DU SOLLTEST DICH NIE FÜR EIN GENIE HALTEN
D ie Geschichte von Narziss beginnt wie ein Erfolg: Er war schön und wählerisch, brach Mädchen und Jungen das Herz, aber einer der Jungen, Ameinios, war ihm etwas zu aufdringlich. Narziss lehnte ihn ab und ließ ihm ein Schwert zukommen. Ameinios beging Selbstmord, rief vorher aber die Götter um Rache an. Die Göttin Nemesis hörte diesen Ruf und strafte Narziss mit unstillbarer Selbstliebe: Als Narziss sich in idyllischer Natur an eine Wasserquelle setzte, verliebte er sich in sein eigenes Spiegelbild. Wie ging es mit Narziss weiter? Dazu gibt es viele Versionen. Der römische Dichter Ovid erzählte, dass sich Narziss selbst das Leben nahm, als er die Unerfüllbarkeit seiner Liebe erkannte. Dem griechischen Reiseschriftsteller Pausanias zufolge starb Narziss, als ein Blatt sein Spiegelbild trübte und er erkannte, dass er hässlich war. Wiederum eine andere Quelle besagt, dass Narziss ertrank, als er sich mit seinem Ebenbild vereinigen wollte. 98
Soll dieses Kapitel ein Plädoyer gegen Selbstliebe werden? Nein, wir brauchen sie, aber wir sollten es nicht übertreiben mit dem Phänomen der Überlegenheitsillusion. Es bestimmt, wie wir unser Leben wahrnehmen. Jeder hält sich für ein bisschen schlauer und interessanter als die anderen und natürlich auch für beliebter und attraktiver. Diese Illusion schützt unser Selbstbild und motiviert uns. Aber wir sollten es nie übertreiben mit der Selbstliebe. Denn wer sich selbst für den Größten hält oder wie ein Narzisst dafür lebt, anderen seine Überlegenheit zu demonstrieren, der wird nie glücklich. Unser Ego kann unseren Erfolg gefährden! Hier kommt das Self-Serving-Bias ins Spiel. Durch diese Verzerrung schreiben wir uns alles Positive zu und das Negative den anderen. 99 Deine Aktien steigen, weil du sie überragend analysiert hast. Wenn sie aber fallen, dann schiebst du die Schuld auf den Markt. Wir schützen uns damit selbst, und unseren Wert. Wir machen uns die Welt also, wie sie unserem Ego gefällt. Aber was bringt es uns, wenn wir nur glauben, gut zu sein? Positives Denken muss sein, aber die Realität sollte mitwachsen. Und wir sollten uns nicht ständig vor anderen profilieren. Sonst treibt uns das Ego-Rennen zu Sachen, die wir nicht mal wollen, und wir gehen dumme Risiken ein.
»My name is ego and I will scare you to death«, lese ich, und in diesem Moment rutscht mir die Kinnlade runter. Das verändert alles, denke ich. Ich stehe in einem dunklen Raum im Museum für Moderne Kunst in Stockholm und sehe diesen irren Film auf der Leinwand. Ein Film von Nathalie Djurberg und Hans Berg. Der Synthesizer dröhnt und spielt einen psychodelischen Sound. Auf der Leinwand sind zwei Figuren zu sehen: eine Mutter und ihr Baby. Dargestellt sind sie als Knetfiguren. Die Mutter verendet während des Films und verwandelt sich am Ende in einen Skorpion. Das Kind macht ihr Vorwürfe und fürchtet sich in seinen Windeln zu Tode. Scared to Death . Aber was soll das Ganze? Ich interpretiere das Werk so: Wir sind eine Person, aber unser Ego steht immer hinter uns, neben uns, über uns. Mal ist es das einsame Kind, das um Hilfe schreit, und dann die strenge Mutter, die uns bestraft. Wahrscheinlich hast du manchmal auch dieses Gefühl, wenn dir dein Ego den Weg versperrt. Du kannst einfach nicht anders, denkst du. Als mir die Kinnlade im Museum runtergefallen ist, war mein erster Reflex: Du musst dieses Ego umbringen. Durch diese Visualisierung wurde mir zum ersten Mal bewusst, was unser Ego mit uns anstellen kann.
Aber was ist dieses Ego überhaupt? Freud verglich das Ego mit dem Reiter auf einem Pferd, der zu steuern versucht, während das Tier unser Unterbewusstsein symbolisiert und in eine andere Richtung ausbricht. Wir sollten das Ego nicht verteufeln. Aus meiner Sicht schadet es uns nur, wenn es zu groß oder zu klein ausfällt. Mach es genau da groß, wo es dir hilft, wenn es dich stark macht. Dann kann das Ego wie ein mächtiger Schatten wirken, der hinter dir steht, und es wird zu einer Aura, zu Selbstvertrauen. Wie groß musst du es beispielsweise machen, damit du genug Vertrauen hast, um auf eine Bühne zu gehen oder deine Start-up-Idee selbstbewusst zu pitchen? Wir sollten unser Ego im Griff haben und es nicht ins Rennen schicken. Wer sich ständig vergleicht und es den anderen zeigen will, der beeindruckt am Ende niemanden, nicht mal sich selbst. Der Vergleich ist sogar der größte Unglücksfaktor. Denn dieses Wettrennen endet nie. Stell dir vor, du verdienst 5000 Euro netto im Monat. Wäre ok, oder? Aber dann erfährst du, dass der Kollege, den du nicht leiden kannst, 5500 Euro verdient. Deine Zufriedenheit dürfte sinken. Dein Ego maßregelt dich. Selbst hochbezahlte Profisportler wie Cristiano Ronaldo pokern mit ihren Vereinen um mehr Gehalt. Wer Hunderte Millionen verdient hat, dem sollte das Geld eigentlich egal sein. Aber wer den Wettbewerb liebt, der kämpft nicht um das Geld an sich, er kämpft darum, mehr zu haben als der andere. »Vergleiche dich mit dem, der du gestern warst, nicht mit irgendwem von heute«, schreibt der Psychologe Jordan B. Peterson. 100 Das Problem des Vergleichs hört nicht mal beim Menschen auf. Es gibt ein Experiment mit zwei Affen. Der eine kriegt eine Gurke und ist zufrieden damit. Als er aber sieht, dass ein anderer Affe eine Weintraube bekommt und er daraufhin wieder nur eine Gurke, wird er wütend. Du kannst dich bei YouTube selber davon überzeugen. 101
Wir sollten das Ego in den Griff kriegen. Gerade wenn es ums Geld geht, kann Selbstüberschätzung gefährlich werden. Ich habe es mit den Sportwetten am eigenen Leib erfahren. Besonders das Anfängerglück war der größte Fluch, weil sich der Rausch des Sieges wie Unbesiegbarkeit anfühlte. Psychologen reden auch vom Hot-Hand-Phänomen. Kennst du diese Menschen, die sich am Roulette-Tisch für übermächtig halten, weil sie dreimal hintereinander die richtige Farbe erraten haben? Sie unterliegen der Fehlannahme, dass sie Ereignisse vorhersehen können. Ähnlich verhält es sich beim Spielerfehlschluss, auch Gambler’s Fallacy genannt. Man hat die falsche Vorstellung davon, ein zufälliges Ereignis werde wahrscheinlicher, wenn es längere Zeit nicht eingetreten ist, oder unwahrscheinlicher, wenn es gehäuft eingetreten ist. 102 Das Phänomen der heißen Hand tritt auch im Sport auf, Spieler sind on fire , wenn sie beim Fußball viele Tore schießen oder beim Basketball jeden Korb treffen. Solch ein Momentum kannst du für dein Selbstvertrauen nutzen, aber bitte überschätze das Momentum nie, wenn du Sachen nicht beeinflussen kannst, beispielsweise Glücksspiel oder die kurzfristigen Ausschläge an der Börse.
Es gibt diese Anekdote von einem alten Mann, der in einem Pariser Bistro saß und auf seiner Papierserviette ein Portrait skizzierte. Er war so vertieft in seine Kunst, dass er nicht bemerkte, wie sich ihm eine ältere Dame näherte und wie hypnotisiert auf das Kunstwerk starrte.
»Entschuldigen Sie, kann ich Ihnen die Skizze abkaufen?«, fragte die Dame.
»Sehr gerne«, erwiderte der alte Mann, »das macht dann 50.000 Franc!«
»Wie bitte? Sie haben doch nur fünf Minuten gebraucht für die Skizze!«
»Nein, meine Dame, ich habe 70 Jahre dafür gebraucht«, antwortete der ältere Mann. Sein Name soll Pablo Picasso gewesen sein.
Selbst die größten Künstler sind nicht als Genies auf die Welt gekommen, sondern mussten hart dafür arbeiten. Wer sich für ein Genie hält, verfällt entweder in ein statisches Selbstbild und lernt nichts mehr dazu oder er überschätzt sich so massiv, dass er viel zu große Risiken eingeht. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Abonnenten, der uns vor dem Videodreh stolz verkündete, dass er mindestens 30 Prozent Rendite pro Jahr machen wolle. Es klang wie selbstverständlich, und ich dachte zuerst, er wolle scherzen. Aber er meinte es ernst, obwohl er in Sachen Kompetenz definitiv als Anfänger einzustufen war und uns auch verriet, dass er weder viel Kapital noch Einkommen zur Verfügung habe. Also müsste er schon sein ganzes Geld riskieren, um auf solche Renditen zu kommen, und so riskant waren seine Anlageideen auch. Wer so agiert und wenig Erfahrung mitbringt, landet schnell in der Privatinsolvenz. Warum trauen wir uns, schnell reich zu werden? Wir würden uns niemals selber operieren oder vor Gericht verteidigen. Eine Rolle spielt möglicherweise der Dunning-Kruger-Effekt : Er bezeichnet die Tendenz von Personen mit geringem Können auf einem gegebenen Feld ihr Können zu überschätzen, während Personen mit hohem Können ihr Können tendenziell unterschätzen. 103 In Umfragen geben regelmäßig mehr als 90 Prozent der Befragten an, dass sie überdurchschnittlich gute Autofahrer wären. Ohne den sogenannten Overconfidence-Effekt 104 müssten es aber 50 Prozent sein, was eigentlich logisch ist, denn überdurchschnittlich heißt nichts anderes, als dass 50 Prozent darüber und 50 darunter liegen.
In der Finanzwelt gilt das Gesetz, dass den Markt in einem Jahr jeder Depp schlagen kann. Wir haben ja bereits gelernt, dass selbst Affen dank des Zufalls Erfolg an der Börse haben können. Bei einem Daueraufschwung wie seit 2009 hebt die Flut sowieso alle Boote. Aber lohnt es sich, davon zu träumen, als normaler Anleger den Markt dauerhaft zu schlagen? Schauen wir uns die Besten der Branche an: Warren Buffett gilt als Value-Investor schlechthin, er identifiziert herausragende Geschäftsmodelle und kauft Unternehmen zu einem attraktiven Preis. Intelligenz und Talent mögen dazu gehören, allerdings gilt Buffett auch als Arbeitstier, beispielsweise liest er jeden Tag mehrere Stunden. Ray Dalio liest aus Daten Dinge heraus, die andere nicht sehen. Aber Experten wie Dalio haben Erfahrung, Teams, Algorithmen, mehr Zeit und mehr Geld in Form eines milliardenschweren Hedgefonds. Als Standard in der Finanzbranche gilt der sogenannte Bloomberg-Terminal. Mit dieser Software lassen sich alle verfügbaren Daten zu Unternehmen rund um den Globus abrufen. Vom Gewinn je Aktie, DuPont-Analyse, bis hin zu Dividenden-Diskont-Modellen und Studien der Analysten. Aber für Berechnungen braucht es eben Zeit und Expertise. Während ich diese Zeilen schreibe, kostet ein Terminal von Bloomberg bis zu 25.000 Dollar pro Jahr. 105 Jetzt rechne mal nach, wie viel Outperformance du als Otto Normalanleger erzielen müsstest, um alleine deinen Bloomberg-Terminal zu erwirtschaften. Wer die fixe Idee vom schnellen Reichtum hat, der sollte sich immer das Genie-Bias vor Augen führen. Hinter großen Erfolgen steckt sehr selten Genie oder Glück, sondern viel Arbeit .
Also lohnt sich der Traum vom genialen Investor wirklich? Bevor du dich entscheidest, erzähle ich dir die Geschichte der Antiproduktivität. Vergleichen wir einfach mal die Geschwindigkeit eines Fußgängers mit der eines Autos. Im Schnitt spazieren wir mit 6 km/h dahin, aber wie schnell fährt ein Auto im Schnitt? Auf Autobahnen fahren wir mindestens 120 km/h, selbst in Ortschaften mit 50 km/h. Also was würdest du schätzen? Wahrscheinlich überschlägst du jetzt grob im Kopf oder du läufst schnell in die Garage und schaust nach, wie viele Kilometer du gefahren bist und schätzt, wie viele Stunden du im Auto verbracht hast. Gefahrene Kilometer geteilt durch die Betriebsstunden – klingt logisch, so rechnet auch der Bordcomputer, aber es lässt sich auch ganz anders rechnen. Denn das Auto kostet eine Stange Geld im Vergleich zu deinen beiden Füßen: Berechne doch mal, wie viele Stunden du arbeiten musst, um dein Auto zu finanzieren, und dann noch, wie lange du im Büro ackerst für Benzin, Versicherung und Co. Alleine um ins Büro zu kommen, musst du schon wieder Hunderte Stunden das Auto benutzen und stehst noch stundenlang im Stau. Ivan Illich wollte es genau wissen und hat nachgerechnet. Sein Ergebnis für die USA war, dass ein Auto im Schnitt gerade mal eine Geschwindigkeit von 6 km/h erreicht. Also könntest du theoretisch auch zu Fuß gehen. Und Illich berechnete das Ganze in den 1970er-Jahren, damals hatten die USA rund 40 Prozent weniger Einwohner als heute. Zu Fuß gehen dürfte heute also noch schneller gehen als fahren. Illich nannte dieses Phänomen Antiproduktivität. Technologie erscheint also auf den ersten Blick als genialer Trick, um Zeit zu sparen. Wer bei den Vollkosten nachrechnet, wird schnell nüchtern. 106
Wahrscheinlich hast du schon mal was von Opportunitätskosten gehört. Es handelt sich um Verzichtkosten, also entgangene Erlöse, die dadurch entstehen, dass andere Möglichkeiten nicht wahrgenommen werden. Wenn wir Geld verdienen wollen, sollten wir diese Kosten und die Antiproduktivität im Blick haben. Nehmen wir mal an, die jährliche Rendite an den weltweiten Aktienmärkten beträgt 5 Prozent und stellen wir uns zwei Szenarien vor: Im ersten willst du es allen zeigen und peilst eine Rendite von 10 Prozent an, du schuftest jeden Tag und investierst pro Jahr 1000 Stunden. Im zweiten Szenario automatisierst du deine Finanzen und fährst mit Sparplänen bequem 5 Prozent ein. Dafür investierst du 20 Stunden pro Jahr. Rechne dir doch dann mal deine Rendite pro Stunde aus. Wer sich für ein Genie hält, wird spätestens beim Ergebnis zusammenzucken wie Narziss beim Anblick seines Spiegelbildes.
Test yourself! Es gibt eine Inner Scorecard und eine Outer Scorecard . 107 Überlege dir, was dir wichtiger ist: Wie du dich selber einschätzt oder wie dich die Außenwelt einschätzt? Stelle dir vor, du hast zwei Optionen: Entweder bist du der reichste Mensch der Welt, aber niemand bekommt etwas davon mit. Du hast zwar Milliarden und ein schönes Leben, aber niemand weiß etwas davon. Es gibt keine Hochglanzbilder auf Instagram und dein Gesicht ist auch nicht auf Illustrierten abgebildet. Klingt das gut für dich? Bevor du dich entscheidest, stelle ich dir noch die zweite Option vor: Du bist ein absoluter Durchschnittsmensch und verdienst auch so, allerdings denkt die ganze Welt, dass du reich wärst. Du führst einen tollen Instagram-Account, zeigst dich gerne in teuren Autos, und dein Gesicht wird in den Medien mit Reichtum gleichgesetzt. Doch Geld hast du kaum. Was wäre dir lieber? Es ist entscheidend für deinen Erfolg, dass du dir klarmachst, was du für andere machst und was du wirklich für dich selber machst. Schreibe dir drei Dinge auf, die du für dich selbst tust und bei denen du dich ständig verbessern willst. Und schreibe dir drei Dinge auf, die du nur tust, um deine Kollegen oder Nachbarn zu beeindrucken .
Inner Scorecard – diese drei Dinge machst du für dein persönliches Glück:
    Outer Scorecard – diese drei Dinge machst du, um andere Menschen zu beeindrucken: