Samstag, 14. Dezember

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Die Uhr zeigt erst fünf nach sechs, als Hanna die Augen aufschlägt. Es ist das erste Mal, seit sie in Åre ist, dass sie von allein frühmorgens aufwacht.

Es ist stockdunkel draußen, für einen Moment weiß sie nicht, wo sie ist. Dann kommt alles zurück. Sie liegt im großen Doppelbett in einem von Lydias Gästezimmern. Da sie gestern Abend darauf verzichtet hat, mehr Wein zu trinken, hat sie weder einen schlimmen Kater, noch ist sie unausgeschlafen.

Sie macht die Nachttischlampe an, zieht den Laptop zu sich heran und surft eine Weile herum. Sie versucht, einen Bogen um Christians Facebook-Seite zu machen, ruft sie dann aber doch auf. Er ist gut darin, sie ständig aktuell zu halten, und lädt fleißig Bilder von den angenehmen Seiten des Lebens hoch, ein Glas Wein bei Sonnenuntergang oder ein Bier am Skihang. Oder coole Fotos von all den tollen Wohnungen, die er verkauft.

An diesem Morgen findet sie nichts Neues. Er hat seit Tagen nichts mehr gepostet. Oder … Doch, hat er. Er hat seinen Status geändert, wie sie bemerkt. Bisher stand da »In einer Beziehung mit Hanna Ahlander«.

Jetzt ist er in einer Beziehung mit Valérie Ohlin.

Hanna wird innerlich eiskalt.

Sie starrt mehrere Minuten lang auf den Eintrag, gräbt die Nägel in ihre Handfläche, um nicht loszuheulen. Er ist es nicht wert. Christian ist genau wie alle anderen Idioten da draußen. Er hat gelogen und ist untreu gewesen, hat sie hinter ihrem Rücken mit dieser Valérie betrogen.

Er denkt nur an sich.

Die Tränen brennen hinter ihren Lidern. Sie zwingt sich, Christians Profil zu schließen, und surft stattdessen durchs Netz, schaut beim Onlinewetter die Vorhersage für Åre nach und klickt planlos weiter.

Sie landet auf der Seite einer Facebook-Gruppe namens »Wir in Åre«. Jemand hat das Foto eines schwarzhaarigen Mädchens in höherem Teenageralter gepostet.

Die Überschrift erregt ihre Neugier.

Habt ihr Amanda gesehen?

Hanna liest und erfährt, dass das Mädchen in der Nacht von Donnerstag auf Freitag verschwunden ist. Man hat ihren Schal an der E14 gefunden, in der Nähe des VM 8-Skilifts. Alle Tipps und Hinweise sind wertvoll.

Der Aufruf wurde von einer Frau gepostet. Lena Halvorssen.

Als Hanna auf die persönliche Facebook-Seite der Frau geht, sieht sie dort dasselbe Bild und den denselben Text. Plötzlich fällt ihr die Ähnlichkeit auf, und sie begreift den Zusammenhang. Die beiden sind Mutter und Tochter.

Wie traurig. Sie hofft, das verschwundene Mädchen ist nicht eine weitere junge Frau, die einem gewalttätigen Mann zum Opfer gefallen ist.

Sie muss wieder an Josefin denken. Die Erinnerung ist nie weit weg, Hanna hat monatelang über den Fall nachgegrübelt. Josefins Leiche wurde zu Hause gefunden, sie hatte schwere Kopfverletzungen. Die fünfjährige Lisa hat ihre Mutter verloren. Der gewalttätige Vater hat im Drogendezernat gearbeitet, im selben Gebäude wie Hanna, nur drei Treppen höher.

Diese Ermittlung war es, die dazu geführt hat, dass sie die Citypolizei verlassen muss.

Man wollte keinem Kollegen an den Karren fahren, lieber hat man alles unter den Teppich gekehrt. Angeblich sei Josefin im Badezimmer ausgerutscht und habe sich den Kopf an der Badewanne so schwer aufgeschlagen, dass sie daran verstarb. Die kriminaltechnische Untersuchung war die Bezeichnung nicht wert, die Todesumstände wurden als Unfall eingestuft.

Die Einzige, die den Mund aufgemacht und die dubiose Untersuchung des Falls angeprangert hat, war Hanna.

Sie hat darum gekämpft, die Akte wieder zu öffnen, die Untersuchung neu aufzurollen und es besser zu machen. Und darum, dass die verantwortlichen Ermittler sich möglicherweise sogar selbst wegen Dienstverfehlung anzeigten. Dass Josefins tödlicher Sturz ein Versehen gewesen sein soll, war offensichtlich konstruiert. Warum hat niemand eingehend untersucht, wie Niklas seine Frau behandelt hat? Warum ist seine Version ohne jeden Einwand akzeptiert worden?

Stattdessen hat ihr Chef die Nase vollgehabt und Hanna wegen Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit kaltgestellt. Deshalb sitzt sie nun hier.

Es tut weh, daran zu denken.

Hanna geht zurück auf die Gruppenseite. Der Suchaufruf wurde erst vor wenigen Stunden gepostet, aber viele haben schon unterstützende Kommentare geschrieben.

Während sie liest, kommt ein neues Update. Es ist von Missing People. Alle, die bei der Suche nach Amanda helfen wollen, sollen sich heute Morgen um acht auf dem Åre Torg versammeln, dem zentralen Platz im Ort. Je mehr, desto besser.

Hanna blickt zur Uhr. Das ist in einer Stunde. Seit sie am Dienstag angekommen ist, hat sie das Haus nicht verlassen. Nur Wein getrunken und geheult und sich nach Christian gesehnt. In der Garage steht ein Mitsubishi, von dem Lydia gesagt hat, dass sie ihn sich ausleihen kann.

Immerhin versteht sie ein bisschen was von professionellen Suchaktionen. Davon, was zu tun ist, wenn man nach einer verschwundenen Person sucht.

Sie würde gern mithelfen.

Josefin Gerechtigkeit zu verschaffen, das ist ihr nicht gelungen, aber vielleicht kann sie sich bei der Suche nach Amanda nützlich machen?

Vielleicht geht es ihr etwas besser, wenn sie auf andere Gedanken kommt?