AKTIEN SIND NICHT RISKANT ODER WARUM UNSICHERHEIT DIE WAHRE STABILITÄT IST
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ch biete dir jetzt einen Deal an: Du gibst mir 10.000 Euro und bekommst in einem Jahr 9999 Euro zurück. Was sagst du dazu? Wahrscheinlich fragst du dich, ob ich dich für dumm verkaufen will. Aber für die meisten Deutschen wäre dieses Angebot durchaus reizvoll, denn sie würden damit besser abschneiden als mit ihrem Sparbuch oder Produkten, auf die sie feste Zinsen kriegen. Dafür schauen wir am besten auf die sogenannte Umlaufrendite. Sie ist die gewichtete durchschnittliche Rendite ausgewählter, am Kapitalmarkt im Umlauf befindlicher öffentlicher Anleihen (Du bekommst Zinsen dafür, wenn du beispielsweise dem Staat Geld in Form einer Anleihe leihst) und sonstiger festverzinslicher Wertpapiere (Pfandbriefe). Die Umlaufrendite fiel im August 2019 auf ein historisches Tief von minus 0,71 Prozent. Wenn du deine 10.000 Euro jetzt in vermeintlich sicheren deutschen Staatsanleihen parken würdest, dann würdest du nach einem Jahr 9929 Euro zurückbekommen. Vielleicht solltest du doch noch mal über mein Angebot nachdenken. Wer noch die Inflation einbezieht in die Rechnung, verliert im Umfeld der niedrigen Zinsen sicher einen Batzen Geld, wenn er es nicht selber in die Hand nimmt und investiert!
Den deutschen Sparern sind schon Hunderte Milliarden Euro verloren gegangen, seit die Europäische Zentralbank (EZB) den Leitzins seit 2008 abgesenkt hat, im März 2016 fiel er endgültig auf null. Der Deutsche Aktienindex (Dax) hat sich dagegen seit Ende 2008 mehr als verdoppelt. Aber warum werden Aktien dann immer noch als
riskant verteufelt und nur 12,4 Prozent der Deutschen investieren in diese attraktive Anlage?
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Uns wird schon als Kinder eingetrichtert, dass man nicht gierig sein soll. In meiner Familie und bei meinen Schulfreunden war der Geschäftssinn nicht unbedingt ausgeprägt. Aktien seien nur was für Zocker und Geld dafür keines übrig! Ich habe diesen Spruch in meinem Leben schon von Steuerberatern, Lehrern und Geschäftsführern gehört. Wenn du den Zocker-Spruch hörst, dann schrillen bei dir bitte ab sofort die Alarmglocken.
Wir Menschen tun uns eben schwer damit, Risiken einzuschätzen. Dazu ein Beispiel aus dem echten Leben: Bei einem Experiment aus dem Jahr 1972 wurden die Versuchsteilnehmer in zwei Gruppen eingeteilt. Der ersten Gruppe wurde gesagt, sie würden einen leichten Elektroschock verpasst kriegen. Der zweiten Gruppe sagte man, dass sie nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent einen solchen Schock bekommen würden. Die Forscher kontrollierten die physische Angst (beispielsweise Herzfrequenz) kurz vor dem Eintreten des Schocks. Das überraschende Ergebnis: Es gab keinen Unterschied. Und es kommt noch absurder: Selbst als die Forscher die Wahrscheinlichkeit auf 20 Prozent und immer weiter absenkten, blieb die körperliche Reaktion dieselbe wie bei jenen, die sicher einen Schock verpasst kriegen würden.
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Sind wir Menschen also blind für Risiken? Es gibt das Phänomen des
Zero-Risk-Bias
, also dass man einer Scheinsicherheit erliegt und das Risiko falsch einschätzt.
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Das beste Beispiel sind eben die deutschen Sparer: Sie lassen Tausende Milliarden Euro auf ihren Konten liegen, weil sie denken, es wäre die sicherste Option. Sie meinen, sie würden dann nichts verlieren, aber ihr Geld wird jeden Tag weniger wert und sie vergessen auch noch die anderen Risiken: Eine Bank kann pleitegehen und damit kannst auch du dein Geld verlieren. Wenn du dein Geld zur Bank trägst, weißt du eigentlich, wem das Geld gehört? Das Geld gehört juristisch gesehen der Bank, du hast es ihr sozusagen geliehen. Es gehört erst wieder dir, wenn du es physisch auszahlen lässt – also am Automaten oder Schalter.
Um deutlicher zu werden: Wer sich blind auf Währungen wie den Euro verlässt, muss eigentlich wahnsinnig sein, denn Geld ist genau
genommen nicht mal etwas wert. Fiat-Währungen wie der Euro haben keinen inneren Wert, sondern sie sind nur ein Tauschobjekt, das vom Vertrauen der Menschen lebt, die damit handeln. Das Problem daran: Es besteht keinerlei Anspruch an die Zentralbank auf Herausgabe eines entsprechenden Wertes wie beispielsweise Gold, wenn du deine Münzen und Scheine zur Bank trägst. Somit sind Münzen und Banknoten nur so viel wert, wie irgendjemand bereit ist, dafür herzugeben.
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»Papiergeld kehrt früher oder später zu seinem inneren Wert zurück – Null«
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, sagte der Philosoph Voltaire einst. Ein großes Problem besteht darin, dass Geld sich beliebig vermehren lässt. Der Grund dafür: Im Jahr 1971 schafften die USA den Goldstandard ab. Seitdem ist beispielsweise der US-Dollar wie auch der Euro eine sogenannte Fiat-Währung. Fiat kommt aus dem Lateinischen und heißt: So sei es. Die Notenbanken können also gottgleich mit dem Finger schnippen und Geld aus dem Nichts erschaffen. Klingt erst mal toll, aber es gibt nichts umsonst im Leben. Je mehr Geld gedruckt wird, umso weniger wird es wert, und im Ernstfall kann eine Währung wie der Euro zusammenbrechen. Am treffendsten hat es Henry Ford auf den Punkt gebracht: »Würden die Menschen das Geldsystem verstehen, hätten wir eine Revolution noch vor morgen früh.«
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Aktien gelten also als riskant, obwohl sich die meisten Menschen noch nie damit beschäftigt haben, geschweige denn nachgerechnet haben. Eines muss ich klarstellen: Aktien sind riskant! Aber nur, wenn du keine Ahnung davon hast. Jeder, der sein Vermögen auf mehrere Aktien streut und genug Zeit mitbringt, kann mathematisch kaum verlieren. Das deutsche Aktieninstitut gibt jedes Jahr das sogenannte Renditedreieck heraus. Für den Dax zeigt sich seit dem Jahr 1969 die Überlegenheit von langfristigem Investieren: Wer seine Aktien für mindestens 20 Jahre hielt, erzielte eine durchschnittliche Rendite von 8,9 Prozent im Schnitt. Im schlechtesten Fall lag die jährliche Rendite bei 3,8 Prozent, im besten sogar bei 15,2 Prozent.
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Schau dir die Grafik am besten selber an, dann wirst du dich wundern, warum Aktien als Zockerei verunglimpft werden. Trotzdem solltest du nicht gierig werden, denn solche Renditen landen unter dem Strich nicht so auf
deinem Konto, auch bei Aktien musst du noch Steuern, die Inflation und Gebühren abziehen. Aber eines ist sicher: Aktien sollten langfristig deutlich besser abschneiden als dein Sparbuch.
Du musst dir klarmachen, dass alles eine Wette ist im Leben: egal ob du dein Geld zur Bank trägst oder Aktien kaufst. Den Unterschied macht dabei das Risiko. Wer verdienen will, muss Risiko eingehen. Im Studium und in der Schule wird uns beigebracht: Rendite und Risiko laufen Hand in Hand. Ohne Risiko geht es nicht, aber es ist nur die halbe Wahrheit, warum weniger Risiko sogar mehr Rendite bringen kann. Dazu mehr in den nächsten Kapiteln. Wichtig ist: Alleine sagt das Risiko noch wenig aus, nur wer die Chance in die Rechnung einbezieht, bekommt ein klares Bild und damit das Chance-Risiko-Verhältnis. Und das fällt bei einem strategischen Aktien-Investment sehr gut aus. Die Wahrscheinlichkeit mit dem Dax auf Sicht von 25 Jahren Gewinn zu erzielen liegt bei historischer Betrachtung bei exakt 100 Prozent! Und jetzt vergleichen wir das mal mit dem Lieblingssport der Deutschen: Lotto. Die Wahrscheinlichkeit, sechs Richtige mit Superzahl zu erwischen liegt bei 0,00000072 Prozent.
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Und Aktien sollen was für Zocker sein? Komischerweise musste sich noch nie jemand dafür rechtfertigen, wenn er sein Geld beim Lotto verzockt!
Bleibt eine Frage: Warum soll man an der Börse etwas geschenkt bekommen? Diese Frage stellen immer wieder jene Leute, die sich noch nie mehr als fünf Minuten mit dem Investieren befasst haben. Man bekommt auch nichts geschenkt, man stellt sein Kapital zur Verfügung und geht damit ein Risiko ein. Wenn das Unternehmen pleite geht, dem du dein Geld geliehen hast, dann ist auch dein Geld weg. Du bekommst also nichts geschenkt, aber du bekommst eine Verzinsung für das Geld, das du verleihst. Im Prinzip funktioniert es nicht anders, als wenn du dein Geld der Bank leihst und dafür theoretisch Zinsen bekommst. Nur bekommst du am Aktienmarkt viel mehr! Es gibt nämlich das sogenannte
Equity-Premium-Puzzle
. Demnach ist die Höhe der Aktienprämie also aus ökonomischer Sicht ein Rätsel. Oder anders ausgedrückt: Du bekommst für Aktien viel mehr Rendite, als sich durch das Risiko eigentlich rechtfertigen lässt.
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Die Idee einer
Aktienrisikoprämie geht auf das Jahr 1924 zurück, als Edgar Lawrence Smith demonstrierte, dass Aktien für langfristige Anlagen besser geeignet sind als Anleihen.
Was fürchten die Menschen also so sehr an Aktien? Das Risiko wird gerne vorgeschoben, aber eigentlich sind es die Schwankungen, die uns den Schlaf rauben. Der Fachbegriff dafür lautet Volatilität: Je mehr eine Aktie in ihrem Wert schwankt, umso volatiler ist sie. Warum das nicht zwingend aussagekräftig ist, werde ich dir später noch genauer erklären. Vola hat jedenfalls einen schlechten Ruf, weil sie kurzfristig alles ist, was du siehst. Aktien schwanken eben jeden Tag und das verunsichert. Was du also siehst, ist das Risiko. Was du aber langfristig bekommst, ist die Rendite. Und für die lohnt es sich zu leiden. Deswegen werden Aktiengewinne auch gerne als Schmerzensgeld bezeichnet. Je erfahrener ein Investor wird, umso mehr weiß er die Vola zu schätzen. Wenn Aktienkurse nicht zwischendurch fallen würden, dann gäbe es auch nie die Chance, billiger einzusteigen. Merke dir: Die großen Reichtümer sind meistens nach einem Crash entstanden. Warren Buffett investierte beispielsweise mitten in der Finanzkrise 2008 in die Investment-Bank Goldman Sachs.
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Vola scheint Aktionäre um den Verstand zu bringen und das System wackliger zu machen. Aber der Schein trügt. Schwankungen machen ein System sogar stabiler. Klingt erst mal absurd, aber schauen wir uns ein Beispiel dazu an: Frau Leber kommt jeden Tag um Punkt 13 Uhr von der Arbeit nach Hause und kocht ihrem Sohn ein Mittagessen. Der Kleine kann die Uhr nach ihr stellen. Was würde nun passieren, wenn seine Mutter eines Tages nicht um Schlag 13 Uhr die Tür aufsperrt? Ihr Sohn würde sich Sorgen machen und wahrscheinlich mit jeder Minute unruhiger werden. Käme Frau Leber aber jeden Tag mit einer Schwankungsbreite von 30 Minuten nach Hause, würde ihrem Sohn eine Verspätung gar nicht auffallen. Ergo: Scheinbar riskante Systeme sind robuster als scheinbar stabile Systeme.
Normalerweise geht man davon aus, dass ein System wackliger wird, wenn es unter Stress gesetzt wird. Allerdings lohnt sich ein Blick auf die Kybernetik. Sie wurde begründet von Norbert Wiener und wird
auch als »Kunst des Steuerns« beschrieben. Ein Beispiel für das Prinzip eines kybernetischen Systems ist ein Thermostat. Er vergleicht den Istwert eines Thermometers mit einem Sollwert, der als gewünschte Temperatur eingestellt wurde. Eine Abweichung zwischen diesen beiden Werten veranlasst den Regler im Thermostat dazu, die Wärmezufuhr so zu regulieren, dass sich der Istwert dem Sollwert angleicht. Was bedeutet es für den Kapitalismus und Aktien? Ich erkläre es dir zunächst anhand eines anderen Beispiels. Du musst erst mal den Unterschied zwischen Systemen verstehen: Häuser in einem Erdbebengebiet werden beispielsweise ganz anders gebaut als in Deutschland. In Deutschland bauen wir Häuser mit massiven Wänden, weil es in der Regel keine Erdbeben gibt. Im Falle eines Erdbebens wären massive Wände allerdings die schlechteste Lösung und sie würden zusammenbrechen. In Asien müssen Architekten deswegen anders planen, weil von Anfang an das Risiko eines Erdbebens einkalkuliert wird. Das heißt, die Stabilität muss während des Erdbebens zunehmen. Also fallen die Wände viel dünner aus und oben befindet sich eine schwere Metallkugel, die eine Art Gegengewicht darstellt. Die Statik macht die Gebäude also stabiler, wenn sie sich bewegen.
Diese sogenannte Ultrastabilität lässt sich auch auf den Kapitalismus übertragen: Während einer Krise verschwinden jene Unternehmen vom Markt, die nicht solide genug aufgestellt sind und die ihren Kunden nicht genug Mehrwert bieten. Das System wird einmal durchgeschüttelt, und am Ende kehrt alles an seinen Platz zurück. Wir wissen, dass die Welt immer besser wird, und das Wirtschaftssystem wird sich in Summe immer neu erfinden. Es wird heftige Schwankungen geben, die wir sehen, aber übrig bleibt am Ende die Rendite, weil jeder Mensch danach strebt, mehr aus seinem Geld zu machen. Die einen vertrauen leider noch auf ihr Sparbuch, aber du weißt jetzt, was zu tun ist, wenn dir beim nächsten Mal jemand 10.000 Euro anbietet.