LERNEN DURCH SCHMERZ – SO WIRST DU UNZERBRECHLICH
»Welche überraschende Frage könnte ich ihr stellen beim ersten Date?«, fragt mich Sherlock.
Er ist jetzt auf Tinder und sucht dort nach der großen Liebe. Sherlock hat wenigstens klare Vorstellungen: Sie sollte sehr schlank sein und aussehen wie ein Model, aber sie sollte auch sehr klug sein und einer Leidenschaft nachgehen. Und darin sollte sie richtig gut sein. Sie sollte Werte haben und eine Meinung. In etwa eine Kreuzung aus Emily Ratajkowski, Michelle Obama und Frida Kahlo. Aber egal, während er noch von seiner Traumfrau träumt, überlegt er, was er Anna-Lisa schreiben soll.
»Du sollst keine Wissenschaft daraus machen. Am besten hörst du ihr einfach zu und fragst dann genau das, was dich auch wirklich interessiert«, antworte ich ihm.
»Aber es muss doch auch wissenschaftliche Evidenz dafür geben, was ein Date erfolgreich macht. Beispielsweise zeigen Studien ganz klar, dass es verbindet, wenn man gemeinsam etwas erlebt, also werde ich mit ihr nicht in eine Bar gehen. Wir brauchen Action! Deswegen schleppe ich sie in einen Freizeitpark, weil es zusammenschweißt, wenn der Körper Adrenalin bei der Achterbahnfahrt ausschüttet.«
»Aber danach wirst du dich trotzdem mit ihr unterhalten müssen. Und du hast jetzt Angst davor, dass dir nichts einfallen könnte?«, frage ich.
»Angst nicht, aber ich will sie ja beeindrucken. Es gibt eine interessante Liste von Fragen, die man stellen soll, wenn man sich verlieben will. Ich finde das fragwürdig, aber vielleicht ist es einen Versuch wert«, sagt Sherlock .
»Was sind das denn für Fragen?«, hake ich nach und wehre mich dagegen, mit den Augen zu rollen.
»Beispielsweise: Mit welchem Promi hättest du gerne ein Dinner? Was ist so ernst, dass man keine Scherze darüber machen darf? Oder was ist deine schlimmste Erinnerung? Die Frage kannst du mir eigentlich gleich mal beantworten ...«
Über diese Frage habe ich schon lange nicht mehr nachgedacht. Aber wer hätte sie mir auch stellen sollen außer Sherlock. Schlimme Erinnerungen habe ich wenige, aber ich erinnere mich daran, was mich damals wirklich getroffen hat: Ich bin bei der praktischen Führerscheinprüfung durchgefallen. Es klingt total lächerlich, aber diese Geschichte erzähle ich dann auch Sherlock. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Ich fuhr über einen Zebrastreifen und schaute davor nicht demonstrativ nach links und rechts. Natürlich hatte ich gesehen, dass kein Fußgänger kam, aber der Prüfer wollte an diesem Tag unbedingt, dass ich durchfalle und hat meinen Fauxpas nicht übersehen. Erst war ich sehr wütend auf ihn und hätte ihn am liebsten zur Rede gestellt und ihn angeschrien, später schlug die Wut dann auf mich selber um. Wie kann man nur so dumm sein? Ich erinnere mich noch, dass ich selten so enttäuscht von mir war und ich erzählte es auch niemandem außer meinen Eltern, weil es mir so peinlich war. Warum erzähle ich dir von diesem Erlebnis? Weil dieser erste Schritt schon mal sehr wichtig ist: Ich habe zuerst jemand anderen für mein Scheitern verantwortlich gemacht, dann aber selber die Verantwortung für mein Handeln übernommen. So weit, so gut, aber ich benahm mich trotzdem noch wie ein kleines Kind und war bockig und beleidigt. Ich war damals so sauer, dass mir nichts anderes mehr einfiel, als mich in die Badewanne zu legen und ins Leere zu starren. Ich saß zwar im Wasser, aber eigentlich in meinem Selbstmitleid. Dann kippte die Wut auf einmal: Ich war wütend, dass ich so wütend war und mir wurde bewusst, dass es so nicht weitergehen konnte. Ein paar Stunden konnte ich mich benehmen wie ein Kind und mit dem Fuß aufstampfen, ok, aber jetzt war es auch gut. Vor allem, weil ich am nächsten Tag eine Matheprüfung vor mir hatte. Tatsächlich beschloss ich in diesem Moment, dass ich nie wieder wegen einer Nichtigkeit aus der Balance geraten würde, und ich schaffte es tatsächlich, mich auf die Matheklausur vorzubereiten und eine gute Note abzustauben. Klingt nach einem Jugendabenteuer, aber für mich war es damals ein wichtiger Schritt zu erkennen, was Mindset und Selbstkontrolle für einen Unterschied machen können.
Hinter der Führerscheinprüfung steckt noch ein größerer Gedanke. Um erfolgreich zu werden, braucht es Durchhaltevermögen. Es wird immer Rückschläge geben. Aber wir dürfen keine Angst davor haben, Fehler zu machen. Und wir müssen lernen, dass der Schmerz der beste Lehrmeister ist. Nassim Taleb nennt es in seinem Buch Das Risiko und sein Preis sogar Lernen durch Schmerz – pathemata mathemata , wie es bei den Griechen hieß. 136 Als ich in der Badewanne lag, fühlte es sich furchtbar an. Heute bin ich dankbar für solche Erlebnisse. Weil sie mich weitergebracht haben und weil ich es geschafft habe, von einem kindischen zu einem erwachsenen Benehmen zu wechseln. Wenn du harte Zeiten durchmachst, dann lässt sich das von außen immer leicht beurteilen und sagen, dass du es später mal anders sehen wirst. Es klingt selbstgerecht, aber glaub mir, es wird dich stärker machen.
In diesem Zusammenhang wenden wir uns den Begriffen Kenshō und Satori zu. Kenshō kommt aus dem Japanischen und heißt »Erschauen des eigenen Wesens« oder auch »Natur erkennen«. 137 Der Begriff kommt aus der buddhistischen Tradition des Zen und bezeichnet ein initiales Erweckungserlebnis, bei dem der Erweckte seine eigene wahre oder Buddha-Natur erkennt. Sie soll es ihm ermöglichen, im täglichen Leben am Verständnis dieser Erkenntnis zu arbeiten. Das klingt jetzt sehr esoterisch, aber eigentlich lässt es sich einfach in der Praxis umsetzen. Kenshō steht für den schmerzhaften Weg zum Wachstum, es ist ein allmählicher Prozess. Hier sind ein paar Beispiele dazu:
Drücken wir es anders aus: Das Leben straft uns mit Prüfungen, aber genau dadurch wachsen wir. Der Schmerz lehrt uns. Das Schwierige daran ist, dass wir in diesem Moment nicht dankbar dafür sind, dass wir etwas lernen dürfen. Im Rückblick wirst du erkennen, dass gerade die harten Zeiten dich zu dem gemacht haben, was du heute bist. Ich habe selber eine solche Erfahrung mit Pfeifferschem Drüsenfieber gemacht. Zwei Wochen lang hatte ich keine Kraft mehr, und in einem Moment war ich so ausgelaugt, dass mir alles egal war. Aber diese Tage haben in mir auch den Willen reifen lassen, fitter und gesünder als je zuvor zu werden. Danach habe ich mein Lauftraining intensiviert und bin nur ein halbes Jahr später wieder einen Halbmarathon gelaufen – tatsächlich war es der zweite meines Lebens und ich war 13 Minuten schneller als beim ersten Mal, obwohl ich viel weniger trainiert hatte. Solche Tiefschläge zwingen uns, etwas zu ändern und setzen Kräfte frei, die wir vorher nicht für möglich gehalten hätten.
Satori lässt sich dagegen eher mit dem Schlagwort »Erwachen« beschreiben. 138 Hattest du auch schon mal diesen Moment, in dem dir klar wurde: »Das ist es!«? Wenn du wochenlang überlegst und merkst, dass dein Geist unruhig ist und dann trifft dich die Lösung plötzlich wie ein Blitz. Deswegen heißt Satori auf Deutsch auch »Verstehen«. Natürlich lässt sich sowas durch Meditation forcieren: Gerade wenn wir tief entspannt sind, geben wir unserem Hirn die Chance, auf neue Dinge zu stoßen. Aber Satori kann auch durch totale Ruhe ausgelöst werden. Überlege dir, was dich total entspannt. Ich habe zum Beispiel ein Buddha Board ausprobiert. Dabei malt man mit einem nassen Pinsel auf eine Leinwand. Es geht darum, sich darauf zu konzentrieren, und dann kommt das Entscheidende: Da du nur mit Wasser malst, verschwindet die Zeichnung nach kurzer Zeit wieder. Mich beruhigt eine solche Tätigkeit sehr. Überlege, was auf dich diese Wirkung hat. Du kannst Fische in einem Aquarium beobachten, Gemälde in einem Museum betrachten (Ich liebe es), du kannst in die Sauna gehen oder zum Floating. Es geht um Einsicht und Entspannung. Es geht darum, sich selber besser zu verstehen und warum wir Dinge tun, und es geht darum, sich selber zwischendurch wie von einer Tribüne aus zu betrachten. Stell dir vor, du wärst der Spieler auf einem Feld und würdest manchmal in die Rolle des Trainers wechseln und dich beobachten. Was würdest du dir selber für Tipps geben? Wie würdest du dir Mut machen?
Sherlock hatte eine wichtige Erkenntnis nach dem ersten Date mit Anna-Lisa: Liebe lässt sich nicht planen und schon gar nicht berechnen. Sie hat sich nie wieder bei ihm gemeldet. Warum? Es spielt keine Rolle, vielleicht mochte sie seinen Humor nicht oder keine Freizeitparks. Es passiert nicht alles aus einem Grund, und wir sollten nicht ständig alles mit Bedeutung aufladen, sondern uns lieber auf uns selbst konzentrieren und durch den Schmerz wachsen. So lernte Sherlock dann auch wenige Wochen später eine andere Frau kennen: Lena. Seit dem ersten Treffen sind sie begeistert voneinander, und das alles ohne Achterbahn und Fragenkatalog.
Test yourself! Hier noch ein paar Beispiele, wie du dich im stressigen Alltag zwischendurch neu fokussieren kannst und dein Gehirn dazu bringst abzuschalten und die Welt und vor allem dich selbst bewusster wahrzunehmen.