MACH DAS LEBEN ZU EINEM SPIEL
»Das schaffen wir niemals!«, sagt Sinan zu mir und vergräbt seine Stirn in der Handfläche. Wir sind auf dem Weg zu einer Pressereise nach Kanada, das Hotel in Toronto ist für zwei Nächte gebucht, und wir haben noch ein Appartement über Airbnb gemietet, um die Reise zu verlängern. Wir freuen uns seit Wochen auf den Trip, aber in diesem Moment stehen wir noch am Münchner Flughafen vor einem Schalter der Lufthansa und haben ein Problem. Eigentlich sollten wir schon längst im Flieger nach Frankfurt sitzen, dort wartet unser Anschlussflug nach Toronto. Aber der Flieger nach Frankfurt hat schon 45 Minuten Verspätung. Demnach hätten wir in Frankfurt nicht mal mehr 25 Minuten zum Umsteigen. Die Mitarbeiterin der Airline checkt alternative Flüge nach Toronto, aber es gibt keine andere Option. Entweder wir bleiben in München oder wir versuchen das Unmögliche in Frankfurt. Wir müssen uns entscheiden! Sinan ist ein Journalistenkollege und guter Freund, selbstbewusst und von Grund auf optimistisch. Aber in diesem Moment glaubt er nicht an das Unmögliche, und auch mir fällt es schwer, positiv zu denken. Platzt die Reise nach Kanada?
Eine Stunde später fliegen wir auf Frankfurt zu. Wir schnallen uns bereits ab und stehen auf, als der Flieger gerade den Boden berührt, wir wollen als Erste aus dem Flugzeug und sofort durchstarten. Aber die Stewardess maßregelt uns mit wütenden Gesten und wir müssen sitzenbleiben. Als die Maschine endlich zum Stehen kommt, sind wir im Pulk der Fluggäste gefangen. Ich schaue nochmal auf die Uhr, wir haben noch 20 Minuten, bis der Flieger Richtung Toronto starten wird. Drei Minuten später sprinten wir los. Raus aus dem Flugzeug, dann sollen wir uns links halten, hat uns eine andere Stewardess erklärt. Wir finden die besagte Treppe und stürzen uns 80 Stufen hinunter, wir haben keine Zeit, um auf einen Aufzug zu warten. Dann sprinten wir durch einen 500 Meter langen Tunnel auf die andere Seite des Terminals. Der Rucksack auf meinem Rücken wird mit jedem Meter schwerer, ich spüre das Kamerastativ mit jedem Schritt mehr in meine Muskulatur drücken und versuche, genug Sauerstoff in meine Lunge zu pumpen. Am Ende des Tunnels sprinten wir wieder eine Treppe nach oben. Jetzt brennen meine Oberschenkel und die Lunge, der Speichel schmeckt nach Eisen. Als wir oben ankommen, stehen wir vor einer Wand, Hunderte Menschen stehen Schlange für die Passkontrolle. Wir drängeln uns in wenigen Sekunden bis ganz nach vorne und rufen dabei 50-mal Sorry und Entschuldigung. Als uns der Beamte am Schalter den Pass wiedergibt, setzen wir zum letzten Sprint an Richtung Gate. Fünf Minuten später sitzen wir in der ersten Reihe der Business Class. Ich kämpfe mit einem Hustenanfall nach dem nächsten, Schweiß läuft über meinen Rücken – aber ich bin glücklich. Wir haben aus einem Problem ein Spiel gemacht – und wir haben es gewonnen.
Was lernen wir daraus? Ich ziehe Motivation daraus, das Leben zu einem Spiel zu machen – Gamification heißt der Fachbegriff dafür. Die Gamification -Expertin Jane McGonigal nennt in ihrem Buch Reality is Broken (deutscher Titel: Besser als die Wirklichkeit ) drei Merkmale eines Spiels: Ziel, Regeln und Feedback-System. 40 Unser Ziel und die Spielregeln waren klar, und wir haben es nur in den Flieger nach Kanada geschafft, weil wir das Spiel in Passagen eingeteilt hatten, wie Level bei einem Super-Mario-Spiel. Das Feedback-System bestand aus den Abschnitten, die wir per Sprint erreichten. Wir hatten uns vorher ausgerechnet, wie schnell wir laufen mussten. Und es war klar, dass es nur im Vollsprint ohne Pause gehen würde. Solche Tricks der Gamification halten uns bei Laune. Überleg doch mal, wie uns Konzerne jeden Tag motivieren, ihre Medien zu konsumieren. Wer sich bei Audible eine Notiz macht, der bekommt den Status »Fährtenleger« verpasst. Wer bei der PlayStation besonders oft Fifa spielt, wird mit Trophäen wie »Scharfschütze« überschüttet. Wir sollten uns nicht zum Ball der Spiele der anderen machen lassen, aber wir sollten dieses Wissen nutzen, um unsere eigenen Spiele zu spielen. Gerade das Denken in Leveln spornt mich an, und ich habe es auch für dieses Buch genutzt. Jedes Kapitel ließ sich wie ein Level gestalten, und an meiner Wand hing immer der Fortschritt des Projektes. Die fertigen Level in grüner Schrift, die halbfertigen in gelber und die unfertigen in roter.
Spiele können uns aus der Lethargie befreien. Hast du schon mal was von positivem Stress gehört? Er heißt auch Eustress, die Vorsilbe »Eu« kommt aus dem Griechischen und bedeutet »gut«. Unser Körper nimmt positiven Stress genauso wahr wie negativen: Das Adrenalin schießt ein, es wird mehr Blut in die Areale gepumpt, die bei Gefahr im Hirn aktiv sind. Aber trotzdem treibt es uns an: Wir erleben keine Angst, wir sind nicht negativ, sondern wir wollen mehr und fühlen uns besser. 41 Positiver Stress heißt: Es gibt eine Lücke zwischen dem, was wir haben, und dem, was wir wollen, und wir können sie schließen. Wir haben also das Ziel im Blick, aber wir müssen uns richtig strecken dafür. Das lässt sich anhand einer Funktion erklären. Sie besteht aus den beiden Variablen Leistung und Erregung. Stell dir vor, du hängst auf der Couch, dann bist du nicht erregt, bringst aber auch keine Leistung. Das andere Extrem wäre maximale Erregung und schlechte Leistung: wenn du keinen Bock auf deine Arbeit hast, total überfordert bist und die Kollegen nerven. Du willst nur noch schreien und schaffst nichts. Und dann gibt es das Optimum: maximale Leistung und Erregung. Das nennt sich Flow. Wenn du alles um dich herum vergisst und wie im Rausch arbeitest. Probleme zu lösen kann ein mächtiger Glücksfaktor sein. Lass dich nicht verrückt machen von den ganzen Glücksjägern, die behaupten, es gehe per Knopfdruck und man müsse sich nur für Glück entscheiden. Positives Denken ist ein mächtiges Werkzeug. Aber wir sollten uns lieber Aufgaben suchen, die uns glücklich machen, statt uns den ganzen Tag vor den Spiegel zu stellen und uns einzureden, dass wir glücklich seien. Harvard-Professor Tal Ben-Shahar drückt es so aus: »Wir sind viel glücklicher, wenn wir Zeit erleben, statt sie totzuschlagen.« 42
Wenn du das Leben zu einem Spiel machst, dann gibt es zwei Varianten: Sieg oder Niederlage. Und du gewinnst bei beiden. Beginnen wir mit dem Scheitern: Der zwölffache Roland-Garros-Sieger Rafael Nadal spielte im Alter von 13 Jahren zum ersten Mal gegen seinen französischen Konkurrenten Richard Gasquet. Beide galten im Jahr 1999 als große Talente, sie spielten in Tarbes gegeneinander, eines der größten Turniere für Junioren unter 14. Gasquet entschied dieses Duell für sich! 43 Doch Nadal hat anscheinend die richtigen Lehren daraus gezogen. Er sollte später noch 16-mal gegen Gasquet auf der Profi-Tour spielen – und Nadal gewann alle 16 Spiele!
Wer spielt, der lernt, die Niederlage zu akzeptieren und besser zu werden. Wir müssen uns den Perfektionismus austreiben, sonst bleibt uns das Growth Mindset für immer verwehrt. Wer spielt und nicht aufgibt, der wird früher oder später gewinnen. Aber Vorsicht, Siege machen süchtig! Sie treiben nämlich den Serotoninspiegel nach oben. 44 Am besten holen wir uns also jeden Tag kleine Siege, die uns motivieren. Mich motiviert das Prinzip des Kaizen : kai steht für »Veränderung« und »Wandel« – und zen heißt »zum Besseren«. Die Philosophie kommt aus dem Japanischen, und es geht darum, sich kontinuierlich zu verbessern. Noch konkreter kannst du die 1-Prozent-Regel nutzen: dich also bei jeder Wiederholung um 1 Prozent steigern. Klingt erst mal wenig, aber langfristig wird es dein Leben massiv verbessern. Denn jeder Sieg bringt Grund zum Jubeln.
Hast du schon mal was von Fiero gehört? Fiero ist Italienisch und heißt auf Deutsch Stolz. Designer von Videospielen haben diesen Begriff geprägt, um ein emotionales Hoch zu beschreiben. Du wirst wissen, was es bedeutet, wenn du es erlebst. Wenn du nach einem Sieg die Hände in die Höhe reißt und die Freude rausschreist. Forscher am Center for Interdisciplinary Brain Sciences Research in Stanford haben sogar herausgefunden, dass Fiero die Emotion ist, die den Höhlenmenschen dazu veranlasst hat, seine Höhle zu verlassen und die Welt zu erobern. 45 Wir können uns also ein legales High besorgen. Wissenschaftler bestätigen sogar, dass Fiero das mächtigste Hoch in Sachen Neurochemie ist. Je höher die Hürde, die wir überwinden, umso intensiver erleben wir Fiero . Wir können also jeden Tag zu einem Abenteuer machen – auch wenn wir keinen Urlaub haben .
Hast du schon von Mikroabenteuern gehört? Ich versuche so oft wie möglich, den Alltag spielerisch zu gestalten: durch Challenges und Abenteuer. Es fängt schon beim Aufstehen an, für dieses Buch bin ich regelmäßig um 5 Uhr aufgestanden, irgendwann wurde dann im Sommer 4 Uhr draus. Überlege dir, wie du Abenteuer in deinen Alltag integrieren kannst, beispielsweise eine Wanderung nach der Arbeit. Mach Feuer im Wald, fahr in eine fremde Stadt ohne Planung oder schlaf einfach mal auf dem Balkon im Freien. Überrasch dich selber!
Das Flughafenpersonal hat die Challenge in Frankfurt übrigens nicht angenommen, unsere Koffer schafften es nicht ins Flugzeug nach Toronto. Wir mussten uns in Kanada also erst mal neue Klamotten im Eaton-Center kaufen. Trotzdem erlebten wir Fiero , als wir nach dem Sprint endlich im Flieger nach Toronto saßen, und es fühlte sich unbezahlbar an. Sinan und ich reden heute noch vom Wunder von Frankfurt.