Als Polizeikommissar Daniel Lindskog sich für den Tag fertig macht, schlafen Ida und das Baby noch unter der mintgrünen Decke im Doppelbett. Ida liegt auf der einen Seite, ihr langes, dunkles Haar ist wirr und auf dem Kissen ausgebreitet. Alice liegt auf dem Rücken und schnauft mit halboffenem Mund.
Daniel steht an der Bettkante und betrachtet seine Tochter. Die Liebe zu Alice hat einen Raum in seinem Herzen geöffnet, von dem er nichts gewusst hatte. Wenn er ihre winzigen Finger berührt, passiert etwas. Er wird ein anderer Mensch, ein Mann, der für sein Kind durchs Feuer gehen würde.
Sechsunddreißig Jahre lang hatte er keine Ahnung, was bedingungslose Liebe bedeutet. Es gibt nichts, was er nicht für sie tun würde.
Gleichzeitig ist die Stille eine Erleichterung. Alice war in dieser Nacht sehr oft wach. Selbst in einer großen Dreizimmerwohnung wie ihrer gibt es vor dem untröstlichen Geschrei eines von Koliken geplagten Säuglings kaum ein Entkommen. Nach den ersten Monaten sind sie alle erschöpft.
Daniel hat Schlaf in den Augen und Blei im Körper, als er die Dusche aufdreht. Das siedend heiße Wasser genügt nicht, um in Gang zu kommen, erst als er auf eiskalt umstellt, erweckt ihn der Schock zum Leben.
Er zieht sich richtig warm an, Jeans und einen dicken dunkelblauen Wollpullover über dem Shirt. Als Kommissar braucht er keine Uniform zu tragen, aber warme Kleidung ist in dieser Jahreszeit ein Muss. Man weiß nie, wann man hinaus in die Kälte muss. Deshalb trägt er seit einigen Jahren einen Vollbart, der schützt tatsächlich das Kinn ein wenig. Außerdem findet er, dass der Bart richtig gut aussieht, auch wenn er das nie sagen würde.
Um Alice nicht zu wecken, verzichtet er aufs Frühstück. Er kann auf der Wache einen Kaffee trinken, besonders hungrig ist er morgens sowieso nicht. Es ist besser, Alice schlafen zu lassen, denn dann schläft Ida auch. Sie hat immer noch mit der Umstellung zu kämpfen, ist überwältigt davon, jetzt Mutter zu sein, und in ihrer Rolle noch unsicher. Dass Daniel tagsüber weg ist, macht die Sache nicht besser.
Sie hatten schon ein paarmal ordentlich Krach, im Grunde über Kleinigkeiten, obwohl sie sonst nie gestritten haben.
Daniel hat oft Schuldgefühle. Sie hatten kein Kind geplant, jedenfalls nicht so schnell, nach nur einem halben Jahr Beziehung. Als Alice sich ankündigte, hatten sie kaum Zeit gehabt, sich richtig kennenzulernen.
Ida hatte von Abtreibung gesprochen, aber Daniel erfüllte die Vorstellung, Vater zu werden, mit Freude. Er hatte sich seit Jahren danach gesehnt.
Ida ist zehn Jahre jünger. Sie war eine coole Skilehrerin, auf einem ganz anderen Platz im Leben, als sie sich an einem Samstag im Bygget kennenlernten, dem angesagtesten Club in Åre.
Bei der Erinnerung daran wird ihm immer noch ganz warm ums Herz. An dem Abend war sie temperamentvoll, so süß, dass er die Augen nicht von ihr lassen konnte. Sie tanzten die ganze Nacht durch, und dann durfte er sie nach Hause bringen. Er hatte sich sofort in sie verliebt, und das Gefühl war stärker als alles, was er je empfunden hatte.
Ida hat ihn zum Leben erweckt, sie hat mit ihm verrückte Scooterausflüge und Picknicks im Gebirge gemacht. Sie ist in der Gegend aufgewachsen und kennt fast jeden hier. Erst mit Ida hat er angefangen, sich in Åre heimisch zu fühlen, obwohl er schon seit zwei Jahren hier wohnt.
Ein Kind mit Ida zu haben, wäre fantastisch. Das war seine erste Reaktion, als sie ihm den Stick mit den beiden blauen Strichen zeigte. Er wollte es so sehr und malte sich ihre gemeinsame Zukunft in leuchtenden Farben aus.
Jetzt, wo sie so müde und erschöpft ist, schleichen sich Schuldgefühle ein.
Daniel verlässt die Wohnung auf Zehenspitzen und geht die Treppe hinunter aus dem Haus. Sorgfältig kratzt er die Scheiben des Autos frei. Die Windschutzscheibe ist von einer dicken Schicht Eiskristalle bedeckt, auf dem Dach liegen gut zehn Zentimeter Schnee. Es dauert fast zehn Minuten, und mittlerweile ist ihm warm, er schwitzt beinahe.
Die Dienststelle ist eigentlich zu Fuß zu erreichen, im Sommer geht man nicht länger als eine Viertelstunde, aber heute sind neunzehn Grad minus, und es ist stockdunkel. In fünfzehn Minuten trifft er sich mit Anton Lundgren, sie sollen zur Schule in Duved und dort einen Vortrag halten. Das ist auch Teil der Polizeiarbeit in dieser dünn besiedelten Gegend: zu informieren und zusammenzuarbeiten. Anton ist der, mit dem er am meisten zu tun hat, ein fröhlicher, unkomplizierter Kerl hier aus der Gegend. Wenn Daniel abends heim zu Ida und Alice fährt, macht Anton eine seiner zahllosen Krafttraining-Übungen.
Åre ist eine kleine Polizeiwache, mit nur drei Ermittlern und sieben Polizisten im Außendienst, wenn sie voll besetzt sind. Er selbst gehört formal zu Östersund, obwohl er ein paar Tage in Åre sitzt.
Daniel startet den Wagen und fragt sich, ob während der Nacht wohl viel los war im Ort.
Vermutlich nicht, schlimmer wird es wohl am Donnerstag, der Nacht zum Luciafest, wenn die Schüler ausgelassen feiern. Aber solange nur die Teenager aus dem Ort Party machen, artet die Situation für gewöhnlich nicht aus. Es sind die Touristen, die Daniel und seine Kollegen in Atem halten. Noch hat die Saison nicht begonnen, aber bald werden sie es mit Schlägereien vor Lokalen und Gewalt in Taxischlangen zu tun haben, oder mit Leuten, die im Schnellrestaurant Streit anzetteln. Gestohlene Skier hier und dort und betrunkene Autofahrer gehören auch zum Alltag.
Es hat angefangen, stärker zu schneien, als Daniel wenige Minuten vor sieben den Parkplatz verlässt, um zur Polizeiwache von Åre zu fahren.