TRAUE NIEMANDEM – VOR ALLEM NICHT DIR SELBST
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ch sitze mit Sherlock an der Theke in einem Irish Pub im Münchner Stadtteil Neuhausen, und heute ist ein besonderer Tag für mich. Ich freue mich, der Wissenschaft einen Dienst zu erweisen und Sherlock seine Grenzen aufzuzeigen. Aber zuerst muss das Experiment klappen, das ich mir vorgenommen habe. Ich hatte mal von einem Versuch gehört, der uns vor Augen führt, wie wenig wir unseren Augen trauen können, und genau das werde ich gleich an Sherlock testen. Der Versuchsaufbau beim Original ging so: Die Testpersonen saßen an einer Bar und bestellten ein Getränk bei einer blonden Bedienung. Die Bedienung bückte sich kurz, um etwas unter der Theke hervorzuholen und tauchte dann wieder auf. Aber war da was? Die meisten Testpersonen merkten es nicht, doch die Bedienung wurde in diesem kurzen Moment ausgetauscht. Auf einmal stand eine dunkelhaarige Bedienung vor ihnen, die natürlich komplett anders aussah. Und das Ergebnis? Die meisten Testpersonen bemerkten es tatsächlich nicht.
Und jetzt zu Sherlock: Ich habe mich vor dem Experiment mit zwei Bedienungen abgesprochen, und sie fanden die Idee witzig. Als Sherlock sein Kilkenny trinkt, frage ich ihn, ob er sich für rational halte.
»Natürlich! Wenn die ganze Welt verrückt spielt, dann hilft nur die Vernunft«, sagt Sherlock.
Ich grinse innerlich und zücke mein Smartphone: Den Rollentausch der Bedienungen muss ich filmen, damit ich Sherlock schließlich den Spiegel vorhalten kann. Ich drücke auf die rote Aufnahmetaste und fordere Sherlock zum Zahlen auf. Tatsächlich schaffen
die Bedienungen den Rollentausch ohne Probleme, und Sherlock merkt nichts davon.
»Quod erat demonstrandum
«, sage ich zu Sherlock und grinse, »ist dir nichts aufgefallen?«
Als Sherlock verneint, zeige ich ihm das Video. Er schüttelt ungläubig den Kopf, bis ihm die Erleuchtung kommt. Natürlich seien wir nicht ständig rational, sagt er und schüttelt dabei immer noch leicht den Kopf. Und dann erzählt er mir eine Geschichte aus der Spieltheorie.
Stell dir folgendes Szenario vor: Wir haben 10 Euro auf zwei Personen zu verteilen. Der Haken daran: Beide müssen sich auf eine Verteilung einigen. Dabei gibt es einen Frager und einen Beantworter. Der Frager schlägt dem Beantworter beispielsweise 4 Euro vor, also würde er selber 6 Euro behalten. Der Beantworter kann annehmen oder ablehnen. Können sich die beiden nicht einigen, bekommt keiner das Geld. Was wäre rational? Der Beantworter sollte jedes Angebot annehmen, da es immer noch besser ist, 1 Euro zu kassieren als gar kein Geld. Aber handelt der Mensch so rational? Dieses Ultimatumspiel spielten 19 Teilnehmer im Rahmen einer Studie. Tatsächlich lehnten die Beantworter rund 50 Prozent der Vorschläge ab. Der Grund: Sie waren beleidigt, weil die angebotene Summe so niedrig war. Sie wollten lieber die Vorschlagenden für die lächerliche angebotene Summe bestrafen, als selber dabei Geld zu verdienen.
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Im Studium lernen wir die Theorie vom Homo oeconomicus. Er handelt als rationaler Agent immer so, dass er seinen Nutzen maximiert. Aber vergiss diese Theorie besser! Viel sinnvoller erscheint die sogenannte
Prospect Theory
, auch neue Erwartungstheorie genannt. Sie ersetzt das strikt rationale Modell durch ein Modell, in dem die Rationalität unter anderem durch kognitive Verzerrungen modifiziert wird. Die Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky präsentierten sie 1979 als realistische Alternative zum Homo oeconomicus.
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Hältst du dich immer noch für rational? Hier kommt ein Test für dich, er nennt sich
Cognitive Reflection Test
und besteht nur aus drei Fragen:
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Ein Schläger und ein Ball kosten 1,10 Euro. Der Schläger kostet 1 Euro mehr als der Ball. Wie viel kostet der Ball?
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Fünf Maschinen benötigen für die Produktion von fünf Produkten fünf Minuten. Wie lange benötigen 100 Maschinen für die Produktion von 100 Produkten?
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Die Seerosen in einem Teich verdoppeln ihre Fläche jeden Tag. Wenn der See nach 48 Tagen komplett mit Seerosen bedeckt ist, wie lange hat es gebraucht, bis er zur Hälfte bedeckt war?
Ganz einfach, oder? Wer sich rational verhält, kommt auf folgende Antworten:
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10 Cent
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100 Minuten
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24 Tage
Doch das ist leider falsch. Die richtigen Antworten verrate ich dir am Ende des Kapitels. Aber kommen wir erst mal zum Aktienmarkt. Denn nirgendwo tummeln sich mehr Menschen, die sich für besonders rational halten, aber doch an ihrem Kopf scheitern. In der Theorie geht das Reichwerden einfach. Warren Buffett hat die Theorie geprägt, immer dann gierig zu sein, wenn die anderen Angst haben, und umgekehrt Angst zu haben, wenn die anderen gierig sind. Rationaler geht es kaum. Ist ja auch logisch. Wann willst du etwas kaufen? Wenn es teuer ist oder günstig? Eigentlich eine dumme Frage, aber bei Aktien geht das Spiel meistens andersherum: Wenn die Börsen Höchststände markieren, werden die Menschen gierig und haben Angst, dass sie weitere Gewinne verpassen. Dann berichten die Medien über den Börsenboom und viele steigen ein, obwohl die Aktien zu teuer sind. Aber wehe der Aktienmarkt liegt am Boden, dann will niemand kaufen. Ein Absurdum! Aber es lässt sich mit der sogenannten Empathie-Lücke erklären. Wir unterschätzen, wie sich unsere Instinkte auf unser Verhalten auswirken. Hunger, Schmerz oder starke Emotionen lassen uns die Rationalität vergessen. Wenn Chaos ausbricht, funkt es in unserem
Hirn. Aus der Vorzeit haben wir Leitungsbahnen, die uns blitzartig in Alarmbereitschaft versetzen, so wie früher, als wir noch auf Bäumen lebten und uns permanent vor Schlangen in Acht nehmen mussten.
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Sind wir zum Beispiel aufgeregt, also in einem
Hot State
, können wir es uns kaum vorstellen, besonnen zu agieren, also wie in einem
Cold State
. Denn meistens ist uns im aufgeregten Zustand überhaupt nicht bewusst, wie stark unser Verhalten allein dadurch beeinflusst wird. Das kann schnell dazu führen, dass wir kurzfristig Entscheidungen treffen, die wir dann langfristig bereuen. Das beste Beispiel: Du verlierst Geld, ärgerst dich darüber und versuchst sofort, es dir wiederzuholen. Glücksspiel zeigt am besten, wie der Mensch tickt. Hast du schon mal jemanden gesehen, der verzweifelt am Roulette-Tisch versucht, sein Geld zurückzugewinnen? Wenn sein Hirn heiß läuft, handelt er wie ein Besessener. In einem emotional kühlen Zustand würde sowas niemals passieren.
An den Aktienmärkten weiß jeder, dass irgendwann ein Crash kommen wird, und in der Theorie sind alle darauf vorbereitet. Aber ich kann dir eines versichern: Wenn es crasht, setzt die Vernunft aus. Ich kann mich noch gut an den August 2007 erinnern. Damals machte ich ein Praktikum bei der Bayerischen Landesbank und erlebte die Anfänge der Finanzkrise mit. Damals verstand ich zwar nur die Hälfte, aber es reichte mir als Information, wenn erfahrene Banker wie aufgescheucht durch die Gegend rannten und davon sprachen, dass es noch nie so schlimm gewesen wäre. Ich reagierte darauf, indem ich in der Mittagspause panisch bei meiner Hausbank anrief und zwei Fonds verkaufte, die ich erst ein paar Monate davor gekauft hatte. Die Verluste hielten sich mit 15 Prozent noch in Grenzen. Aber war das rational? Natürlich nicht, im Alter von 20 Jahren hätte ich davon ausgehen müssen, dass ich langfristig ins Plus rutschen würde, wenn ich die Fonds nur lange genug gehalten hätte. Damals war ich überzeugt davon, dass sich ein Fonds für nachhaltige Wasseraufbereitung langfristig lohnen würde. Heute hätte ich mit dem Fonds tatsächlich ein Plus von 143 Prozent gemacht, obwohl ich zu einem katastrophalen Zeitpunkt eingestiegen war. Das wären in zwölf Jahren immerhin noch 4,5
Prozent Verzinsung pro Jahr gewesen (wir reden hier von der Bruttorendite wohlgemerkt!). In der Theorie eine einfache Sache, aber wenn wir spüren, dass eine Lawine ins Rutschen kommt, dann können uns die Emotionen an den Rand des Wahnsinns befördern.
Unsere Emotion dominiert unsere Meinung. Das beste Beispiel sind Politiker wie der Republikaner Donald Trump. Polarisierende Figuren wie er können Stimmungen beeinflussen, ohne dass sie dafür nur ein Gesetz verabschieden müssen. Das zeigt die Entwicklung des Indikators für die Konsumerwartung der University of Michigan zwischen Juni und Dezember 2016, also vor und nach dem Wahlsieg Trumps. Vor der Wahl waren die Befragten mit Vorliebe für die Republikaner noch vorsichtig gewesen, nach Trumps Sieg änderte sich die Stimmung bei den Republikanern schlagartig. Auf einmal zeigten sie sich euphorisch, und das Konsumbarometer kletterte um 40 Prozentpunkte nach oben. Bei den Demokraten sackte die Konsumerwartung dagegen um fast 13 Prozentpunkte ab. Aber was hatte sich in diesem Moment geändert? Unter dem Strich noch nichts, aber die Emotion sorgte bei den Republikanern für Euphorie und bei den Demokraten für Untergangsstimmung.
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Und hier kommen noch die Antworten auf die Fragen, die ich zu Beginn des Kapitels gestellt habe ...
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Der Schläger soll ja nicht nur 1 Euro kosten, sondern 1 Euro mehr als der Ball. Das heißt: (Schläger + 1 Euro) + Ball = 1,10 Euro. Daraus folgt, Schläger und Ball müssen sich die restlichen 10 Cent teilen. Erst wenn der Schläger also 1,05 Euro und der Ball 5 Cent kosten, dann ist der Schläger auch wirklich diesen 1 Euro teurer.
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Die Maschinen brauchen nicht 100, sondern nur fünf Minuten, weil jede ein Gerät produziert.
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Der See ist nicht schon nach 24 Tagen zur Hälfte mit Seerosen bedeckt, sondern erst nach 47 Tagen. Am folgenden Tag hat sich die Seerosenfläche dann verdoppelt, und der See ist ganz bedeckt.