DENK NEGATIV UND NIMM DIR ZEIT DAFÜR
E
s fehlen noch 80 Abonnenten bis zur magischen Grenze von 100.000 bei Mission Money! Aber ich habe keine Champagnerflasche im Anschlag, sondern stehe am Samstagmorgen mit meiner Freundin in einer Schlange am Königssee und werde uns gleich ein Ticket kaufen für die große Bootsfahrt nach Salet. Trotzdem aktualisiere ich alle zehn Sekunden meine YouTube-Studio-App. Jedes Mal zeigt der Zähler mehr Abos an, und ich kann es nicht mehr erwarten. So schnell sollte es eigentlich nicht gehen, ich hätte es lieber Sonntagabend auf der Couch erlebt, aber der Algorithmus liebt uns in diesem Moment und flutet unseren Kanal mit neuen Abonnenten. Eigentlich ein tolles Gefühl, aber es gibt ein Problem: Zehn Minuten später sitzen wir auf dem Boot, und ich habe kein Netz mehr. Wir fahren durch einen der schönsten Naturparks Europas, Berge und Wälder ziehen an uns vorbei, aber ich starre auf mein iPhone und ärgere mich darüber, dass sich die App nicht aktualisiert.
Als wir nach einer Stunde angekommen sind am Obersee, habe ich mich daran gewöhnt, mein iPhone in der Hosentasche zu lassen. Endlich konzentriere ich mich auf die Landschaft: Der Hochkönig erhebt sich vor uns und spiegelt sich im Wasser. Und genau in diesen Minuten kommt mir die Idee für das letzte Kapitel dieses Buches, zumindest für einen Teil davon. Mir wird in diesen Minuten klar, dass Kreativität Raum braucht, mein Hirn braucht frische Luft. Das digitale Gift der Dauer-Verfügbarkeit muss raus aus den Adern! Deswegen habe ich mir mittlerweile bewusste iPhone-Pausen verordnet. Jeden Abend beginnt die Pause um 22 Uhr und endet in der Früh um 7 Uhr.
Das lässt sich einfach in den Einstellungen des iPhones definieren, und ich habe dann keinen Zugriff mehr auf meine Apps. Im Büro stelle ich mir die Pausen je nach Bedarf ein. Ich verrate dir noch ein Geheimnis: Die meisten Leute in meiner WhatsApp-Liste habe ich stumm geschaltet, ich kriege es also meistens nicht mal mit, wenn sie mir schreiben. Mag fies klingen, aber so bestimme ich selber, wer mich stören darf und wer nicht. Wenn es dringend sein sollte, dann kann man mich ja anrufen. Warum mache ich das?
Das Smartphone symbolisiert für mich die Informationsflut, der wir jeden Tag ausgesetzt sind, und gerade für unser Geld können zu viele Nachrichten Gift sein. Denn sie verstärken den Recency Bias
. Wer jeden Tag Zeitungen liest und die Tagesschau verfolgt, wird das Gefühl haben, dass ständig die Welt untergeht. Denn schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten, zumindest für die Produzenten. Das kann dich zum einen ganz vom Investieren abhalten, aber es kann dich auch dazu bringen Entscheidungen nur aufgrund der Aktualität zu fällen, und das kann sehr gefährlich sein. Besonders anfällig wirst du dann für Hypes. Welche Aktien wären wohl im Oktober 2019 en vogue gewesen? Greta Thunberg dominierte die Schlagzeilen in diesen Tagen, Bewegungen wie Fridays for Future
und Extinction Rebellion
kämpften für radikalen Klimaschutz. Und die Grünen triumphierten in den Umfragen. Dementsprechend standen Aktien wie Beyond Meat hoch im Kurs, auch das Thema Nachhaltigkeit dominierte: von Plastik-Vermeidern, E-Auto-Pionieren, Wasser-Aufbereitern bis hin zu Wasserstoff-Experten. Jeder wird unterbewusst von solchen Entwicklungen beeinflusst. Zusätzlich droht der Availibility Bias
: Was wir gerade im Angebot haben, das kaufen wir eher. Vor fünf Jahren wären es 3-D-Druck-Aktien gewesen, vor drei Jahren hättest du Snapchat kaufen müssen und natürlich Cannabis-Aktien. Dann kam der Hype um die Cloud, letztes Jahr war alles rund um künstliche Intelligenz und Blockchain in, und heute wäre es alles, was grün schimmert.
Deswegen müssen wir uns Zeit nehmen, um nachzudenken. Bill Gates nimmt sich jedes Jahr Zeit für eine
Think Week
. Seit er Microsoft gegründet hat, gönnt sich Gates zweimal pro Jahr eine Woche Zeit fürs
Denken. Er zieht sich völlig zurück von sozialen Kontakten und verschanzt sich sieben Tage im Wald mit Büchern, Magazinen und Unternehmensberichten.
225
Wer langfristig anlegt, sollte sich überlegen, wem er sein Geld anvertraut, und nicht auf Hypes und Schlagzeilen hereinfallen. Was würde Sherlock tun? Er würde antizyklisch handeln!
Ich habe dir in einem der vorigen Kapitel erzählt, dass sich die Mobilität stark verändern könnte, dass die Autobauer sogar die Kontrolle über die Mobilität verlieren könnten. Natürlich ist das möglich, und die großen Tech-Player brechen immer mehr Geschäftsmodelle auf, aber lass uns mal einen Schritt weiterdenken: Stellen wir uns vor, es würden überall autonome Flotten spazieren fahren und das auch noch günstig oder gar kostenlos. Dann würde wahrscheinlich niemand mehr U-Bahn oder Bus fahren. Jeder würde sich sein Smartphone schnappen und sich sein Wunsch-Fahrzeug kommen lassen. Auf einmal scheinen die Straßen, die wir heute kennen, sehr klein zu sein. Der Verkehr würde zwar flüssiger laufen, weil autonome Fahrzeuge sich aufeinander abstimmen und der menschliche Makel ausgeschlossen wird. Aber die Masse der Fahrzeuge könnte schnell Überhand nehmen, und wenn dann noch die rollenden Fitness-Studios, Hotels und Restaurants kämen, würde es noch enger auf den Straßen. Gefühlt bräuchten wir acht Spuren statt zwei. Wie es kommt, weiß niemand, aber es lohnt sich ein genauer Blick und die Einschätzung mehrerer Experten, um sich eine Meinung zu bilden. Triff keine Entscheidungen aufgrund von Schlagzeilen. Lies lieber Bücher, versuche die Welt zu verstehen und dich zu bilden. Schau dir Experten auf YouTube an, die in die Tiefe gehen. Qualität geht fast immer vor Quantität. Das gilt auch beim Denken und deinen Entscheidungen. Nimm dir lieber einmal pro Jahr ausführlich Zeit für dein Depot. Analysiere deine Aktien und überprüfe deine Positionsgrößen. Aber bitte schau nicht jeden Tag dreimal in dein Depot und schieb deine Papiere hin und her. Dann würdest du die Denkweise eines schlechten Managers übernehmen: Es zählt nur das kommende Quartal! Aber das greift zu kurz. Selbst das beste Unternehmen der Welt wird mal ein schwaches Quartal abliefern. Denk an die Regression zur Mitte. Wenn es dann mal hart auf hart kommt,
dann gieren die Investoren nach einer Erklärung. Aber überleg mal, was die Einschätzungen bringen, die du in der Tagesschau bekommst. Nach Rückschlägen wird gerne nacherzählt und darüber gesprochen, was eh schon passiert ist. Wir landen wieder bei Kostolany und dem fait accompli
. Konsumiere lieber Medien, die in die Tiefe gehen und die Faktenlage weiterdrehen, die an die Zukunft denken und dir einen anderen Blick ermöglichen. Denn die Vergangenheit interessiert nicht, es zählt nur der langfristige Ausblick. Mit der Zukunft wird Geld verdient.
Wir leben in einer Welt der Algorithmen. Auf Netflix wird uns angezeigt, was beliebt ist, und auf sämtlichen Internetseiten wird nach Trends geordnet. Was fällt den Menschen auf und erzeugt die meisten Reaktionen. Das News-Problem macht auch Anfängern zu schaffen. Wenn über die Börse berichtet wird, dann meist, weil sie sehr hochsteht oder weil sie gerade kollabiert ist. Das verunsichert. Vielleicht bist du dir auch noch nicht sicher, ob du den Weg an die Börse gehst, obwohl du jetzt weißt, wie Diversifikation und Stopp-Kurse funktionieren. Aber das macht nichts! Denn Furcht kann ein guter Begleiter sein. »Die Hausse wird in der Baisse geboren, sie wächst in der Skepsis, altert im Optimismus und stirbt in der Euphorie«, lautet eine Börsenweisheit. Nun sollen wir alle positiv denken und uns viel zutrauen, aber wir haben schon viel über das Genie-Problem und den Overconfidence Bias gesprochen. Tatsächlich kann deine Furcht dir sogar helfen. Denk negativ. Schreib dir das Schlimmste auf, das passieren könnte. Wenn du in Aktien investierst, was könnte dir passieren? Du weißt, dass du nur Geld investierst, das du nicht für den Alltag brauchst. Du weißt, dass du nicht alles auf eine Karte setzen sollst und kaufst mehrere Aktien aus verschiedenen Branchen. Eine Aktie macht niemals mehr als 10 Prozent deines investierten Kapitals aus. Du weißt, dass du auch andere Anlageklassen wie Gold und Immobilien brauchst. Und du hast sowieso einige Monatsgehälter auf der hohen Kante, denn wer sein Konto überzieht, hat ja sowieso die Kontrolle über sein Leben verloren. Selbst wenn am Ende eine Aktie kollabieren sollte, gehst du nicht pleite. Und wenn der Crash kommt? Dann hast du genug Zeit
mitgebracht und könntest mit deinen Reserven sogar noch die abgestürzten Aktien billig einsammeln. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Schrecken ihre Macht verlieren, wenn wir sie durchdenken. Die Psychologin Julie Norem untersuchte, wie sich defensive Pessimisten im Leben schlagen. Sie rechnen immer mit dem Schlimmsten und malen sich aus, was alles schiefgehen könnte.
226
Das Gegenteil sind die strategischen Optimisten: Sie gehen davon aus, dass alles glatt läuft. Aber wer schneidet besser ab? Norems Fazit: Die defensiven Pessimisten performen teilweise sogar besser als die Optimisten. Also umarme deine Furcht und mache sie zu deinem mächtigsten Verbündeten. Denn sie kann dein persönlicher Sherlock sein. Denk negativ! Und nimm dir vor allem genug Zeit dafür.
Inspiration
Hier kommen 23 Bücher für deine persönliche Think Week
, die mich sehr inspiriert haben und dir einen anderen Blick auf die Welt ermöglichen.
André Kostolany: Die Kunst über Geld nachzudenken
. Berlin (Ullstein) 2015.
Jeremy Siegel: Aktien für die Ewigkeit. Das Standardwerk für die richtige Portfoliostrategie und eine kontinuierliche Rendite
. München (FBV) 2016.
Ayn Rand: Der Streik
. München (Kai M. John) 2012.
Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten
. Frankfurt a. M./Leipzig (Insel) 1999.
Jordan B. Peterson: 12 Rules for Life. Ordnung und Struktur in einer chaotischen Welt
. München (Goldmann) 2019.
Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken
. München (Penguin) 2011.
Hans Rosling: Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist
. Berlin (Ullstein) 2018
.
Ray Dalio: Die Prinzipien des Erfolgs
. München (FBV) 2019.
Ray Dalio: Principles.
New York (Simon & Schuster) 2017.
Daniel Gilbert: Stumbling on Happiness
. New York (Vintage) 2007.
Stephen Hawking: Kurze Antworten auf große Fragen
. Stuttgart (Klett-Cotta) 2018.
Paul Auster: Leviathan
. Hamburg (Rowolth) 2015.
Steven Kotler/Jamie Wheal: Stealing Fire
. Kulmbach (Plassen) 2018.
David Eagleman: Kreativität. Wie unser Denken die Welt immer wieder neu erschafft
. München (Siedler) 2018.
Dan Ariely: Denken hilft zwar, aber nützt nichts. Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen
. München (Droemer) 2015.
Franz Kafka: Der Prozess
. Köln (Anaconda) 2006.
Samuel Beckett: Warten auf Godot
. Berlin (Suhrkamp) 2011.
David Lynch: Catching the Big Fish. Meditation, Consciousness and Creativity
. New York (Penguin Group) 2006.
Stefan Zweig: Die Schachnovelle
. Hamburg (Fabula) 2016.
Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker
. Zürich (Diogenes) 1998.
Hermann Hesse: Siddharta
. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1974.
Gerd Gigerenzer: Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft.
München (btb) 2014.
Haruki Murakami: Wilde Schafsjagd
. München (btb) 2006.
Haruki Murakami: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
. München (btb) 2010.