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Es ist, als würde es seit einer Ewigkeit stürmen und schneien.

Daniel sehnt sich so sehr nach einem sonnigen Tag. Nach ein paar Stunden oben auf dem Skutan, wenn der Schnee vor Leben funkelt und in allen Himmelsrichtungen Berge wie Zuckerhüte stehen. Stattdessen sitzt er in einem Konferenzraum, in dem der Frost an den Fensterscheiben klebt. Die Dämmerung hat eingesetzt, der Vormittag ist in einem Nebel aus diversen Vernehmungen und Videobesprechungen verschwunden.

Außerdem hat Grip für den Nachmittag eine neue Pressekonferenz angesetzt, an der Daniel teilnehmen muss. Sie hat sich geweigert, seine Einwände anzuhören, obwohl er sie beinahe verflucht hat.

Die Bilder der toten Amanda an der Wand starren ihn anklagend an.

Daniel stützt den Kopf auf die Hände.

Wie sollen sie die Identität desjenigen herausfinden, der sie ermordet hat? Es ist über fünf Tage her, seit Amanda tot aufgefunden wurde. Es ist, als würden sie tausend Bällen hinterherjagen, ohne zu wissen, welches der richtige ist.

Raffe und Anton haben ein Dutzend Hausbesitzer in Ullådalen identifiziert, die interessant sein könnten. Daniel würde sich am liebsten alle Hütten vornehmen, aber sie werden nicht mal für eine einzige Hütte einen Durchsuchungsbeschluss bekommen, solange sie keinen begründeten Verdacht eines Verbrechens vorbringen können. Und dafür muss die Ermittlung eine einzelne Person benennen. Im Moment sind es zweiundzwanzig.

Sie haben Fredrik Bergfors weiter unter die Lupe genommen, aber keine Verbindung zwischen ihm und Ullådalen finden können. Außerdem hat er ein Alibi, da Mira nach wie vor behauptet, ihr Mann habe in der fraglichen Nacht neben ihr im Bett gelegen.

Am Vormittag hat Daniel eine weitere Vernehmung von Amandas Freund durchgeführt, ohne dass etwas Neues dabei herausgekommen ist. Diesmal hatte Viktor einen Anwalt dabei. Daniel war nicht überrascht.

Anton hat die Vergangenheit des Mentors Lasse Sandahl überprüft. Er steht in keinem der polizeilichen Register und besitzt keinen Schneescooter. Sandahl schwört, dass er Amanda nach dem Vorfall letztes Jahr in der Walpurgisnacht nicht angerührt hat. Sie haben mit der Rektorin gesprochen, die sehr verwundert über die Mitteilung war, dass Sandahl eine der Schülerinnen angegrapscht hatte. Sie sagte, es habe bisher nie irgendwelche Klagen über ihn gegeben.

Daniel wünschte, sie hätten bessere technische Beweise. Er hat gerade eine Mail ans NFC geschickt und darum gebeten, sich mit der Analyse der Hautreste unter Amandas Nägeln zu beeilen. Sie würden viel leichter vorankommen, wenn die DNA -Analyse vorläge.

Hanna kommt mit einer Tasse Kaffee in der Hand herein. Sie waren seit dem Morgen mit unterschiedlichen Zielen unterwegs gewesen. Hanna hat versucht, Ebba dazu zu bringen, ihre Abwehrhaltung aufzugeben und ihr von Amandas Nebenjob zu erzählen, während Daniel Vernehmungen durchgeführt und an Videokonferenzen teilgenommen hat.

»Harter Vormittag?«, fragt sie.

»Sieht man das so deutlich?«, fragt er zurück.

»Du siehst ein bisschen erschöpft aus.«

»Ich bin wohl nur frustriert darüber, dass es so langsam geht. Außerdem will Grip, dass ich am Nachmittag nach Östersund fahre und an einer weiteren Pressekonferenz teilnehme.«

Daniel seufzt. Schon das Wort Pressekonferenz bereitet ihm Unbehagen. Er verliert kein Wort über die Situation zu Hause. Sie kennen sich kaum. Er versucht, sich auf den Job zu konzentrieren, obwohl ihm das schlechte Gewissen keine Ruhe lässt.

»Beschreib den Ablauf in der Tatnacht noch mal«, sagt Hanna und nimmt ihm gegenüber Platz. »Manchmal ist es gut, die Dinge laut auszusprechen.«

Wieder einmal geht Daniel ihre Hypothese durch.

Amanda verlässt die Party, sie geht an der E14 entlang, wo jemand in einem dunklen Auto sie mitnimmt. Es müsste jemand sein, den sie kennt, sonst wäre sie wohl kaum eingestiegen.

Es kommt zum Streit, der Mann würgt Amanda und sie verliert das Bewusstsein. Er bringt die vermutlich immer noch Bewusstlose in eine Hütte in Ullådalen. Dort bleibt sie zwei Tage und erfriert in dieser Zeit. Der Täter bekommt Panik und beschließt, Amandas Leiche zurückzubringen. Er legt sie in den VM 6, wo sie am Sonntagmorgen vom Liftwart gefunden wird.

»Hat sie Fredrik Bergfors näher gekannt?«, fragt Hanna. »Angenommen, dass er der Schuldige ist, und nicht Amandas Freund oder der Mentor.«

»Weiß nicht. Aber vielleicht hat sie ihn wiedererkannt und sich sicher gefühlt.«

»Ich wünschte wirklich, wir hätten Zugang zu Amandas Handy«, sagt Hanna und trinkt den letzten Schluck aus der Tasse. »Es wäre eine große Hilfe, wenn wir ihre SMS lesen könnten. Jugendliche schicken sich andauernd Textnachrichten, vielleicht konnte sie eine Mitteilung rausschicken, bevor sie entführt wurde.«

Daniel hat plötzlich eine Idee. Sie haben zwar Amandas Telefon nicht, aber es könnte eine andere Möglichkeit geben, an die SMS zu kommen. War es nicht ein Mac, den sie aus ihrem Zimmer mitgenommen haben? Er hat den gleichen zu Hause, und der ist mit dem Telefon gekoppelt, alle seine privaten Nachrichten kommen sowohl dort als auch auf dem Handy an. Wenn Amanda es ebenso gemacht hat, könnten sie sehen, mit wem sie sich geschrieben hat, und hätten Zugang zu ihren Kontakten.

Die IT -Forensiker sollten bald mit dem Computer fertig sein. Wenn er sowieso nach Östersund muss, kann er es gleich nachprüfen. Daniel will auch die Gelegenheit nutzen und persönlich mit dem Staatsanwalt reden. Es kribbelt ihm in den Fingern, bei Bergfors eine Hausdurchsuchung zu machen.

Er schaut auf die Uhr und sieht, dass es Zeit ist, aufzubrechen.

»Ich muss los«, sagt er und steht auf. »Bis später.«