Sie hatte die Adresse ihrer Mutter auf einem gefalteten Notizzettel in ihrem Portemonnaie. Sie hatte sie vor zwei Jahren weggelegt, wissend, dass sie irgendwann in ihrem Leben mit der Frau sprechen musste. Sie hatte bereits im Alter von achtzehn Jahren gewusst, dass sich ihre Pfade wieder kreuzen würden. Und basierend auf den wenig merkwürdigen Gesprächen, die sie in den letzten zehn Jahren gehabt hatten, war es offensichtlich, dass jedes Treffen kein schönes werden würde.
Dennoch saß Mackenzie immer noch auf dem Parkplatz des Motels, in dem sie übernachtete und schaute auf den Notizzettel. Boone’s Mill, Nebraska. Sie war aus Morrill County weggezogen und war, nachdem sie aus der Psychiatrie entlassen worden war nicht zurückgekommen. Sie lebte seit 8 Jahren in Boone’s Mill, ein wenig über zwei Stunden von dort, wo Mackenzie sich gerade befand, entfernt. Sie war zwar weggekommen, aber hatte sich auch nicht zu weit hinausgewagt.
Komisch dachte Mackenzie. Wenn ich vor einer Vergangenheit wie ihrer weglaufen würde, würde ich so weit weg wie möglich gehen.
Aber Tatsache war, dass sie keine Ahnung hatte, was ihre Mutter heutzutage so machte.
Arbeitete sie? Lebte sie von der Sozialhilfe, saß zu Hause und trank den ganzen Tag vor dem Fernseher? Oder war sie tot? Mackenzie hatte fast ein Jahr nicht mehr mit ihr gesprochen und das letzte Gespräch hatte nur drei Minuten gedauert.
Es gibt nur einen Weg das herauszufinden, dachte sie und tippte die Adresse langsam in ihre GPS-App. Und versuche gar nicht erst so zu tun, als wenn du nicht fahren würdest. Es ist der nächste logische Schritt in dem Vorgang.
Mackenzie drückte ENTER, als die Adresse eingegeben war.
“Mist”, sagte sie.
Sie holte tief Luft, fuhr aus der Parklücke und nach Norden in Richtung ihrer Mutter.
***
Sie kam um 11:20 Uhr an der Adresse in Boone’s Mill an. Nachdem sie an die Vordertür geklopft hatte, fand sie die Wohnung leer vor. Sie ging wieder zurück zum Auto und rief Harrison an. Sie musste endlich eine Art aktive Annäherung machen, um mehr über ihre Mutter und ihr Leben nach der Psychiatrie zu erfahren.
“Hallo?”, antwortete Harrison.
“Hey Harrison. Hier ist Mackenzie. Ich brauche ein paar Informationen, wenn es dir nichts ausmacht, ich möchte nicht, dass du eine große Sache daraus machst. Erzähle es nur denen, den du es sagen musst.”
“Kann ich machen. Was brauchst du?”
“Ich brauche die Handynummer und den aktuellen Angestelltenstatus von einer Patricia White in Boone’s Mill, Nebraska.”
“Einfach. Das dauert vielleicht fünfzehn oder zwanzig Minuten.”
“Ich habe Zeit. Danke, Harrison.”
Sie beendete den Anruf und setzte sich ins Auto und schaute auf den heruntergewirtschafteten Apartmentkomplex, in dem ihre Mutter im Moment lebte. Während ihrer Arbeit hatte sie schon Schlimmeres gesehen, aber etwas daran, dass ihre Mutter in einem heruntergekommenen Wohnkomplex lebte, in einer kleinen Stadt, wo die Läden wöchentlich pleite gingen, war deprimierend.
Patricia White war die Art von Frau gewesen, die immer nach einem besseren Leben gestrebt hatte, aber erwartet hatte, dass es ihr jemand auf dem Silbertablett servierte. Und als sie erkannt hatte, dass ihr das niemand so bringen würde, war sie oft deprimiert gewesen und eine grüblerische Frau geworden. Mackenzie hatte keine besonderen Erinnerungen an die Zeit, die sie mit ihrer Mutter verbracht hatte, aber sie hatte viel Erinnerungen an ihre Mutter, wie sie zu viel getrunken hatte und laut und aggressiv im Haus wurde.
Ein großer Teil von Mackenzie war froh, dass ihre Mutter in einer Psychiatrie gelandet war. Vielleicht hatte sie dort Hilfe bekommen. Vielleicht war sie eine bessere Person geworden. Vielleicht versteckte die Person, mit der Mackenzie am Handy gesprochen hatte, die immer noch die alte Patricia White schien, ein paar neue entwickelte Qualitäten.
Wohl eher nicht dachte Mackenzie mit ein wenig Bitterkeit.
Während sie aus dem Fenster auf dem Parkplatz auf den Wohnkomplex schaute, klingelte ihr Handy und erschreckte sie. Sie schaute auf ihre Uhr und sah, dass sie irgendwie für siebzehn Minuten in Gedanken verloren war.
“Hey Harrison”, sagte sie und beantwortete den Anruf.
“Ich werde dir die Nummer schicken, damit du sie auf deinem Handy speichern kannst. Ihre aktuelle Arbeitssituation sieht so aus, als wenn sie als Putzfrau im Holiday Inn in Boone’s Mill arbeitet. Eine kleine Randnotiz - sie wurde vor vier Monaten wegen öffentlichem Ärgernis verhaftet.”
Hört sich nach ihr an, dachte Mackenzie.
“Bist du okay?”, fragte Harrison.
Sie bemerkte, dass sie ein wenig zu lange ruhig gewesen war und antwortete: “Ja. Danke, Harrison.”
Sie beendete den Anruf und rief die Adresse des Holiday Inn auf – das einzige Motel in Boone’s Mill. Sie folgte der Adresse und war immer noch unentschlossen, ob es ihr gefiel, dass ihre Mutter arbeitete oder nicht. Wenn sie nicht arbeitete, würde sie die Nummer versuchen, die Harrison ihr geschickt hatte. Und wenn sie den Anruf nicht beantwortete, dann wäre es das. Mackenzie konnte dann sagen, dass sie sich Mühe gegeben hatte und weiter machen.
Nur, sie machte keine halben Sachen. Wenn sie musste, würde sie sich im Holiday Inn einbuchen, um sicher zugehen, dass sie ihrer Mutter begegnen würde.
Das Hotel kam kaum zehn Minuten später, nachdem sie durch die kleine traurige Stadt und zwei von seinen Ampeln gefahren war, in Sicht. Es sah kaum einladender als der Wohnkomplex aus und es gab nicht viele Autos auf dem Parkplatz. Mackenzie parkte, ging durch die alten Schiebeglastüren hinein und zum Empfang.
Eine fröhliche Frau, die voll mit Make-up war, um sich zehn Jahre jünger zu machen, als sie tatsächlich war, grüßte sie mit einem Lächeln. “Willkommen! Wie kann ich Ihnen helfen?”
“Arbeitet Patricia White heute?”
“Das tut sie. Zu dieser Tageszeit macht sie die Zimmer sauber. Soll ich sie für Sie rufen?”
“Bitte”, sagte Mackenzie. Sie nahm ihr Abzeichen heraus und schob es fast unmerklich über die Theke. “Es ist eine private Angelegenheit. Gibt es vielleicht ein Zimmer, in dem ich warten und wo sie und ich ungestört sprechen könnten?”
Das Gesicht der Frau war voll von Fragen, als sie nickte. “Natürlich. Kommen Sie hier herum und Sie können den kleinen Pausenraum nutzen, den wir haben. Wäre das ausreichend?”
“Das wäre super.”
Die Frau führte Mackenzie einen kleinen Flur herunter, direkt rechts vom Empfang. Der Pausenraum lag zwischen dem Versorgungsschrank und der Mitarbeiter Toilette. Es war nicht der intimste Ort, um ihre Mutter nach über zwölf Jahren wiederzusehen, aber das wäre okay. Außerdem … keine Menge an Komfort oder gedämpftes Licht würde das Treffen noch schön machen.
Die Frau vom Empfang ging wieder ins Hotel, um Patricia White zu finden. Mackenzie hasste es, dass sie so verdammt nervös wurde. Wie konnte der Gedanke, an ein Gespräch mit ihrer Mutter ihr immer noch schwitze Hände und Zittern verursachen? Das erinnerte sie zu lebendig an ihre Kindheit.
Sie saß an einem kleinen eckigen Tisch mit fünf Plastikstühlen. Sie klopfte nervös mit den Fingern auf den Tisch. Sie erspähte eine Kaffeemaschine auf der Theke einer kleinen Küchennische und bekämpfte den Drang, sich einen Becher zu nehmen. Aber das Letzte was sie für dieses Zusammentreffen gebrauchen konnte, war noch mehr Koffein, das durch sie durchlief.
Mehrere Minuten später hörte sie Fußschritte, die den Flur herunterkamen. Sie schloss ihre Augen und konzentrierte sich. Zwei paar Fußschritte kamen näher. Dann öffnete sie ihre Augen, als sich die Tür öffnete. Die Dame vom Empfang hatte sich anscheinend in der letzten Minute weggedreht, weil sie nicht zu neugierig erscheinen wollte.
Also war nur noch Patricia White übrig, die durch den Türrahmen auf eine Tochter schaute, die sie seit zwölf Jahren nicht gesehen hatte. Mackenzie schaute sie an und für einen Zeitraum von fünf Sekunden passierte nichts. Niemand sprach. Niemand bewegte sich.
Endlich kam Patricia in das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Und selbst dann war nur Stille zwischen ihnen, sie kam zum Tisch und nahm Platz.
***
Es war unheimlich, wie wenig ihre Mutter sich verändert hatte. Sicherlich gab es Anzeichen des Alterns aber nicht so schlimm, wie Mackenzie erwartet hatte. Es gab leichte Taschen unter ihren Augen und ein paar graue Haare hier und da, aber keine drastische Veränderung. Anscheinend war es ihrer Mutter in den letzten zwölf Jahren gut ergangen.
“Warum bist du hier?”, fragte Patricia und schaute ihre Tochter mit einem merkwürdigen Blick an Gefühlen an.
“Wegen der Arbeit”, sagte Mackenzie trocken und versuchte sowohl faktisch, als auch sarkastisch zu sein. “Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, aber ich habe dich vor einem Jahr angerufen und dich zu einem bestimmten Abschluss eingeladen.”
“Ich erinnere mich”, sagte Patricia. “es fühlte sich an, als wenn man mir etwas unter die Nase reibt.”
“Nein. Nur der Versuch dir entgegenzukommen und zu sehen, ob du bereit bist, deinen Groll zur Seite zu legen.”
“Ich habe keinen Groll”, entgegnete Patricia.
“Nein? Dann hast du einfach aufgehört dich um den Rest der Familie zu kümmern, nach dem du in das Heim gekommen bist? Ich weiß nicht, wie die Dinge mit dir und Stephanie stehen, aber wenn sie nur halb so gut sind wie mit mir, dann ist es kein Wunder, dass sie immer noch irgendwie durchs Leben stolpert.”
“Das ist wohl kaum fair.”
“Vielleicht nicht. Aber nach zwölf Jahren denke ich, ist es Zeit für ein offenes und ehrliches Gespräch.”
“Wenn du deswegen extra hier hergekommen bist, dann hast du deine Zeit verschwendet. Ich habe dir nichts zu sagen, Mackenzie.”
“Zum Glück ist das nicht der einzige Grund, warum ich hier bin. Erinnere dich, ich habe gesagt, ich bin wegen der Arbeit hier.”
“Wirst du nicht dein Abzeichen zeigen?”
“Kann ich machen, wenn du dich dann besser fühlst”, keifte Mackenzie. “Aber ich möchte nicht, dass du denkst, ich würde dir etwas unter die Nase reiben.”
Der Kommentar ließ Patricia aufstehen und zur Tür gehen. Sie tat alles, um nicht zurückzusehen und ihre Tochter anzuschauen.
“Mom, bitte. Es gibt einen Grund, warum ich gekommen bin. Einen ziemlich Großen, um genau zu sein. Bitte setz dich.”
Patricia drehte sich zu ihrer Tochter und nahm langsam wieder Platz. Es gab ein kleines Flackern von Angst in ihren Augen, eine Unsicherheit, die Mackenzie sofort spüren ließ, als wenn sie in dem Moment die volle Kontrolle über die Situation gewonnen hatte.
“Es gab eine Reihe von kürzlichen Mordfällen”, erklärte Mackenzie. “Sie passierten vor mehreren Monaten, aber die letzten fünf sind alle kürzlich passiert … alles Landstreicher im Omaha Bereich.”
“Warum zum Teufel bist du dann hier draußen?”
“Weil wir ziemlich sicher sind, dass die neueren Morde mit dem von Dad’s verbunden sind.”
Patricia ließ ein nervöses Kichern hören, sie gab sich Mühe es so aussehen zu lassen, dass sie dachte der reine Gedanken an so etwas wäre kompletter Blödsinn. Aber die Angst in ihren Augen wurde größer und sie konnte das nicht lange vorspielen.
“Wir können nicht mit Sicherheit sagen, dass es dieselbe Person ist”, erklärte Mackenzie. “Aber es dieselbe Art von Waffe, derselbe Tötungsstil, dieselbe Visitenkarte –“
“Stopp”, sagte Patricia. Sie zitterte jetzt und da waren tatsächlich Tränen in ihren Augen.
“Ich bin gekommen, um mit dir zu sprechen, weil ich alles wissen muss, an was du dich in der Nacht in der das passiert ist, erinnerst, alles, was du vielleicht in der ursprünglichen Ermittlung ausgelassen hast. Wir können den Mörder nicht finden und im Moment, ist es ehrlich so, als wenn er mit uns spielt. Alles, woran du dich erinnern kannst, wäre hilfreich.”
“Ich habe alles gesagt, was ich weiß”, sagte sie. “Ich habe es mehrmals vor siebzehn Jahren gemacht und ich sollte verdammt sein, wenn ich das noch einmal durchmachen muss. Hast du mit den Menschen in Belton gesprochen? Die Hälfte der dummen Stadt denkt, dass ich damit etwas zu tun habe.”
“Das mag sein”, sagte Mackenzie. “Aber ich nehme an, wegen der Umstände dieser Nacht ist das ein heikles Gerücht. Mom … wie viel hattest du in der Nacht getrunken?”
Patricia sah aus, als wenn jemand ihr ins Gesicht geschlagen hatte. Der Schock der Frage hielt nicht lange an. Es schien mit dem Zittern abzunehmen.
“Viel. Wenn du fragst, ob ich geschlafen oder das Bewusstsein verloren habe, als dein Vater getötet wurde, dann ist die Antwort, ich habe das Bewusstsein verloren. Und bevor du mich deswegen beschuldigst, solltest du wissen, dass ich mich selbst die letzten Jahre damit verrückt gemacht habe.”
“Nein. Ich bin nicht daran interessiert. Ich gebe mir Mühe, dich als nichts weiter als eine potenzielle Informationsquelle zu sehen, während ich hier bin.”
“Ich weiß nicht, was ich dir sagen kann”, sagte Patricia. “Ich kann mich an nichts erinnern, bis du in das Wohnzimmer gerannt kamst und mich wach gerüttelt hast. Du hast mir gesagt, dass dein Vater sich nicht bewegt und ich dachte, er wäre eingeschlafen. Und dann hast du das Blut erwähnt …”
“Ich habe mit dem Polizisten gesprochen, der zu der Zeit an dem Fall gearbeitet hat”, sagte Mackenzie. “Auch mit dem Gerichtsmediziner. So wie ich verstanden habe, warst du ein Wrack. Ein Chaos. Es hat eine Weile gebraucht, bis du zu dir gekommen bist und deine Seite der Geschichte erzählt hast.”
“War ich. Und um ehrlich zu sein, ich bin froh, dass du dich nicht daran erinnerst.”
Mackenzie war so taktvoll, wie sie konnte. Sie brauchte bestimmte Informationen, ohne dass ihre Mutter sich fühlte, als wenn sie verhört wurde. Sie fühlte sich auch ein wenig aus der Bahn geworfen, von der ganzen Menge an Emotionen, die durch sie durchliefen, da ihre Mutter direkt vor ihr saß.
“Gab es keine Geheimnisse, die du vor mir oder Stephanie geheim gehalten hast über den Vorfall?”, fragte sie schüchtern.
“Nein. Warum sollte ich euch etwas verschweigen? Oder der Polizei?”
“Naja, ich habe erst gestern erfahren, dass Dad früher mal Vermieter war, ehe ich geboren war. Amy Lucas hat mir das übrigens erzählt.”
Ein aufrichtiges Lächeln ging über Patricias Gesicht. “Das war ein schreckliches Desaster. Er probierte es aus einer Laune heraus ... und nahm einen Kredit auf, um sich in etwas zu stürzen, von dem er hoffte, dass es uns helfen würde, uns aus Schulden zu befreien. Am Ende hat er dabei Geld verloren. Er war einfach nicht vorbereitet für die Wartungskosten. Wir haben nie darüber gesprochen, weil es zu anstrengend war. Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, aber dein Vater hasste es, über irgendetwas zu sprechen, in dem er nicht gut war.”
“Okay und was war mit der Vordertür, die nicht verschlossen war?”, fragte Mackenzie. “Ich höre immer wieder, wie verzweifelt du warst, dass das passiert war. Kam die Schuld von der Tatsache, dass du nicht aufgewacht bist, als der Mörder hereinkam? Wenn du nicht bewusstlos gewesen wärst, dass du vielleicht die Tür verschlossen hättest, ehe du ins Bett gegangen wärst?”
Patricia sah die Wand an, ein Stirnrunzeln ersetzte das Lächeln, das dort gesessen hatte bei der Erinnerung an das gescheiterte Immobilien Abenteuer.
“Mackenzie”, sagte sie und gab sich klar Mühe nicht vor ihrer Tochter zu weinen. “Ich weiß nicht, nach was du suchst. Aber was ich weiß ist, dass ich nicht die Kraft habe, das noch einmal durchzumachen. Ich habe die letzten Jahre damit verbracht, mich auf mich zu konzentrieren und sicherzugehen, dass mich meine Vergangenheit nicht wieder einholt. Ich werde also respektvoll von diesem Tisch aufstehen und wieder an die Arbeit gehen. Wenn du versucht noch mehr Fragen zu stellen, wird mein Abgang nicht so respektvoll sein.”
Mackenzie fühlte ihre Fragen in dem Moment austrocknen, als ihre Mutter wieder zur Tür ging. Vielleicht weil sie ihre Mutter persönlich gesehen hatte, war es einfach zu glauben, dass sie die Wahrheit sagte. Oder vielleicht war es der Schmerz in ihren Augen – eine Frau, die sie das letzte Jahrzehnt oder noch länger gehasst hatte und die jetzt sichtbar mehr als nur eine gebrochene Person war, die wie sie vor ihrer Vergangenheit davonlief.
Was immer auch der Grund war, Mackenzie beließ es dabei. Sie hielt ihre Mutter nur noch einmal auf, als Patricia die Tür öffnete, um wieder an ihre Arbeit zu gehen.
“Mom?”
“Was?”, spie Patricia und schaute sie nicht an.
“Wenn das alles vorbei ist … würde ich dich gerne anrufen. Ich würde gerne mit dir reden. Wäre das Okay für dich?”
Patricia drehte sich endlich zu ihr um. Die Tränen liefen an ihrem Gesicht herunter, aber sie machte sich keine Mühe sie zu verstecken.
“Ja, das wäre schön.”
Dabei beließen sie es. Mackenzie blieb am Tisch sitzen, während ihre Mutter wieder auf den Flur trat. Sie saß dort noch ein wenig länger, sammelte ihre Gedanken und ihre Gefühle. Klar, die Konfrontation war anspannend gewesen und sie hatte nichts daraus gewonnen – außer vielleicht den Glauben, dass die Gerüchte, dass ihre Mutter etwas mit dem Mord an ihrem Vater zu tun haben könnte, nicht gerechtfertigt waren.
Sie hätte da wohl noch länger gesessen, wenn ihr Handy nicht im Inneren ihrer Jacke vibriert hätte. Sie nahm es heraus und sah, dass sie eine Nachricht von Ellington hatte.
Wie geht’s? stand da.
Sie wollte fast sofort antworten, aber dann verließ sie stattdessen den Pausenraum und ging zurück in den Flur. Sie schaute sich schnell in der Lobby um, als sie am Empfang vorbeiging, aber sah ihre Mutter nirgends. Sie hatte anscheinend keine Zeit verschwendet, sich von ihrer Tochter zu distanzieren und wieder an die Arbeit zu gehen.
Sie ging zum Auto und startete den Motor. Ehe sie aus der Parklücke und wieder zurück nach Belton fuhr, nahm sie ihr Handy heraus und antwortete Ellington.
Gut, alle Möglichkeiten in Betracht gezogen. Gerade meine Mutter getroffen.
Sie wartete einen Moment, weil sie sich sicher war, dass Ellington direkt antworten würde. Er schrieb nicht oft, und wenn er das tat, bevorzugte er es, ein Gespräch auch zu beenden, anstatt es stundenlang hinzuziehen. Als er antwortete, war es in typischer Ellington Manier.
Mist. Geht’s dir gut?
Ja, antwortete sie. Dir?
Nichts Neues hier unten. Schaue mir alle Landstreicherfälle an. Überall Sackgassen. Wann kommst du zurück?
Sie seufzte und warf ihr Handy auf den Fahrersitz. In Wahrheit wusste sie nicht, wann sie zurückkam. Aber sie wollte Ellington das nicht wissen lassen. Sie merkte, dass sie wieder wütend auf ihn wurde – sie wünschte sich, er wäre hier und das er gewählt hätte. mit ihr hier herzukommen.
Mist, vielleicht sollte sie gleich zurückfahren. Vielleicht sollte sie nach Belton fahren und auschecken und dann nach Omaha fahren.
Das schien die plausibelste Idee, aber als sie weiter fuhr erkannte sie, dass sie zitterte. Auch drückten Tränen irgendwo unter der Unterfläche und sie wusste, sie würde sie nicht lange aufhalten können.
Tatsächlich kam die Erste schon aus ihren Augen gerade, als sie vom Holiday Inn weggefahren war und wieder in Richtung der Stadt fuhr, in der sie aufgewachsen war.