ERWARTE NICHT, DASS DIE ANDEREN DICH VERSTEHEN
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ie Sonne strahlt über München, ich sitze mit Sherlock auf dem Oktoberfest am Tag des Anstichs und habe mal wieder einen besonderen Test mit ihm vor: »Ich werde dir jetzt gleich drei bekannte Lieder auf dem Biertisch vortrommeln, und du musst sie erraten. Für wie wahrscheinlich hältst du es, dass du alle drei erkennst?«, frage ich.
»Wenn sie wirklich bekannt sind, traue ich mir alle drei zu, aber mir ist wohl bewusst, dass die Musik während des Trommelns in deinem Kopf abläuft und in meinem nicht«, antwortet Sherlock.
Ich entscheide mich für »Last Christmas«, »Billy Jean« und die fünfte Sinfonie von Ludwig van Beethoven. Dann fange ich an zu trommeln und blicke auf Sherlock, er hält sich an seinem Maßkrug fest und fixiert meine Finger. Das Ende vom Lied: Sherlock erkennt nur eine der drei Melodien und wahrscheinlich auch nur, weil die erste Sequenz von Beethovens fünfter Sinfonie so markant ist. Das klingt nach einer mäßigen Erfolgsquote von 33 Prozent, aber urteilen wir nicht voreilig. Dieses Experiment wurde auch für eine Studie in Stanford durchgeführt. Die Teilnehmer hielten es für eine leichte Aufgabe und gingen davon aus, dass die Zuhörer die Melodien zu 50 Prozent erkennen würden, aber: Tatsächlich lag die Erfolgsquote gerade mal bei 2,5 Prozent. Also nur jedes vierzigste Getrommel identifizierten die Testpersonen korrekt.
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Also überschätzten sich die Trommler mit einem Faktor von 20. Was lernen wir daraus? Wir erwarten, dass die anderen uns verstehen. Aber mit dieser Prämisse solltest du niemals durch diese Welt gehen
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Du kennst bestimmt auch diese peinlichen Momente, wenn man sich mit jemandem unterhält, und es fühlt sich an, als würde man zwei verschiedene Sprachen sprechen. Und dann hat man auch noch einen anderen Humor. Sowas kann sehr unangenehm sein, vor allem, wenn du vor einer solchen Person deine Idee für ein Projekt pitchen musst. Da sind wir wieder beim Storytelling und beim Verkaufen. Wir müssen auf der einen Seite ein starkes Warum haben und unsere Persönlichkeit transportieren, aber wir sollten auch niemals die Zielgruppe aus den Augen lassen. Wir können uns in dem Moment, in dem wir auf dem Tisch trommeln, nicht vorstellen, wie es sich für den anderen anhört, der gerade nicht die Melodie von »Billy Jean« im Kopf hört. Und genauso wenig können wir uns vorstellen, wie jemand unsere Ideen nicht toll finden kann. Aber erfolgreich wird nur, wer diesen Transfer schafft. Ganz einfach auf den Punkt gebracht hat es Jeff Bezos mit seinem Motto: »Put the costumer first!« Beim Journalismus spricht man auch gerne vom Nutzwert. Also was hat der Leser oder Zuschauer davon? Wenn ich diese Zeilen schreibe, dann gefallen sie mir selber, aber in erster Linie geht es darum, was du mitnehmen kannst, sonst wäre es als Tagebuch besser geeignet.
Gerade bei meiner Arbeit für YouTube habe ich gelernt: Manchmal springe ich bei meinen Gedanken zu schnell und ich verkürze Aussagen, ohne sie nochmal in den Kontext einzuordnen. Das funktioniert zwar in meinem Kopf, aber manche Menschen können nicht folgen, gerade wenn sie die Hintergründe nicht kennen. Also konnte es nur besser werden, indem ich mich immer mehr auf den Nutzwert konzentriert habe. Die einfachste Regel hierzu lautet: Wenn du es einfach erklären kannst, dann hast du es auch verstanden. Und das macht wahrscheinlich den Unterschied aus. Es geht darum zu verstehen, was die Zielgruppe wirklich will und dann muss man es ihr in guter Qualität und ansprechender Form aufbereiten. Das Problem in Zeiten von Social Media: Viele versuchen sich als Content-Produzenten, aber kaum jemand transportiert eigene Ideen, es wird einfach etwas wiederholt, was tausend andere auch schon gesagt haben. Und das soll dann Erfolg bringen. Aber erwarte nicht, dass andere dich verstehen, wenn
du schlecht kommunizierst. Das gilt nicht nur für Sprache, sondern auch für das Produkt an sich.
Ein schönes Beispiel ist die Erfolgsgeschichte von Warby Parker: 2010 gründeten vier Studenten in Philadelphia das Unternehmen. Die Idee: Brillen über das Internet verkaufen, und zwar viel billiger als die Konkurrenz. Klingt nach einer klugen Idee, heute lässt sich eigentlich alles übers Internet verkaufen. Aber es gab ein Problem: Die Kunden konnten die Brillen natürlich nicht probieren wie im Geschäft. Und wer bestellt sich online eine Brille, die er noch nie auf der Nase hatte? Ein Umtausch wäre auch nur schwer möglich, denn wenn die Brillen erst mal mit den speziellen Gläsern für den jeweiligen Kunden angefertigt sind, lassen sie sich nicht mehr weiterverkaufen. Also wie schaffte Warby Parker den Durchbruch? Die Lösung des Problems war: Sie schickten den Kunden die Brillen, bevor die Gläser eingesetzt wurden. Man konnte sich also bequem mehrere Modelle nach Hause senden lassen, in Ruhe probieren und dann kostenlos zurückschicken. So gelang der Durchbruch. Die Jungs von Warby Parker hätten auch die Kunden verfluchen und ihnen die Schuld geben können, aber sie haben sich darauf konzentriert, besser verstanden zu werden und den Nutzwert zu steigern.
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Es geht darum, die Gegenseite zu verstehen und darauf einzugehen. Als Rambo bringt es niemand zu nachhaltigem Erfolg. Trotzdem wird heute immer wieder die Erfolgsformel »Sei authentisch, trete ein paar Ärsche und erobere die Welt« gepriesen, frei nach dem Motto: »Die einen kennen mich, die anderen können mich.« Klingt selbstbewusst und entschlossen, aber du wirst damit vor die Wand fahren. Denn wer sich aufspielen möchte, der muss sich das auch leisten können. Der Status macht den Unterschied. Deswegen solltest du auch vorsichtig sein, wenn du erfolgreich werden willst, aber noch ein Vorgesetzter im Weg steht. Stell dir vor, du bist hochmotiviert und voller Ideen. Solltest du deinen Chef dann forsch damit überfallen? Bitte nicht! Denn du solltest nicht erwarten, dass er darauf wartet und dich auf Anhieb versteht. Angestellte, die unbekümmert ihre Ideen vertreten und auch widersprechen, können deutlich seltener mit einer
Beförderung oder Gehaltserhöhung rechnen.
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Den Rambo solltest du nur spielen, wenn du es dir auch erlauben kannst. Ein Experiment von Alison Fragale, Professorin an der University of North Carolina, ergab: Leute werden bestraft, wenn sie versuchen, Macht ohne Status auszuüben. Solche Menschen, die Einfluss nehmen wollen, ohne sich Respekt verdient zu haben, werden als schwierig, aufdringlich und egoistisch beurteilt. Wen wir nicht achten, von dem lassen wir uns also auch nicht rumkommandieren.
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Das ist ein sehr wichtiges Learning, gerade wenn dich eine Vision motiviert und du Mitstreiter suchst, solltest du auf den persönlichen Umgang achten.
Die Rolle des Status vergessen viele auch bei den Erfolgreichen dieser Welt. Wir schauen gerne, was sie machen und was wir daraus lernen können. Wir bewundern beispielsweise Richard Branson dafür, dass er so ausgeflippt und authentisch ist, er scheint auf sämtliche Konventionen zu pfeifen. Wir feiern einen Zlatan Ibrahimovic, weil er über sich selbst sagt, er sei der Größte, und dieses Versprechen bei jeder Gelegenheit erneuert. Aber jetzt überleg mal, würden diese Persönlichkeiten auch für ihr Verhalten gefeiert werden, wenn sie durchschnittliche Leistungen ablieferten oder gar von Sozialhilfe lebten? Es dreht sich alles um den Status.
Der Unternehmer und Autor Vishen Lakhiani beschreibt in seinem Buch
Lebe nach deinen eigenen Regeln
, wie er auf Necker Island zu Gast war bei Richard Branson. Bei einem Dinner versuchten die meisten anderen Unternehmer, die anwesend waren, die heitere Stimmung ins Seriöse zu verschieben, sie wollten etwas lernen von Branson und stellten ihm Fragen zur Betriebswirtschaft. Es ging um Business-Tipps und mögliche Investments. Aber Branson schien keine Lust darauf zu haben und überraschte die Tafel: Er unterbrach höflich das Gespräch, kletterte in Flip-Flops auf den Tisch und fing an zu tanzen.
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Natürlich steckt sowas an und wir haben sofort einen Gedanken: Wow, Richard Branson ist reich und trotzdem so bodenständig und sympathisch! Er hat einfach Spaß am Leben. Ich bewundere jeden Menschen, der sein Leben liebt und andere damit ansteckt. Aber ich finde es unlogisch, von solchem Verhalten auf Erfolg zu schließen. Denn jetzt stell dir mal
vor, du sitzt in einem Restaurant und neben dir springt jemand auf den Tisch, der nicht Richard Branson ist. Wahrscheinlich würdest du ihn einfach nur für einen Vollidioten halten. Der Status macht eben den Unterschied. Und wir sollten niemals Ursache und Wirkung verwechseln. Sind Milliardäre reich geworden, weil sie gut gelaunt sind? Oder sind sie gut gelaunt, weil sie Milliardäre sind? Beide Versionen werden dem Erfolg nicht gerecht. Mir ist selber schon aufgefallen, dass ich überrascht war, wie nett Menschen sind, die sehr erfolgreich oder reich sind, die früher Konzerne führten und Millionen-Villen in Saint Tropez besaßen. Aber eigentlich ist es doch selbstverständlich, dass jemand höflich ist, oder? Daraus lässt sich keine Erfolgsformel ableiten.
Kommen wir nochmal auf das vorherige Kapitel zu sprechen: Da hatte ich dir geraten, ein Freak zu sein, und jetzt sollst du auf einmal nicht erwarten, dass dich die anderen verstehen? Das sollte doch eigentlich egal sein. Selbstbewusstsein und eine gesunde Ignoranz gehören dazu, du solltest dich nicht zu stark von anderen beeinflussen lassen, schon gar nicht von Hatern. Aber bitte versuche nicht, mit dem Kopf durch die Wand zu kommen! Du sollst ein Freak sein, aber bezogen auf das, was du machst und wie du es machst. Freak heißt für mich Experte und nicht Clown. Du brauchst kein Freak sein in der Außendarstellung, es bringt dir nichts, bescheuerte Klamotten anzuziehen und dir die Haare grün zu färben oder ein Idol wie Hemingway zu kopieren. Wenn es dein innerster Wunsch ist, dann lass ihm freien Lauf. Aber konzentriere dich lieber auf deine Mission, und Normalität ist dann wohl der beste Rat. Dazu gehört auch, mal Schwäche zu zeigen. Du sollst deine Seele so teuer verkaufen wie möglich, also mit Leidenschaft Geschichten erzählen. Aber in ihnen gibt es auch das retardierende Moment, es gibt wie bei der Heldenreise Widerstände und Bösewichte und selbst der mutigste Held kämpft mit Zweifeln. Dafür sollten wir uns nicht schämen. Im Gegenteil, stell dir vor, du müsstest deine geniale Idee morgen tatsächlich vor einer Jury pitchen, sagen wir mal, vor zehn potenziellen Investoren. Würdest du dann auf den Putz hauen oder deine Idee differenziert und reflektiert darstellen
?
Bevor du antwortest, erzähle ich dir die Geschichte von Rufus Griscom, er ist der Gründer von Babble, einem Online-Magazin für Eltern. Er schaffte den Durchbruch mit einer unkonventionellen Taktik: Als er seine Idee verkaufte, führte er für Investoren fünf Gründe an, warum sie NICHT in sein Unternehmen investieren sollten.
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Was bescheuert klingt, brachte ihm schließlich 3,3 Millionen Dollar Gründungskapital ein. Später schaffte es Griscom mit derselben NICHT-Taktik sogar, Babble für 40 Millionen Dollar an Disney zu verkaufen. In beiden Fällen präsentierte Griscom seine Idee für Leute mit höherem Status. Dominant auftreten sollte man nur, wenn man sich sicher sein kann, dass einen das Publikum bereits unterstützt. Als Newcomer sollte man demütig vorgehen. Der größte Fehler beim Verkaufen ist eben immer noch, etwas zu verkaufen: Dann fühlt sich das Publikum schnell so, als hätte es einen Staubsaugervertreter als Gegenüber. Deswegen raten die besten Verkäufer auch dazu, eher den Kunden reden zu lassen und nicht auf den Kunden einzureden.
Wer dagegen auftritt wie Rambo, kann sich schnell den eigenen Erfolg verbauen. Erwarte nicht, dass die anderen dich verstehen. Und tritt bitte nicht so auf, als wäre jeder ein Idiot, der nicht sofort auf deiner Seite steht.
Test yourself!
Mach den Musik-Test mit einem Freund oder einer Freundin und überzeuge dich davon, wie schwer es ist.