ZAHLEN KÖNNEN TÖDLICH SEIN
»Wenn ich dir vorschlage, dass du aus dem Fenster springst für 1000 Euro, würdest du es dann machen?«, fragt mich Sherlock.
»Aus welchem Stock denn?«
»Das wollte ich hören. Wir müssen immer erst alle Fakten wissen, bevor wir entscheiden. Das ist genau das Problem mit Multiplikatoren. Das funktioniert einfach nicht!«
Was Sherlock meint: Äpfel ließen sich noch nie mit Birnen vergleichen und Zahlen können tödlich sein! Ein Beispiel dazu: Du bekommst eine Wohnung angeboten zum Kaufpreis von 50.000 Euro. Ist das jetzt günstig oder teuer? Es lässt sich schlichtweg nicht beantworten, weil die Information alleine nichts wert ist. Denn wo steht die Wohnung? Für München wäre diese Wohnung wahrscheinlich ein Schnäppchen, für ein Dorf in Brandenburg vielleicht ein fairer Preis. Aber Moment mal, wie groß ist die Wohnung eigentlich und in welchem Zustand? Du erkennst das Problem der sogenannten Multiplikatoren, bei Immobilen ist das zum Beispiel der Preis pro Quadratmeter. Solche Preise lassen sich gut vergleichen, aber ohne Zusatzinformationen bringen solche Vergleiche nichts. So funktioniert es auch an der Börse. Bei Aktien schauen Anfänger und Profis gerne auf eine Kennzahl: das Kurs-Gewinn-Verhältnis. Das KGV setzt den Kurs einer Aktie ins Verhältnis zum Gewinn einer Aktie. Heraus kommt ein Multiplikator. Je niedriger er ausfällt, umso günstiger ist eine Aktie bewertet. Es gibt eine magische Grenze: Unter einem KGV von zehn gilt eine Aktie als klarer Kauf. Aber so einfach funktioniert die Welt leider nicht. Denn das KGV hat seine Tücken, Äpfel mit Birnen solltest du auch an der Börse nicht vergleichen .
Fangen wir mal mit der Branche an: Wenn du zwei deutsche Autobauer vergleichst, dann ergibt es Sinn, das KGV heranzuziehen. Wenn du allerdings einen Vergleich ziehst zu einem amerikanischen Biotech-Konzern, wird es schon abenteuerlich. Du solltest auch auf die Größe und das Stadium der Entwicklung achten. Wer einen Industriekonzern wie Siemens mit einem Tech-Unternehmen wie Pinterest vergleicht, der vergleicht auch den Preis einer Loft-Wohnung in London mit einem Studentenappartement in Chemnitz. Gerade bei jungen Unternehmen, die wachsen wollen, schreckt ein hohes KGV erst mal ab. Demnach hättest du Amazon oder Netflix in den letzten Jahren niemals kaufen dürfen. Aber bei solchen Investments kann der Blick aufs KGV tödlich sein, trotz der vermeintlich unattraktiven Bewertung hätten die beiden Konzerne außergewöhnliche Renditen gebracht, weil sie stark gewachsen sind. Bei solchen Growth-Aktien spielt die Bewertung, also der Preis, in einer Phase starken Wachstums eine untergeordnete Rolle. Andersherum kann aber auch ein niedriges KGV viel Geld kosten. Denn es heißt nicht automatisch, dass eine Aktie billig ist, die Aktie kann auch einfach sehr schlecht sein. Ein KGV fällt ja nicht nur, wenn der Gewinn steigt, sondern auch wenn der Kurs einer Aktie sinkt. Das heißt: Im besten Fall steigerte eine Aktie mit einem niedrigen KGV permanent ihre Gewinne und drückt damit ihr KGV, im schlechtesten Fall ist eine Aktie nur günstig, weil der Kurs katastrophal eingebrochen ist. Das nennt sich Value-Falle. Ein ähnliches Problem zeigt sich bei der Dividendenrendite. Dabei setzt man die Dividende ins Verhältnis zum Aktienkurs. Besonders Anleger schauen gerne darauf und lassen sich von einer hohen Rendite verführen. Wo lauert die Falle? Die Dividendenrendite bezieht sich in der Regel auf die zuletzt gezahlten Dividenden. Und wenn die Rendite sehr hoch ausfällt, kann das wiederum an einem Kurseinbruch liegen. Das Ende vom Lied: Das Unternehmen verdient immer schlechter und zahlt im kommenden Jahr gar keine Dividende mehr. Die Dividendenrendite ist dann nur noch Theorie.
Mit Worten lässt sich lügen, aber noch viel gefährlicher sind Zahlen. Der folgende (Benjamin Disraeli zugeordnete, aber wahrscheinlich von jemand anderem stammende) Ausspruch bringt es auf den Punkt: »Es gibt drei Arten von Lügen: Lügen, verdammte Lügen und Statistiken.« 191 An der Börse werden Investoren jeden Tag mit Zahlen bombardiert. Unternehmen verstehen es, selbst in der katastrophalsten Situation noch eine positive Kennzahl aufzutreiben. Dann wird beispielsweise angeführt, dass das EBIT gestiegen ist, EBIT steht für earnings before interest and taxes, also der Gewinn vor Zinsen und Steuern. Viel wichtiger ist allerdings der Gewinn nach Steuern, also der Jahresüberschuss oder auch Nettogewinn. Aber selbst wenn dieser Gewinn überzeugt, wirft er die nächsten Fragen auf: Wie viel schüttet das Unternehmen davon an die Aktionäre aus? Wenn zu viel ausgeschüttet wird, dann bleibt zu wenig im Unternehmen und damit zu wenig Geld für neue Investitionen. Wie viel wird denn überhaupt ausgegeben für Forschung und Entwicklung? Und kommt auch das Marketing nicht zu kurz? Eine Zahl alleine sagt nichts aus, vor allem weil diese Zahlen auch noch oft frisiert werden. Vornehm ausgedrückt nennt sich das kreative Buchführung oder Bilanzkosmetik, aber die Grenze zum Betrug fällt schmal aus. Als Sinnbild dafür gilt heute noch der Fall Enron. Der Konzern war eigentlich pleite, aber an der Börse wurde Enron gefeiert wegen der hervorragenden Zahlen. Enron machte dank Offshore-Firmen praktisch Geschäfte mit sich selbst, und Termingeschäfte wurden von Anfang an als Erträge verbucht, obwohl der Verkauf von Waren nur für die Zukunft vereinbart wurde. 192
Wir haben in den vorherigen Kapiteln bereits gelernt, wie sich mit einer relativen Betrachtung aus einem riskanten Fonds auf einmal ein sicherer machen lässt. Es ist alles eine Sache der Vergleichsbasis. Treiben wir das Beispiel mit der Scheinsicherheit auf die Spitze: Würdest du lieber eine Aktie mit einer extrem hohen oder einer extrem niedrigen Vola kaufen? Unsere Intuition sagt: Nimm die niedrige Vola. Und wir wissen seit dem letzten Kapitel, dass niedrige Vola auf Qualität schließen lässt. Aber alleine auf die Vola zu achten, kann auch tödlich sein. Hier kommt die Auflösung: Stell dir eine Aktie vor, die sich jeden Monat konstant entwickelt, und zwar nach unten. Wenn sie also jeden Monat um exakt 1 Prozent fällt, dann bist du irgendwann mit einer Wahrscheinlichkeit von 100 Prozent pleite, du hattest dabei aber keine Schwankung und demnach kein Risiko. Diese Absurdität zeigt die Gefahr von Zahlen.
Auch bei Rückrechnungen und Vergleichen zur Benchmark musst du aufpassen. Hast du schon mal die Charts zweier Fonds bei deiner Direktbank miteinander verglichen? Nimm einmal einen Zeitraum von fünf Jahren, von sieben und von zehn Jahren, und du bekommst wahrscheinlich drei verschiedene Ergebnisse. Aber wer ist jetzt besser? Du solltest dir nicht so viele Gedanken darüber machen. Die meisten Charts werden hingebogen, damit sie zum Storytelling passen. Denk lieber über die Intensitivity to sample size nach, also die Nichtbeachtung der Stichprobengröße. Hier handelt es sich um die Tendenz, aus kleinen Datenmengen weitreichende Schlussfolgerungen abzuleiten. Für eine Ableitung, auf die du dich verlassen kannst, bräuchtest du jedoch viel größere Datenmengen. Nehmen wir dazu folgendes Beispiel: Der Börsenbrief »Sophisticated Stocks« brüstet sich damit, in die besten US-Aktien zu investieren und den Dow Jones in acht der letzten zehn Kalenderjahre wie auch über die gesamten zehn Jahre geschlagen zu haben, um durchschnittlich 2,5 Prozentpunkte jährlich. Leider lässt sich mit diesem Alpha, also einer Überrendite, noch lange nicht beweisen, dass die Macher des Börsenbriefs nicht einfach nur Glück hatten, ihnen also der Zufall half wie bei den Affen-Fondsmanagern. Wer Statistik seriös betreibt, bräuchte wegen der typischen Unstetigkeit (Schwankung) der jährlichen Überrenditen eine Datenserie von mindestens 40 Jahren, um mit hinreichender Sicherheit den Faktor Zufall ausschließen zu können.
Zahlen können dich auch dann noch um den Verstand bringen, wenn du eine Aktie gekauft hast. Denn dann lauern die Tücken, dass wir die Aktie für unser persönliches Eigentum halten und eine gemeinsame Story erfinden. Aber die Aktie und den Markt wird es kaum interessieren, was du denkst. Stell dir vor, du kaufst eine Aktie bei 10 Euro und sie steigt danach auf 100 Euro. Die meisten würden verkaufen, weil sie persönlich den großen Reibach gemacht haben. Wenn das Potenzial der Aktie ausgereift sein sollte, wäre das richtig. Aber warum solltest du verkaufen, wenn das Unternehmen weiter bombastisch wächst? Die Börse wird es kaum interessieren, dass du bei 10 Euro eingestiegen bist. Du darfst also nie durch deine eigene Brille schauen, wenn du eine Aktie beurteilst, sondern schau lieber auf die Fakten und wie sie insgesamt ein stimmiges Bild ergeben.
Wenn du wissen willst, was du an der Börse verdient hast, dann musst du allerdings doch mal für wenige Minuten in die Ich-Perspektive wechseln: Wir landen wieder bei der Dividendenrendite. Welche in der Zeitung steht, interessiert für dein Depot nicht. Denn es kommt ja darauf an, zu welchem Preis du eine Aktie gekauft hast und was sie heute ausschüttet. Ein Beispiel dazu: Nehmen wir an, du kaufst eine Aktie bei 20 Euro, der aktuelle Kurs beträgt 43 Euro und die aktuelle Dividende der Aktie 2 Euro. Dann liest du in der Zeitung von einer Dividendenrendite von 4,7 Prozent (2 Euro/43 Euro*100 Prozent). Deine persönliche Rendite beträgt allerdings 10 Prozent, weil du mit deinem persönlichen Einstandskurs rechnest (2 Euro/20 Euro*100 Prozent)!
Bei Verlusten lassen wir uns gerne vom rationalen Denken abbringen. Der erste Verlust tut weh, aber wir gewöhnen uns daran, und irgendwann schreiben wir eine Aktie ab und ignorieren sie. Mir ist das auch schon passiert, dass ich eine hochspekulative Aktie mit einem sehr geringen Betrag gekauft hatte und sie dann solange ignorierte, bis sie quasi wertlos war. Solche Fehler tun schon weh, aber pass auf, dass du nicht auch noch der Sunk Cost Fallacy zum Opfer fällst. Wer verliert, wirft nämlich dem schlechten Geld oft noch gutes hinterher. 193 Nur aus dem Gefühl heraus, dass man ja schon investiert habe und das jetzt nicht einfach laufen lassen könne. Stell es dir vor wie bei einer schlechten Beziehung: Manche Leute hassen ihren Partner, aber sie bleiben zusammen, weil sie ja schon zehn Jahre in die Beziehung investiert haben und diese Zeit soll nicht umsonst gewesen sein. Genauso machen es viele beim Geld.
Dazu erzähle ich dir eine Geschichte: Stell dir einen Erfinder vor. Er arbeitet gerade am ersten autonomen Flugtaxi für die Innenstadt, und der Markt wirkt sehr vielversprechend. Die Kunden können es kaum erwarten, und es winkt der finanzielle Durchbruch. Den hat der Erfinder auch dringend nötig, denn er hat bereits 9 Millionen in sein fliegendes Taxi investiert! Und dann kommt der Schock: Er erfährt vom Urheber eines anderen Flugtaxis, und dieses Modell ist leistungsfähiger, günstiger und leiser! Mit einem Schlag sieht die geniale Idee nach einer Katastrophe aus, und der Erfinder hat nur noch 1 Million an Budget übrig. Soll er diese auch noch in das Projekt investieren? Was würdest du ihm raten? Die meisten Menschen tendieren in dieser Situation dazu, diese Million noch zu investieren, denn schließlich wurden ja schon 9 Millionen versenkt. Aber jetzt stell dir das ganze Szenario mal anders vor: Du bekommst als Berater dasselbe Szenario vorgesetzt: auf der einen Seite der Erfinder mit seinem autonomen Flugtaxi und auf der anderen Seite der neue Urheber mit seiner überlegenen Variante und den viel besseren Erfolgschancen. Und jetzt die Frage: Würdest du dem Erfinder raten, dass er 10 Millionen in das Projekt investieren sollte? Wahrscheinlich würde bei diesen Voraussetzungen niemand 10 Millionen in das Projekt stecken, aber du siehst, wie schnell wir 1 Million riskieren bei demselben Szenario, nur weil bereits Geld zuvor versenkt worden ist. Aus rationaler Sicht ist das nicht zu erklären. Aber Zahlen können eben tödlich sein.
Learnings