DIE BÖRSE IST KEIN SCHÖNHEITSWETTBEWERB, SONDERN EIN MODEL-CASTING
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elche Aktien sind denn jetzt die besten? Und wie lässt sich das entscheiden?
In seinem Buch Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes
vergleicht der Ökonom John Maynard Keynes die Börse mit einem Schönheitswettbewerb. Es geht also darum, einen Sieger zu küren und die Investoren wetten im Vorfeld darauf, wer gewinnen wird. Wer dabei erfolgreich sein möchte, der darf sich nicht von seinem eigenen Schönheitsideal leiten lassen, so Keynes, sondern er muss erahnen, wen die Mehrheit der Juroren als die Schönste erachtet. Aber das war es noch nicht: Jeder der Juroren bemüht sich wiederum zu erahnen, welche Kandidatin die Mehrheit der anderen denn für die Schönste hält.
Mit dem Gleichnis des Schönheitswettbewerbs wird häufig erklärt, wie sich die Preise von Aktien bilden. Demnach lässt sich der Börsenkurs der Aktie nicht am fundamentalen Wert festmachen, das heißt dem Barwert aller abdiskontierten Zahlungen, die das Unternehmen künftig erzielen wird, sondern daran, was der Investor glaubt, was andere Investoren glauben, was die Aktie denn wert sein könnte. Aber geht es so wirklich zu an der Börse? Eines steht fest: Kurzfristig versuchen viele Spekulanten zu erahnen, was der Markt macht und wie die anderen Anleger ticken. Aber wie soll sich so etwas quantifizieren lassen? Es gibt Stimmungsumfragen unter Anlegern und professionellen Investoren, das nennt sich Sentiment, aber trotzdem gibt es
keine fundamentale Kennzahl, die die Stimmung aller Marktteilnehmer im Vorfeld misst. Außerdem gibt es keine Siegerehrung wie beim Schönheitswettbewerb. Dort steht die Siegerin fest und der Wettbewerb ist vorbei, an der Börse geht es aber immer weiter. Selbst das wertvollste Unternehmen der Welt kann morgen schon in Ungnade fallen. Aber dann kommen wir wieder zur Timing-Frage und das ist sehr gefährlich. Für langfristige Investoren lohnt es sich nicht, sich jeden Tag zu fragen, was die anderen machen könnten. Im Gegenteil: Es geht manchmal sogar darum, sich bewusst anders zu positionieren. Denn was heute der Konsens ist, kann schon darauf hindeuten, dass es morgen genau das Gegenteil sein wird in der Realität. Erfolgreiche Investoren verhalten sich wie ein Model-Scout: Sie versuchen nicht, die Schönen von gestern oder heute zu entdecken, sondern die Schönen von morgen. Also suchen sie Unternehmen, die dauerhaft eine hohe Rendite erwirtschaften und den Gewinn pro Aktie für lange Zeit steigern können.
Aber wie lässt sich berechnen, was die Schönen von morgen in Zukunft verdienen werden? Um das Potenzial eines Unternehmens einzuschätzen, hilft kein Gefühl und auch kein Schönheitswettbewerb, es geht wie immer um die nackten Zahlen, genauer gesagt um das Dividenden-Diskontierungs-Modell (DDM). Nochmal zur Wiederholung: Danach bestimmt sich der Wert einer Aktie als die Summe aller abdiskontierten Dividenden, beziehungsweise Gewinne, die ein Unternehmen künftig erzielt. Doch wie lässt sich dieses Modell in der Praxis umsetzen? Investoren müssen die künftigen Gewinne schätzen und einen geeigneten Diskontierungszins definieren. Ich würde dir gerne eine einfachere Lösung anbieten, um den fairen Wert einer Aktie zu berechnen, aber wenn es einfach wäre, dann könnte es jeder. Das DDM bedeutet Arbeit, und es ist mit großer Unsicherheit verbunden, weil sich alles nur schätzen lässt. Bei manchen Unternehmen lassen sich die Gewinne relativ leicht schätzen, aber gerade bei jungen Unternehmen umso schwieriger. Dann landen wir wieder beim Kompetenzkreis von Buffett: Wenn du gezielt in Unternehmen investieren willst, dann solltest du dich intensiv damit befassen und erst mal überlegen,
wie gut du sie einschätzen kannst. Es gibt Branchen, die du besser verstehst und welche, die du nicht mal im Ansatz begreifst. Bleib besser in deinem Kreis. Und stelle dir vor allem eine Frage: Besitzt du überhaupt genug Kompetenz, um einzuschätzen, was Unternehmen in fünf, zehn oder zwanzig Jahren verdienen? Wenn du diese Frage jetzt mit Nein beantwortest, dann ist das nicht der Anfang vom Ende, sondern es spricht eher dafür, dass du dich gut einschätzen kannst, und es heißt noch lange nicht, dass du nicht vom Wachstum der Weltwirtschaft profitieren kannst. Im Gegenteil: Du gehst dann eben den einfacheren Weg, der dir zwar keinen schnellen Reichtum verspricht, dafür aber einen soliden Aufbau deines Vermögens. Wie du das konkret umsetzt, dazu kommen wir in den folgenden Kapiteln.
Kommen wir nochmal zurück zum DDM. Dabei spielen auch die Zinsen eine sehr wichtige Rolle. Denn mit ihnen musst du die geschätzten Zukunftsgewinne abdiskontieren, und das macht die Sache nochmal komplizierter. Momentan fallen die Zinsen sehr niedrig aus, und deswegen geht es in erster Linie darum, ob und wie lange es noch so bleiben wird. Es macht einen riesigen Unterschied, ob du mit einem Zinssatz von 0,5 Prozent abzinst oder mit einem langfristigen Durchschnittszins von 3 Prozent. Denn wie wirkt sich der Zins auf die Attraktivität von Aktien aus? Je höher der gewählte Diskontierungszins ausfällt, desto niedriger wird auch der faire Wert der Aktie ausfallen. Die Erklärung dafür ist: Je höher die Zinsen ausfallen, umso mehr bekommst du ja beispielsweise auf der Bank für dein Geld oder auch bei anderen Anlageformen wie Anleihen. Es werden also viele Investoren das Risiko von Aktien vermeiden und lieber sichere Renditen einfahren. Wenn es dagegen gar keine Zinsen mehr gibt, müssen gerade professionelle Investoren das Risiko hochfahren, um Rendite zu erwirtschaften. Dann sind Aktien oft die einzige Option.
Der Preis einer Aktie wird vom Markt gemacht, aber du musst dich immer fragen, was du heute bereit bist, für eine Aktie zu bezahlen und was sie in Zukunft wert sein wird. Du kannst es dir vorstellen wie bei einem Manager von einem Fußballverein: Wenn du einen Spieler verpflichten willst, wie viel bezahlst du für ihn? Du wirst überlegen,
wie viele Spiele er machen wird, wie viele Tore er schießen wird und wie viele Trikots sich verkaufen lassen. Deswegen besteht ein massiver Unterschied beim Marktwert zwischen einem Ersatzspieler und einem Lionel Messi. Bei einem Unternehmen geht es genauso: Welche Zuflüsse wird es künftig erwirtschaften und wie viel kann ich davon haben? Deswegen lohnt sich nicht nur ein Blick auf den Gewinn, sondern auch auf den Cashflow. Der lässt sich nämlich nicht so leicht durch Buchhaltungstricks frisieren wie der Gewinn.
Jetzt wollen wir für die Bewertung einer Aktie noch in die Tiefe gehen und uns dafür ein Beispiel ansehen: Nehmen wir an, du würdest eine Dividende von 1000 Euro in einer Woche bekommen und danach sperrt das Unternehmen zu. Was würdest du heute für diese 1000 Euro bezahlen? Hoffentlich weniger, sonst wärst du ein schlechter Geschäftsmann. Seien wir mal nicht gierig und bieten 900 Euro, mehr als 1000 Euro würde nur ein Schwachkopf bezahlen. Das Problem ist, dass sich diese Frage leicht für eine Woche beantworten lässt, aber wie sieht es mit einem Jahr aus? Da könnte dann schon einiges passieren. Möglicherweise geht das Unternehmen zwischendurch pleite und wir sehen unsere 1000 Euro nie wieder. Also wie viel würdest du heute dafür bezahlen? Wer gerne spekuliert, würde sicher 800 Euro auf den Tisch legen, aber sicherheitsbewusste Menschen würden vielleicht nur 600 oder 500 Euro investieren. Die Erkenntnis lautet also: Wahrscheinlich würdest du für die Dauer von einem Jahr weniger bezahlen als für die Dauer von einer Woche. Und jetzt ersetzen wir die 1000 Euro Dividende durch die Cashflows der Zukunft, und wir rechnen auch nicht damit, dass das Unternehmen gleich aufgibt, sondern noch lange existiert. Dann sind wir beim sogenannten Discounted-Cash-flow-Modell
gelandet – auch DCF-Modell genannt – und so funktioniert die Bewertung von Unternehmen. Also überleg dir, wie viel du heute für einen neuen Messi bezahlen würdest, der dich in den kommenden Jahren zu mehreren Champions-League-Titeln schießen oder am Ende nur auf der Ersatzbank landen könnte.