TALENT IST EIN MYTHOS
W
as haben Warren Buffett, Cristiano Ronaldo und Albert Einstein gemeinsam? Die Antwort: Sie sind alle drei erfolgreich. Wahrscheinlich sind sie sogar die Besten auf ihrem Gebiet. Jeder, der sich für Investieren, Fußball oder Physik begeistert, wird ihren Erfolgen nacheifern. Aber was soll das bringen? Zum Genie wird man doch geboren, oder? Jetzt stelle ich dir die ultimative Frage: Glaubst du trotzdem, dass du es auch schaffen kannst? Ich habe Hoffnung, dass du zumindest überlegst, sonst würdest du dieses Buch gar nicht lesen. Aber wenn dich das Ganze abschreckt und du Einstein und Co. als Genies betrachtest, die auf einer Wolke über uns schweben, dann ist das ein natürlicher Reflex. Denn wir fallen immer wieder auf das vermeintlich Göttliche rein, ich nenne es den Genie Bias
.
Schauen wir uns das Phänomen Schritt für Schritt an. Zunächst scheint die Ratio noch überlegen zu sein, wenn wir den Erfolg der anderen beurteilen. Menschen neigen nämlich in Umfragen dazu, Fleiß höher zu gewichten als Potenzial – und zwar im Verhältnis zwei zu eins.
6
Die Ergebnisse stimmen überein mit einer Befragung, die die Psychologin Chia-Jung Tsay mit Musikern durchgeführt hat. Auch hier wurde fleißiges Üben höher eingeschätzt als Talent. Aber das ist nur die Oberfläche. Wenn sich die Frage ändert, tritt der
Genie Bias
ans Licht. Bei der Untersuchung wurden den Befragten die Biografien von zwei Musikern vorgelegt. Ihr Erfolg war quasi identisch verlaufen. Der eine Musiker wurde als »Naturtalent« beschrieben, der andere als »Streber«. Dann wurden den Befragten zwei Hörproben vorgespielt – und jetzt kommt der Clou: Sie waren beide vom selben Musiker, er spielte nur zwei verschiedene Passagen aus einem Werk. Nach der Hörprobe beurteilten die Probanden auf einmal das »Naturtalent« als
besser. Ihm sei langfristig mehr Erfolg beschieden, und er wäre bei der Entscheidung über ein Engagement zu bevorzugen.
7
Aber ist das wirklich so? Meine These lautet: nein! Man muss kein Genie sein, um erfolgreich zu sein. Es mag Ausnahmetalente geben, aber Begabung spielt nur eine kleine Rolle. Gegen diesen
Genie Bias
müssen wir immer wieder ankämpfen. Ein Genie ist im wörtlichen Sinne eine »erzeugende Kraft«. Das Wort steht auch für Anlage und Begabung. Ohne eine gewisse Veranlagung wird niemand Erfolg haben. Aber wir überhöhen Giganten wie den Tennis-Star Roger Federer gerne und schreiben ihnen übermenschliche Fähigkeiten zu. Aber das wird ihnen nicht gerecht, weil man die harte Arbeit übersieht, die diese Menschen investieren. Federer galt bereits als Teenager als Talent, aber auch als Rüpel, der seine Schläger zerdepperte. Erst durch den Tod seines Jugendtrainers Peter Carter kam er zur Besinnung und beschloss, sein Talent nicht mehr zu verschwenden. Sein Talent veredelte er erst durch hartes Training zur Weltklasse. Das zwischenzeitliche Scheitern, die Tränen und Schmerzen der Erfolgreichen vergessen wir gerne, am Ende bleiben nur die Siege übrig. Warum suchen wir die Perfektion in anderen? Das ist in erster Linie Selbstschutz. So sah es auch Friedrich Nietzsche: »Jemanden ›göttlich‹ nennen, heißt: ›Hier brauchen wir nicht zu wetteifern‹.«
8
Aber die großen Leistungen der anderen sollten uns gerade anspornen. Ich habe für den YouTube-Kanal Mission Money als Moderator mit den erfolgreichsten Menschen der Investment-Branche gesprochen. Genialität alleine reicht nicht für den Erfolg. Florian Homm war einst erfolgreicher Hedgefondsmanager und zählte als Milliardär zu den reichsten Deutschen. Auf der Höhe seines Schaffens rief er seine Assistenten teilweise nachts um 3 Uhr an, weil er selber gar nicht mehr zwischen Tag und Nacht unterscheiden konnte. Warren Buffett liest nach eigenen Angaben fünf Stunden am Tag. Und Hedgefondsmanager Ray Dalio schildert in seinem Buch
Principles
(deutscher Titel:
Die Prinzipien des Erfolgs
) warum Talent ohne Fleiß nichts bringt. Er war der Ursache für die Finanzkrise auf die Schliche gekommen, weil er hart dafür gearbeitet hatte, nicht weil er sich auf sein Genie verließ.
Mit seinem Team wälzte er Akten und Zahlen und erkannte schließlich ein Muster, wie es schon mehrfach in der Historie vorgekommen war. Eine toxische Mischung, die später Börsen und Banken zum Beben bringen sollte. Am Ende seiner Recherche, aber reichlich spät, fand er auch Gehör bei Funktionären wie Timothy Geithner, damals Präsident der New Yorker Zentralbank und später Finanzminister der USA. Er berichtet in seinem Buch, wie er Geithner bei einem Lunch vor den Kopf schlug, als er mit ihm einige Zahlen durchging. Geithner war verwundert darüber, wo Dalio die Zahlen herhatte, worauf dieser ihm erklärte, dass die Zahlen öffentlich zugänglich seien und er sie nur zusammengesetzt und in einer anderen Weise betrachtet hätte.
9
Menschen, die als Genies gelten, arbeiten meistens hart. Der Psychologe Dean Simonton fand heraus, dass kreative Genies über die gesamte Produktion auf ihrem Gebiet nicht besser waren als ihre Kollegen, aber sie waren fleißiger. »Die Wahrscheinlichkeit, eine einflussreiche oder erfolgreiche Idee hervorzubringen«, steigt nach Simonton »mit der Gesamtzahl der hervorgebrachten Ideen.«
10
Jeder kennt die bekannten Werke von Shakespeare wie
Macbeth
und
Hamlet
– aber insgesamt schrieb er 37 Dramen und 154 Sonette.
11
Viele geniale Dinge in dieser Welt sind sogar schon mal dagewesen. Steve Jobs beispielsweise hat erkannt, dass kreative Menschen hauptsächlich dazu in der Lage sind, Dinge miteinander zu verbinden und sich fast schon schämen, wenn man sie danach fragt, weil sie eigentlich nur einen Zusammenhang erkannt und nicht viel selber gemacht haben.»– sie waren in der Lage, ihre Erfahrungen miteinander zu verbinden und etwas Neues daraus zu machen.«
12
So lief es beispielsweise mit dem iPod. Die Idee geht auf den britischen Erfinder Kane Kramer zurück: Er wollte Musik digital per Telefon verschicken und dann direkt im Laden drucken lassen. Die Plattenpressen waren aber so unhandlich, dass er zum Glück gezwungen wurde, ein tragbares Abspielgerät für digitale Musik zu entwerfen. Eine geniale Idee – besonders für das Jahr 1979. Es hatte einen Bildschirm und Knöpfe für die Auswahl der Songs. Sogar Paul McCartney war unter den ersten Investoren. Der einzige Haken: Auf
Kramers Player passte nur ein einziger Song. Apple sollte es 22 Jahre später besser machen.
13
Der Soziologe Dan Chambliss schrieb 1989 in einer Studie, dass überragende Leistung eigentlich ein Zusammenfluss Dutzender kleiner Befähigungen ist, die man sich selbst beigebracht hat oder die einem zugeflogen sind und die man sich im Lauf der Zeit anzuwenden angewöhnt hat, bis sie als synchronisiertes Ganzes zusammenwirken. Es ist nichts Außergewöhnliches oder Übermenschliches an ihnen. Es zählt nur, dass sie permanent und auf die richtige Art und Weise zur Anwendung gebracht werden und durch ihr Zusammenschmelzen Höchstleistungen zustande bringen.
14
Bei mir ist das Schreiben das beste Beispiel. Ich wollte mit Anfang 20 einen Krimi schreiben und habe an einem einwöchigen Schreibseminar in der italienischen Provinz teilgenommen. Im Juli 2009 hatte ich mir mit 22 Jahren eingebildet, dass es schon reichen würde, ein paar gute Ideen und ein gewisses Talent zum Schreiben zu haben. Dann kam der Schlag ins Gesicht: Ich konnte gar nichts. Mir fehlte das Handwerk – heute würde ich sogar sagen, dass es peinlich war, was ich damals ablieferte. Aber es zählt nicht, was wir aus dem Stehgreif können, sondern wie schnell wir lernen. Je peinlicher es dir ist, was du vor zehn Jahren gemacht hast, umso größer war wahrscheinlich der Sprung, den du nach vorne gemacht hast. Und ich wollte beim Schreiben einen Sprung machen.
In den Monaten und Jahren nach dem Seminar in Italien las ich jedes Buch, das sich mit gutem Stil beschäftigte, beispielsweise alles von Wolf Schneider. Und ich suchte mir Vorbilder. Ich schrieb ganze Seiten von Hemingway ab, analysierte jeden Satz und fand so zu meinem eigenen Stil. Ich schloss ein Journalismus-Fernstudium ab, schrieb während meines BWL-Studiums für die
Süddeutsche Zeitung
und die
Abendzeitung
und absolvierte schließlich mein Volontariat bei der Burda-Journalistenschule. Mittlerweile habe ich Hunderte Texte für
Focus-Money
geschrieben und schreibe gerade diese Zeilen. Talent hat dabei aus meiner Sicht nur eine kleine Rolle gespielt. Und du kannst es auch schaffen. »Jede Tätigkeit des Menschen ist zum Verwundern kompliziert«, schrieb Nietzsche, »(…) aber keine ist ein ›Wunder‹.«
15