Die Belton Polizeistation erinnerte sie zu sehr an die Station, an der sie so viel Zeit während ihrer Zeit als Kriminalbeamtin und Detektivin im südlichen Nebraska verbracht hatte, ehe das Büro sie gerufen hatte. Es war kleiner, aber schien dieselbe Art von erstickendem Gefühl zu haben. Es war wortwörtlich wie ein großer Schritt in ihre Vergangenheit.
Nachdem sie von einer Frau am Empfangsschalter durch den Hauptbereich geführt wurde, ging Mackenzie in einen kleinen Raum im Hinteren des Gebäudes. Ein Schild an der Seite der Tür las ARCHIV. Es war fast erschreckend, wie läppisch der Prozess war. Sie hatte der Frau an der Vordertheke ihr Abzeichen gezeigt, sie hatte einen Anruf gemacht, Klarheit bekommen und sie dann durchgewunken.
Und das war’s. Auf ihrem Weg zum Archiv, begegneten ihr zwei Beamte auf dem Flur, nickten ihr zu und schauten sie merkwürdig an, aber das war es auch schon. Niemand hielt sie auf und niemand fragte, was sie hier wollte. Und um ehrlich zu sein, war das in Ordnung für sie. Je weniger Ablenkungen, umso schneller konnte sie hier wieder raus.
Das Archiv bestand aus einem kleinen Eichentisch in der Nähe des Raumes, der von zwei Stühlen eingerahmt war. Der Rest des Raumes bestand aus Aktenschränken an der Wand, von denen einige alt und zerrüttet aussahen, andere eher neuer. Sie war überrascht, wie gut die Akten dort organisiert waren. Die älteren Schränke bewahrten Akten bis zum Jahr 1951 auf. Aus Neugier und ihrer Bewunderung für gut erhaltene Aufzeichnungen und Akten zog sie einen der Schränke auf und schaute hinein. Gut erhaltene Seiten, Akten und andere Materialien waren ordentlich hinein gelegt, dennoch war es klar vom Geruch des alten Papiers und dem Aufwirbeln von Staub, dass sie lange nicht mehr angesehen worden waren.
Sie machte den Schrank zu und schaute dann die Aufschriften auf der Vorderseite der anderen Schränke an, bis sie gefunden hatte, was sie brauchte. Sie zog den Schrank auf und begann durch die Akten zu suchen. Das Gute daran ein Polizist in so einer kleinen Stadt zu sein, war, dass es normalerweise nicht viele Fälle gab, die es wert waren, archiviert zu werden. Als sie sich den Fall ihres Vaters näher angeschaut hatte, hatte sie entdeckt, dass es in dem Jahr, in dem er gestorben war, nur zwei Selbstmorde in ganz Belton gegeben hatte.
Daher war es ziemlich einfach für sie, die Akte ihres Vaters zu finden. Sie zog sie heraus und runzelte die Stirn, als sie sah, wie dünn die Akte war. Sie schaute sogar zurück in den Schrank, um zu sehen, ob es noch eine weitere Akte gab, die sie vielleicht übersehen hatte, aber da war nichts.
Mit der einzelnen dünnen Akte setzte Mackenzie sich an den kleinen Tisch in die Mitte des Raumes und begann durch die Akten zu sehen. Es gab mehrere Fotos des Tatorts, die sie alle gesehen hatte. Sie las auch die Notizen in dem Fall. Sie kannte diese ebenfalls. Sie hatte sogar Fotokopien in ihrer eigenen Sammlung von Aufzeichnungen über diesen Fall. Aber die Originaldokumente zu sehen – sie in der Hand zu halten – machte das ganze irgendwie noch realer.
Es gab ein paar Dokumente in der Akte, von denen sie keine eigenen Kopien hatte. Darunter war eine Kopie des Berichts des Gerichtsmediziners, vollständig mit Jack Waggoners Namen unterzeichnet. Sie schaute ihn an und fand Arbeit und Notizen zufriedenstellend und blätterte auf die nächste Seite. Sie war sich nicht sicher, nach was sie suchte, aber es gab nichts zu sehen. Aber als sie zum Ende der Akte kam, kam sie zur Seite zwei des Abschlussberichts, wo eine Notiz sagte, dass der Fall ungelöst war.
Unten gab es zwei gekritzelte Unterschriften, zusammen mit dem gedruckten Namen jedes Beamten. Einer war Dan Smith. Der andere war Reggie Thompson.
Mackenzie blätterte zurück zum Gerichtsmediziner Bericht, um die Namen der Beamten zu sehen, die ebenfalls unterschrieben hatte. Es gab nur einen Namen: Reggie Thompson. Thompsons Name auf beiden Dokumenten war ein gutes Anzeichen, dass er der Beamte war, der den Fall bearbeitet hatte, sogar im Büro des Gerichtsmediziners.
Sie blätterte durch die Akten, um sicherzugehen, dass sie nichts übersehen hatte. Aber wie sie angenommen hatte, war da nichts. Sie legte die Akte zurück in den Schrank und verließ den Raum. Als sie zurück in den Flur kam, nahm sie sich Zeit. Sie schaute sich die Plakate an den Wänden an jeder Tür an. Die meisten Türen waren offen, ohne das jemand darin saß. Erst als sie zum Ende des Flurs kam, fast schon in dem kleinen Großraumbereich und dem Empfangstisch, fand sie ein besetztes Büro.
Sie klopfte an die halb geöffnete Tür und erhielt ein fröhliches “Kommen Sie rein”, als Antwort.
Mackenzie trat in das Büro und wurde von einer rundlichen Frau begrüßt, die hinter einem Tisch saß. Sie tippte etwas in ihren Computer und hörte auch nicht auf, als sie Mackenzie anschaute.
“Kann ich Ihnen helfen?”, fragte die Dame.
“Ich suche den Beamten Reggie Thompson”, sagte Mackenzie.
Das schien die Aufmerksamkeit der Frau zu erreichen. Sie hörte auf zu tippen und schaute Mackenzie stirnrunzelnd an. Da sie wusste, was kam, hielt Mackenzie der Dame ihr Abzeichen hin und gab ihr ihren Namen.
“Oh, ich verstehe”, sagte die Dame. “In dem Fall, tut es mir leid Ihnen mitzuteilen, dass Beamte Thompson letztes Jahr in den Ruhestand gegangen ist. Er war hier, so lange es ging, aber dann musste er aufhören. Bei ihm wurde Prostatakrebs diagnostiziert. Wie ich gehört habe, hat er den Krebs besiegt, aber die Krankheit hat ihren Tribut gefordert.
“Wissen Sie, ob er Besuch empfängt? Ich hatte gehofft, ihm ein paar Fragen über einen Fall stellen zu können, an dem er einmal gearbeitet hat.”
“Ich bin mir sicher, dass ihm das gefallen wird. Er ruft hier mindestens einmal die Woche an, um zu sehen, was los ist, …. um zu sehen, welche Art von Fälle er verpasst. Aber wenn ich Sie wäre, würde ich bis morgen warten. So wie ich von seiner Frau gehört habe, überarbeitet er sich morgens und nachmittags, also ist er gegen zwei oder drei nachmittags völlig erledigt.”
“Ich warte dann bis morgen”, sagte Mackenzie. “Vielen Dank für Ihre Hilfe.”
Mackenzie verließ die Polizeistation mit demselben Mangel an Aktivität, weswegen sie hier hergekommen war. Insgesamt hatte sie ungefähr eine halbe Stunde da drin verbracht, und obwohl sie immer noch ein wenig vom Nachmittag zur Verfügung hatte, fühlte sie sich müde. Und da Reggie Thompson es vorzog morgens aktiv zu sein, gab es keine weiteren Ausreden mehr.
Sie verließ die Polizeistation und ging zurück zum Motel. Auf dem Weg dorthin klingelte ihr Handy und sie war froh zu sehen, dass es Ellington war. Obwohl sie nicht wirklich gerade inmitten eines Streits waren, war es immer noch seltsam mit ihm uneins zu sein.
Er tut, was richtig ist, sagte sie sich selbst. Lass den Mann in Ruhe.
Sie beantwortete den Anruf mit einem schnellen: “Hey. Wie gehts?”
“Ich habe mit mindestens ein Dutzend verschiedenen Landstreichern heute gesprochen. Ich habe eine ganz neue Bewunderung dafür, was sie durchmachen, aber ich bin auch zu dem Entschluss gekommen, dass sie nicht die verlässlichsten Quellen sind. Was ist mit dir?”
“Es geht voran”, antwortete sie, obwohl sich das wie eine Lüge anfühlte. “Ich habe mit ein paar Einheimischen gesprochen, die mir ein paar Einblicke in den Fall gegeben haben – Kleinstadt Klatsch um ehrlich zu sein, aber es ist ja immer ein Kern Wahrheit bei dem ganzen Flurfunk dabei. Ich habe mit dem Gerichtsmediziner gesprochen, der Dad’s Leiche untersucht hat, und habe dann bei der Polizeistation vor Ort gehalten, um mir die Akten anzusehen. Ich habe den Namen eines Beamten, der mit dem Fall zu tun zu haben scheint und ich werde morgen mit ihm sprechen.”
“Da hast du auf jeden Fall mehr als ich”, sagte er. “Was meinst du, wie lange wirst du noch da bleiben?”
“Ich weiß es nicht. Es hängt davon ab, was der Morgen bringt – sowohl hier, als auch in Omaha. Wie ist die allgemeine Stimmung dort?”
Ellington zögerte, ehe er antworte. “Wenn ich ehrlich bin, ist sie recht angespannt. Penbrook ist sauer, dass du so selbstlos eine Reise in den Westen gemacht hast. Er war so hilfsbereit, wie er konnte, aber er lässt mich unmissverständlich sehen, dass er nicht glücklich ist.”
“Und du?”
“Genauso wie gestern Abend. Ich wünschte, ich wäre bei dir … oder das du noch hier wärst. Aber sich teilen und getrennt zu ermitteln war die beste Wahl. Ich glaube, sogar Penbrook hat das erkannt. Aber wenn ich ehrlich bin, hier in Omaha ist der allgemeine Konsens, dass du das als eine Reise in die Heimatstadt nutzt, um deine Vergangenheit zu überdenken.”
“Dieser Konsens ist dumm”, sagte sie. “Sie hasste es, dass sich ihre Erwiderung so jugendlich anhörte.
“Du musst verstehen, wie das aussieht”, argumentierte er. “Du warst hier für weniger als einen Tag und bist dann nach Morrill County gerast, ganz alleine. So sehen die es jedenfalls.”
“Das ist doch kein Heimatbesuch. Ich habe nicht die geringste Freude daran.”
“Ich weiß das. Aber Penbrook und seine Kumpanen kennen dich nicht so gut wie ich. Sie glauben, es ist persönlich, aber sie verstehen es nicht.” Er machte eine Pause und fügte dann hinzu. “Verarsch mich nicht Mac, Wie geht’s dir?”
“Ich bin müde und angespannt und um ehrlich zu sein, wünschte ich mir, dass irgendein Brandstifter mein Elternhaus schon vor langer Zeit abgefackelt hätte.”
“Wenn du das Feuer anzündest, werde ich es niemanden sagen.”
“Bring mich nicht in Versuchung. Wir sprechen uns später.”
Sie beendete den Anruf, ließ ein zittriges Seufzen hören und warf ihr Handy auf den Beifahrersitz. Sie fuhr durch Belton und erinnerte sich daran, wie es war ein typischer, ängstlicher Teenager zu sein, wütend auf ihre Mutter, ihre Schwester, die Polizei, weil sie den Mörder ihres Vaters nicht fand – die ganze Welt, wie es schien.
Und obwohl sie seitdem bedeutend erwachsen geworden war, gab es einen Teil in ihr, der verstand, wie ein Ort wie Belton diese Art von Teenager Angst nur noch größer und fester machen konnte. Es gab nur Kirchen, Bars und Gemüseläden. Oh und Bäume, Korn und weite Flächen Land, die kein Ende zu haben schienen.
Mackenzie begann diese Angst wieder zu fühlen, während sie in die Parklücke des Motels fuhr. Und das Traurige war, dass sie es vermisste. Egal, ob es diese Stadt war, so nah an dem Fall ihres Vaters zu sein oder eine Kombination aus beidem, Mackenzie fühlte, wie sie aus keinem bestimmten Grund wütend wurde und sich erlaubte sich, sich darin zu verlieren.
Und das war in Ordnung. Denn angesichts der Geschehnisse fühlte es sich verdammt gut an.
***
Es gab Zeiten, wenn sie sich hinlegte und sie wusste, dass sie einen Albtraum haben würde. Es war fast wie ein Alarm in ihrem Kopf, der ihr diese Tatsache bewusst machte. Sie wusste, sie würde diese Nacht einen haben, aber sie schlief ein, noch ehe sie sich richtig darum Sorgen machen konnte.
Dieser Albtraum begann auf surrealle Art und Weise; es war, als wenn sie einen 3D-Film mit einer körnigen Brille schaute. Sie sah das alles durch die Augen von jemand anderem, wie ein Art-House Standpunkt Film.
Er macht den ersten Schritt auf die kleine Veranda und wie erwartet, ist die Tür unverschlossen. Er zögert, bevor er sie öffnet, nahm die friedliche Nacht um ihn herum auf. Dann legt er seine Hand an den Türknauf und dreht ihn. Es öffnet sich leicht genug und er geht in das Haus von Ben und Patricia White.
Patricia White schläft auf dem Sofa. Eine Weinflasche steht auf dem Boden, zusammen mit einem leeren Weinglas. Der Fernseher läuft, aber die Lautstärke ist so gering eingestellt, dass er kaum das Gespräch des Nachrichtenprogramms hören kann. Er schaut auf die schlafende Frau und denkt über die Dinge nach, die er mit ihr tun kann. Er könnte sie auch töten. Oder tun, wofür er hier hergekommen war und dann zurückkommen und sie vergewaltigen. Das war nicht in seinem Plan, aber es gab immer ein wenig Zeit für ein wenig unvorgesehenen Spaß.
Er geht an dem Sofa vorbei und verlässt das Wohnzimmer. Er geht durch die Küche, ohne sich umzusehen. Die Umrisse des Kühlschranks und des kleinen Küchentisches sehen gespenstisch in dem schwachen Licht aus. Dann geht er auf den Flur. Er öffnet die erste Tür und sieht ein Mädchen von sechs oder sieben. Sehr klein, sehr süß. Stephanie White. Sie schläft mit dem Rücken zu ihm.
Er schaut sich das kleine Mädchen einen Moment an, ehe er weitergeht und die Tür ruhig hinter sich verschließt. Er versucht das nächste Zimmer und sieht ein anderes kleines Mädchen. Dieses hier ist älter … vielleicht zehn oder so. Sie schläft auf ihrem Rücken, ihr Mund ein wenig offen stehend, als ein kleines Schnarchen entweicht. Er schaut sie sich genauso an, wie er das andere Mädchen angeschaut hatte, er nahm sich nur mehr Zeit die Kurven zu bewundern, die schon fast an ihrem Körper erschienen.
Er lässt sie in Ruhe und schließt wieder die Tür hinter ihm. Die nächste Tür im Flur ist das Badezimmer. Es ist unordentlich, ein zerknülltes Handtuch liegt auf dem Boden und die dreckigen Kleider von jemandem, die in den Wäschekorb sollten, es aber nicht hineingeschafft hatten.
Er verlässt das Badezimmer, schaut noch mal den Flur hinunter, um sicherzugehen, dass er weder die Frau noch die Töchter aufgeweckt hat, und betritt dann das Schlafzimmer.
Benjamin White liegt da, genauso wie er sollte. Die andere Seite des Bettes ist leer, seine Frau ist auf dem Sofa eingeschlafen.
Er näherte sich dem Bett und zieht seine Waffe aus der Tasche. Es ist eine Baretta 92, sehr leicht und irgendwie gewöhnlich. Er zielt, als wenn er das schon Tausend Mal vorher gemacht hätte. Die nächsten drei Sekunden sind flüssig und mühelos.
Er platzierte die Waffe nach oben geneigt auf den Hinterkopf von Benjamin Whites und zieht den Auslöser. Der Knall ist nicht gedämpft, aber dennoch überraschend ruhig.
Blut spritzt überall, als Benjamin Whites Körper ein einziges Mal zuckt. Blut an den Wänden, auf dem Bettlaken, auf dem Teppich, auf seinem Shirt, Blut überall und ...
Mackenzie wachte mit einem Keuchen auf.
Sie hatte es dieses Mal durch die Augen des Mörders gesehen. Das war neu. Sie hatte immer vom Zimmer und der bestimmten Szene geträumt, mindestens hundert Mal, aber es noch nie so gesehen. Sie fühlte sich ein wenig kränklich.
Sie schaute auf die Uhr und sah, dass es 4:56 Uhr war. Sie hatte sieben Stunden geschlafen – viel Schlaf, was sie betraf. Sie versuchte nicht noch für eine weitere Stunde oder so zu schlafen und stand auf. Während sie duschte, konzentrierte sie sich auf die Szene aus ihrem Traum, wo der Mörder sie angeschaut hatte. Es war surreal gewesen und sogar jetzt fühlte es sich an, als wenn jemand auf der anderen Seite des Duschvorhangs stand und sie anschaute.
Natürlich war niemand da, als sie aus der Dusche trat. Sie trocknete sich ab und zog sich an. Sie überprüfte ihre Nachrichten auf ihrem Handy, die sie vielleicht verpasst hatte, während sie duschte. Es gab nichts.
Sie schaute sich selbst im Spiegel an und entschied sich, zum selben Diner wie gestern zum Frühstück zu gehen. Danach würde sie Reggie Thompson besuchen, von dem sie durch eine telefonische Anfrage durch Harrison erfahren hatte, das er hier in Belton lebte.
Die Möglichkeit ihre Mutter zu besuchen, war immer noch da. Es ging ihr nicht aus dem Kopf und ratterte dort weiter herum, wie eine leere Aluminiumdose.
Vielleicht später dachte sie. Es war immer ihre innerliche Antwort auf alles gewesen, was mit ihrer Mutter zu tun hatte. Vielleicht später.
Sie verließ das Motelzimmer und trat in den frühen Morgen. Alles war ruhig, alles war still. Und sie merke, dass zu der bekannten Angst, die sie gestern erlebt hatte, noch ein weiteres bekanntes Gefühl aus ihrer Teenagerzeit kam. So schnell wie möglich aus Belton wegzukommen.