Sommerkleid und hatte das kastanienrote Haar zu einer kunstvollen Frisur aufgesteckt. Fasziniert betrachte er ihr perfekt geschminktes Gesicht. Auffallend waren die kräftigen, scharf konturierten Augenbrauen, darunter große dunkle Augen, hohe Wangenknochen, eine schmale Nase und volle, fein geschwungene Lippen. Sie musste deutlich jünger sein als ihr Mann. Eine attraktive Frau. Wenn nicht der Rollstuhl wäre. Darin hatte sie ihn an der Tür ihres Apartments empfangen, ihn freundlich begrüßt, neugierig gemustert und mit einem schwer zu deutenden Ausdruck zu einer Sitzgruppe gebeten. »Bitte nehmen Sie Platz! Was darf ich Ihnen bringen lassen? Tee? Kaffee? Cognac?«
Jan lehnte höflich ab und legte seinen Dienstausweis auf den Tisch. »Ich habe hier keinerlei Befugnisse. Vielen Dank, dass Sie mich trotzdem empfangen.«
Christina Börnsen schmunzelte. »Sie wurden mir als Fernsehkommissar angekündigt. Ein echter Polizist ist natürlich viel interessanter. Andererseits – mit einem jungen Schauspieler würde ich mich auch gern unterhalten. Wir haben hier einige Damen und Herren aus der Branche, aber die sind durchweg … na ja … jenseits von Gut und Böse. Wie auch immer … Sie kommen aus Cuxhaven? Wegen meines Mannes?«
»Sie wissen …?«
»Mein Schwiegervater hat mich angerufen«, bestätigte sie. »Er sprach von einem Unfall. Aber daran glaube ich nicht. Ein Ralf Börnsen fällt nicht einfach so vom Dach. Und Sie wären nicht hier, wenn Sie nicht ebenfalls Zweifel hätten. Oder?«
»So ist es.« Verblüfft sah Jan sie an. »Aber Sie scheinen nicht gerade … Ich meine, ich habe …«
»… mit einer trauernden Witwe gerechnet?«, unterbrach sie ihn. »Tut mir leid. Die kann ich Ihnen nicht bieten. Das vorzeitige Ableben meines Mannes ist bedauerlich und traurig – wie jeder Todesfall. Besonders wenn er so unerwartet kommt. Aber wir sind schon lange – wie man so schön sagt – von Tisch und Bett getrennt.« Sie deutete auf ihren Unterleib. »Außerdem verdanke ich ihm das hier. Querschnittslähmung.«
Christina Börnsens Offenheit verunsicherte Jan. »Können Sie mir trotzdem etwas über Ihren Mann erzählen? Ich meine über sein persönliches und berufliches Umfeld, Feindschaften, Konkurrenten, finanzielle Situation und vielleicht auch aktuelle Beziehungen?«
»Wollen Sie nicht doch etwas trinken?«, entgegnete Christina Börnsen und lächelte aufmunternd. »Einen Prosecco vielleicht?«
Jan zögerte. Er spürte den auffordernden Charakter ihres Vorschlags, wollte sie nicht brüskieren. Unter anderen Umständen hätte er es darauf angelegt, mehr als ein Glas mit ihr zu leeren. Aber sie war eine Zeugin. Und sie saß im Rollstuhl.
»Ich sehe Ihnen an«, fuhr sie fort, »dass Sie nicht abgeneigt sind. Aber Sie trauen sich nicht.« Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf den Ausweis. »Sie sind doch nicht wirklich im Dienst, oder?«
»Wie man’s nimmt.« Jan spürte, wie sein Widerstand schmolz. Etwas hilflos breitete er die Arme aus.
»Dann nehmen wir’s mal so.« Sie tippte auf das Display eines flachen Telefons. »Einen Prosecco bitte. Mit zwei Gläsern.«
Kurz darauf klopfte es an der Tür, eine junge Frau erschien und schob einen Servierwagen ins Zimmer. Der Valdobbiadene stand in einem Sektkühler, die Gläser waren beschlagen.
Nachdem die Bedienung eingeschenkt hatte und gegangen war, hob Christina Börnsen ihr Glas. »Auf den Erfolg Ihrer Ermittlungen.« Sie nahm einen Schluck und fixierte Jan über den Rand ihres Glases. »Bitte nennen Sie mich Christina! Darf ich Jan zu Ihnen sagen?«
Jan hob die Schultern. »Wenn Sie es wünschen.«
»Gut.« Sie lächelte zufrieden. »Bevor ich Ihnen von meinem Mann erzähle, verraten Sie mir bitte ein bisschen über sich. Kriminalhauptkommissar aus Cuxhaven – so viel weiß ich. Ihr Alter kann ich schätzen. Jetzt wüsste ich gern noch etwas mehr. Sind Sie verheiratet? Haben Sie Kinder? Was machen Sie, wenn Sie nicht ermitteln?«
»Ich bin gern mit dem Segelboot unterwegs«, antwortete Jan. »Im Übrigen bin ich geschieden und habe einen Sohn. Bis vor zwei Jahren hat er bei seiner Mutter gelebt. Dann ist ihm eingefallen, dass das Leben bei seinem Dad cooler sein könnte. Jetzt muss ich mich um ihn kümmern. Er ist zwar mittlerweile siebzehn und aus dem Gröbsten raus, braucht aber immer noch viel Zuwendung. Nächstes Jahr macht er Abitur, zurzeit geht es um die Berufsfindung.«
Christina Börnsen nickte, ihre Miene hatte sich bei Jans letzten Worten verdunkelt. »Ich habe auch einen Sohn. Allerdings weiß ich nicht, ob er noch lebt. Er ist vor siebzehn Jahren spurlos verschwunden.«
Jan leerte sein Glas und stellte es ab. »Davon habe ich gehört. Er soll mit einer Segelyacht verunglückt sein. Aber man hat ihn nicht gefunden?«
»So ist es«, bestätigte Christina Börnsen. »Er ist mit Gleichaltrigen unterwegs gewesen, einer von ihnen wurde später tot angeschwemmt. Darum hat man angenommen …« Sie unterbrach sich und füllte die Gläser auf. »Ich glaube aber nicht, dass das Boot gesunken ist. Ein Bekannter aus der Segler-Vereinigung Cuxhaven hat uns versichert, es gesehen zu haben. Ein Jahr später. In Holland, im Hafen von Katwijk. Die Yacht hatte neue Eigner und einen neuen Namen. Aber Segler erkennen ein Boot trotzdem. Über den Vorbesitzer hat er nichts herausbekommen, der Kauf war über eine Agentur gelaufen, und die konnte zum Verkäufer angeblich keine Angaben machen. Leider wollten Ihre Kollegen dem Hinweis nicht nachgehen, sie hatten den Fall bereits abgeschlossen. Mein Mann war übrigens auch gegen neue Nachforschungen. Wegen der Versicherung. Die hatte eine halbe Million gezahlt.«
»Obwohl es um seinen Sohn ging?«
Christina Börnsen zuckte mit den Schultern, griff nach ihrem Glas und lächelte sibyllinisch. »In dieser Hinsicht war er, glaube ich, nie ganz sicher. Ich übrigens auch nicht. Erik hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihm. Die beiden haben sich auch nicht sonderlich gut verstanden. Nachdem Erik mit Ralfs neuer Yacht und zwei seiner Kreditkarten verschwunden ist, war Ralf richtig wütend.« Sie nahm einen Schluck und fuhr fort: »Für mich hatte mein Mann wenig Zeit und ich war, wie man so schön sagt, kein Kind von Traurigkeit. Später hat er sich revanchiert und sich ständig neue Eskapaden geleistet. Je älter wir wurden, desto jünger waren die Damen. So gesehen haben wir eine ausgewogene Ehe geführt.«
»Wissen Sie etwas über aktuelle … Beziehungen?«
»Da muss ich Sie enttäuschen. Ich habe mich nie ernsthaft für Ralfs Romanzen interessiert. Einmal allerdings muss es etwas mehr gewesen sein. Das ist aber schon lange her. Neun Jahre nach Eriks Verschwinden. Unmittelbar nach dem Unfall.« Sie deutete auf ihren Rollstuhl. »Wir kamen von einem Empfang, Ralf hatte getrunken und ist viel zu schnell gefahren. Bei einem riskanten Überholmanöver ist es passiert. Ich kam ins Städtische Krankenhaus. Pflichtgemäß hat er mich dort besucht. Und eine der Krankenschwestern kennengelernt. Eigentlich nichts Besonderes, ich glaube, es war so eine Art Torschlusspanik. Schließlich war er über fünfzig. Ein knappes Jahr später hatte er mehrere Termine beim Notar und es gab ungewöhnliche finanzielle Transaktionen. Damals habe ich das natürlich nicht mitbekommen.«
Wieder staunte Jan über seine Gesprächspartnerin. Ihre Offenheit erleichterte es ihm, die nächste Frage anzusprechen. »Obwohl Ihre Beziehung so … unabhängig war, finanziert … ich meine, hat Ihr Mann Ihren Aufenthalt hier …«
»Nein.« Sie lachte leise. »Das musste er nicht. Ich habe mein eigenes Geld. Mir gehören hier in Hamburg mehrere Häuser in bester Lage. Ich weiß ehrlich gesagt, nicht, wohin mit der ganzen Kohle.« Wie zur Entschuldigung hob sie beide Hände. »Nicht selbst erarbeitet, alles geerbt. Meine Eltern sind im Jahr 2000 beim Absturz der Concorde in Paris ums Leben gekommen.«
»Das muss schwer für Sie gewesen sein,« sagte Jan.
»Längst verarbeitet.« Christina Börnsen winkte ab. »Aber Sie wollten sicher noch ein bisschen mehr über Ralf erfahren. Und wahrscheinlich fragen Sie sich, warum ich mich nicht von ihm habe scheiden lassen.«
Jan zögerte einen Moment. »Also … wenn es für Sie in Ordnung ist?«
Christina Börnsen winkte ab. »Letzteres ist ziemlich einfach. Es gab keinen Grund für eine Scheidung. Keinen finanziellen, keine Versorgungsansprüche, keine neue Ehe, keine unmündigen Kinder. Dagegen sprach das Ansehen der Familie, das vielleicht gelitten hätte. Meinem Schwiegervater hätte eine Scheidung missfallen. Er legt großen Wert auf Wahrung gesellschaftlicher Konventionen. Mir selbst war der Familienstand nicht wichtig.« Sie zuckte mit den Schultern und deutete auf ihren Rollstuhl. »Ralf hätte sich schwergetan, mich in diesem Zustand allein zu lassen. Er ist … war im Grunde anständig. – Was interessiert Sie noch?«
»Was ich vorhin erwähnt habe. Berufliches Umfeld, Feindschaften, Konkurrenten. Gibt es da vielleicht Anhaltspunkte für ein mögliches Motiv?«
Christina Börnsen antwortete nicht gleich. Mehrere Sekunden schien sich ihr Blick nach innen zu wenden. Schließlich sah sie ihn an. »Ich weiß, dass Sie nichts ausschließen können und in alle Richtungen ermitteln müssen. Aber das berufliche Umfeld können Sie sich sparen. Gegenüber Geschäftspartnern, auch Konkurrenten, war er immer ausgesprochen fair und entgegenkommend.«
»Also können Sie mir gar keinen Hinweis geben?«, fragte Jan noch einmal nach.
Erneut schien Christina Börnsen in sich zu versinken. »Vielleicht doch«, murmelte sie und sah wieder auf. »Am Vorabend des Tages, an dem mein Mann ums Leben gekommen ist, hat er mich angerufen – was so gut wie nie vorkam – und mir berichtet, jemand hätte behauptet, er oder sie habe unseren Sohn gesehen. Was ja eigentlich nicht sein kann. Aber derjenige hat behauptet, Erik habe jetzt einen Vollbart.«
»Und das macht die Aussage glaubhafter?«, zweifelte Jan.
»Ich weiß es nicht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber wenn ihn jemand nach so langer Zeit wiedererkennt, obwohl er einen Bart trägt, muss derjenige mit seinem Anblick sehr vertraut sein. Und wenn er sich bei meinem Mann meldet, muss er sich sehr sicher sein. Das habe ich Ralf auch gesagt. Er wollte der Sache nachgehen. Aber dann …« Sie breitete die Arme aus. »Einen Zusammenhang mit seinem Tod kann ich zwar nicht erkennen, aber vielleicht bringen Ihre Ermittlungen Licht in das Dunkel. Und wenn dabei herauskäme, dass mein Sohn noch lebt, wäre das wunderbar.«
»Wir werden die Information berücksichtigen«, behauptete Jan, obwohl er keine Vorstellung davon hatte, wie die fragwürdige Aussage zur Aufklärung des Falles beitragen sollte. »Ich danke Ihnen jedenfalls für Ihre Offenheit.« Er stand auf.
Christina Börnsen griff nach seiner Hand. »Jan, werden Sie mich informieren, wenn Sie etwas herausfinden? Ich meine nicht nur den Tod meines Mannes, sondern auch … Sie wissen schon.«
»Selbstverständlich«, versicherte Jan und verabschiedete sich höflich unter Hinweis auf seinen Sohn, den er im Stadtteil Tonndorf abholen müsse. In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Eine Frage noch, Frau … äh … Christina. Wer profitiert vom Tod Ihres Mannes?«
»Finanziell meinen Sie?« Sie hob die Schultern. »Ich weiß nicht, ob mein Mann ein Testament gemacht hat. Wenn nicht, bin ich wohl die Erbin. Und Erik – wenn er wirklich noch am Leben sein sollte und man ihn findet.«

*
Luca strahlte, als er aus dem Gebäude der Filmproduktion an der Jenfelder Allee trat, vor dem sein Vater auf ihn gewartet hatte. Jan hob beide Daumen. »Gratuliere. Anscheinend hat sich die Fahrt nach Hamburg gelohnt.«
»Absolut. Alles total easy hier. Der Laden ist voll krass. In den Herbstferien kann ich schon mal reinschnuppern und direkt nach dem Abi das Praktikum anfangen.«
»Super.« Jan lächelte angesichts der ungewohnten Begeisterungsfähigkeit seines Sohnes. »Wir müssen allerdings noch klären, wo du wohnen kannst. Oder willst du jeden Tag von Cuxhaven nach Hamburg fahren?«
»Ich komme schon irgendwo unter«, verkündete Luca optimistisch. »In ’ner WG. Oder in der Jugendherberge. – Und wie war’s bei dir?«
»Auch gut. Habe eine interessante Frau kennengelernt.«
»Aha.« Luca grinste verschwörerisch. »Wird auch mal Zeit. Du kannst Mama nicht ewig nachtrauern.«
Jan schüttelte den Kopf. »Ich trauere deiner Mutter nicht nach. Außerdem ist die Dame, mit der ich gesprochen habe, für mich als Zeugin interessant, nicht als Frau.«
Der Gesichtsausdruck seines Sohnes zeigte Jan, dass er ihm nicht glaubte. »Wirklich«, bekräftigte er und deutete, um weiteren Bemerkungen zu entgehen, auf eine Bushaltestelle. »Wir müssen los. Bis zum Hauptbahnhof brauchen wir mindestens eine halbe Stunde.«
Auf der Fahrt nach Cuxhaven berichtete Luca ungewohnt lebhaft von seinen Eindrücken und Begegnungen bei der Filmproduktionsfirma. Jan hatte Mühe, ihm zu folgen, denn seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Zu Christina Börnsen und dem Hinweis auf ihren Sohn.

*
»Wie war’s in Hamburg?«, fragte Marie Janssen am nächsten Morgen, als sie ins Büro kam. »Hat Luca den Praktikumsplatz bekommen?«
Jan Feddersen lehnte sich auf seinen Bürosessel zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Hat er. Und ist total begeistert. Vielleicht ist das doch der richtige Weg für ihn.«
»Und sonst? Hast du mit Frau Börnsen gesprochen?«
»Ja. Es war beeindruckend.«
»Das Heim oder die Frau?«
»Beide.« Jan grinste. »Aber als Heim würde ich das Haus nicht bezeichnen. Eher als Luxushotel für Besserverdienende. Sehr viel besser Verdienende. Ich habe in einem Prospekt geblättert. Allein fürs Wohnen bezahlst du zwischen fünftausend und neuntausend Euro im Monat, je nach Größe des Apartments. Und Frau Börnsen bewohnt eins der größten.«
Marie schob die Unterlippe vor. »Dass die Börnsens nicht am Hungertuch nagen, ist mir klar. Aber ob ihr Hotel so viel abwirft …«
Jan winkte ab. »Christina hat selbst von Haus aus genug Kohle. So viel, dass sie nicht weiß, wohin damit. Ihre Worte. Die ist … war nicht von ihrem Mann abhängig. Weder finanziell noch in anderer Hinsicht. Eine ungewöhnliche Frau.«
»Christina?« Verblüfft sah Marie ihren Kollegen an.
Er neigte verlegen den Kopf. »Sie bestand darauf, dass ich sie so nenne.«
»Aha.« Marie verzog das Gesicht. »Und in welcher Hinsicht ist sie noch ungewöhnlich?«
Jan zögerte mit der Antwort. »Sie ist … erstaunlich offen.«
»Warum lebt sie überhaupt dort? Ich hatte den Eindruck, es handelt sich bei diesem Carolinum Alsterblick um ein Pflegeheim.«
»Sie sitzt im Rollstuhl. Eine ausgesprochen gutaussehende Frau, aber querschnittsgelähmt.«
»Habt ihr über Ralf Börnsen gesprochen?«
»Ja, haben wir«. Jan nickte nachdrücklich. »Sie glaubt nicht an einen Unfall, konnte aber keinen Hinweis auf einen möglichen Täter geben. Ein Motiv aus seinem geschäftlichen Umfeld schließt sie aus. Sie macht ihren verstorbenen Mann für ihre Querschnittslähmung verantwortlich. Ein von ihm verschuldeter Autounfall. Aber sie scheint ihm das nicht – oder nicht mehr – nachzutragen. Als Täterin kommt sie ohnehin nicht in Betracht.«
»Sie könnte jemanden beauftragt haben«, wandte Marie ein. »Mit ihren finanziellen Möglichkeiten …«
»Das können wir nicht ausschließen«, bestätigte Jan. »Aber ich glaube nicht, dass sie Hassgefühle ihrem Mann gegenüber hegt. Die beiden haben offenbar eine sehr freie Beziehung gelebt. Jeder hatte seine Affären, ohne den anderen mit Eifersucht zu verfolgen. Interessant war noch ein Hinweis auf den gemeinsamen Sohn, der ja seit vielen Jahren verschollen ist. Angeblich hat ihn jemand in Cuxhaven gesehen. Ralf Börnsen hat diese Information am Tag vor seinem Ableben erhalten und sie an seine Frau weitergegeben. Das passt zu einer anderen Geschichte, die Christina erzählt hat. Danach ist die angeblich gesunkene Segelyacht später noch gesehen worden. Wir sollten wirklich versuchen, Röverkamp und Christiansen für Recherchen zu dem Fall von damals zu gewinnen.«
Marie nickte. »Mit beiden habe ich telefoniert. Du glaubst gar nicht, wie schwer es war, einen gemeinsamen Termin zu finden. Die sind ständig auf Achse. Machen mit ihren Frauen große und kleine Reisen oder radeln zu zweit durchs Elbe-Weser-Dreieck. Außerdem haben sie jede Menge Termine und Verabredungen. Arztbesuche und Physiotherapie, Theater und Kino, Lesungen und Kabarett. Ruhestand habe ich mir immer anders vorgestellt.«
Jan nickte nachdenklich. »Wenn die erst in der nächsten Woche anfangen …«
»Keine Sorge«, unterbrach Marie ihren Kollegen. »Ich habe Konrad und Claus-Peter erklärt, worum es geht. Wie ich die beiden kenne, sind sie schon dabei, ihre Fühler auszustrecken. Wenn sie an die alten Akten kommen und tatsächlich etwas herausfinden, liefern sie uns schon bald die Information.«
»Okay. Das wäre super.« Jan zog sein Smartphone aus der Tasche. »Wann und wo treffen wir sie?«
»Übermorgen um siebzehn Uhr dreißig am Dorumer Tief. Zum Essen in der Strandhalle. Ich hoffe, du hast noch nichts vor.«
»Ich glaube nicht.« Er wischte über das Display. »Nö. Passt. – Ist das nicht da, wo du öfter zum Kitesurfen bist? Dorum-Neufeld?«
»Genau«, bestätigte Marie. »Und manchmal fahre ich mit Felix und Nele zum Essen hin. Der Weg lohnt sich.«

*
Mit gemischten Gefühlen hatten Konrad Röverkamp und Claus-Peter Christiansen das Polizeigebäude an der Werner-Kammann-Straße betreten. Viele Jahre hatten sie hier gemeinsam Kriminalfälle gelöst. Inzwischen saßen andere in ihren Büros, aber sonst schien alles beim Alten. Sogar der Geruch im Treppenhaus war unverändert. Nachdem sie ihre Sonderausweise an der Wache gezeigt hatten, schlichen sie wie konspirative Eindringlinge durch das Gebäude. Keinesfalls wollten sie Christiansens Nachfolger, Kriminalrat Lütjen, begegnen. Denn dann hätten sie erklären müssen, an welchem der unaufgeklärten Altfälle sie arbeiteten, und hätten dem Lütten eine Lügengeschichte aufgetischt.
Im Keller hatte man ihnen einen provisorischen Arbeitsplatz eingerichtet. Durch ein schmales Fenster fiel nur wenig Licht in den Raum. Aber im Gegensatz zu den Büros in den oberen Etagen war es hier angenehm kühl. In diesen Tagen ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Der hölzerne Tisch, auf dem die Ordner mit den Cold Cases gestapelt waren, hatte schon bessere Zeiten gesehen. Auch den schlichten Stühlen sah man ihr Alter an. Doch die pensionierten Kriminalisten hatten keinen Blick für Möbel und sonstige Einrichtungsgegenstände. Röverkamp betätigte einen Schalter, eine Leuchtstoffröhre begann zu flackern, flammte schließlich auf und warf kühles Licht auf die Akten. Sofort griff Christiansen zum obersten Aktendeckel. »Die Kollegen haben tatsächlich schon vorgearbeitet«, stellte er zufrieden fest und reichte den Hefter an Röverkamp weiter. »Das sind sie. Ermittlungsakte, Spurenakte, Vernehmungsakte und so weiter und so fort. Alles da. Aber auch alle sehr dünn.« In dem Augenblick klopfte es an die Tür.
Die Männer sahen sich an, legten die Ordner zurück und stellten sich mit dem Rücken vor den Tisch. »Herein«, rief Christiansen. Vorsichtig wurde die Tür geöffnet, dann erschienen ein blonder Haarschopf und das freundliche Gesicht einer Frau. Im nächsten Augenblick betrat Polizeihauptkommissarin Anne Lüken den Raum. »Moin, ihr beiden. Habt ihr die Unterlagen gefunden? Dirk und Björn haben einen halben Tag gesucht, aber dann konnten sie die Akten doch noch ausgraben, ohne dass der Lütte was davon mitgekriegt hat.«
»Moin, Anne«, grüßten die Pensionäre wie aus einem Mund zurück. »Dann sag mal den Kollegen einen schönen Dank«, fügte Claus-Peter Christiansen hinzu, und Konrad Röverkamp fuhr fort: »Schön, dass du da bist. Leistest du uns ein bisschen Gesellschaft?«
Bedauernd breitete die Pressesprecherin die Arme aus. »Muss wieder nach oben. Felix Dorn von den Cuxhavener Nachrichten kommt gleich. Der will Informationen zum Todesermittlungsverfahren Börnsen. Wollte nur mal sehen, ob bei euch alles in Ordnung ist. Und ob ihr noch irgendwas braucht. Soll ich euch was zu trinken bringen?«
»Danke. Nicht nötig.« Christiansen deutete auf eine abgewetzte Aktentasche. »Wir sind Selbstversorger.«
»Das habe ich geahnt.« Anne Lüken schmunzelte und verabschiedete sich.
Die Kriminalbeamten im Ruhestand machten sich an die Arbeit. Nach einer Stunde unterbrachen sie das Studium der Unterlagen, um sich den Inhalt der Thermosflasche aus Christiansens Tasche zu teilen. »Dein Eistee schmeckt richtig gut«, bemerkte Röverkamp. »Man könnte meinen, dass da ein bisschen … Aroma drin ist.«
Sein ehemaliger Chef zeigte mit Daumen und Zeigefinger einen Zentimeter an. »Nur so viel. Für den Geschmack eben.«
»Sehr gut«, stellte Röverkamp fest. »Nächstes Mal bringe ich wieder was mit.«
»Nee, lass mal!« Christiansen leerte seinen Becher. »Meine Frau lässt mich nicht ohne Getränk aus dem Haus. Mir ist es meistens zu viel.«
Zweifelnd betrachtete Röverkamp die Thermosflasche. »Und sie tut dir Rum rein?«
Christiansen grinste. »Nee, dafür muss ich selbst sorgen.« Er leerte seinen Becher und wandte sich wieder seinem Aktenstapel zu.
Eine weitere Stunde später unterbrach Konrad Röverkamp das Schweigen. Er tippte auf den Ordner, der vor ihm lag. »Ich glaube, ich habe was.«