Bernie Toombs hatte recht: alles auf der Spruce Straße war Pleite gegangen. Vieles in der Stadt von Elm Branch war denselben Weg gegangen. Es gab einen Subway an der Ecke von Spruce und ein paar Ecken weiter schien ein Friseurladen offen zu haben. Aber abgesehen davon war die Straße tot. Und das beinhaltete auch das verlassene Wohngebäude an der Nummer 167.
Sie parkte ihr Auto vor dem Gebäude und schaute es sich an. Es war auf jeden Fall kein passendes Denkmal für ihren Vater, aber es war dennoch bedeutend, da es ein Teil seines Lebens gewesen war - ein Teil, von dem Mackenzie bis vor drei Tagen noch nichts gewusst hatte. Sie sah sofort, dass die Vordertür mit dicken Ketten und Schlössern verbarrikadiert war. Mehrere Bretter waren ebenfalls über die Doppeltür genagelt worden. Wahrscheinlich eine Vorsichtsmaßnahme von der Stadt, anstatt vom letzten Besitzer, in der Hoffnung Verletzungen von neugierigen Anwohnern zu vermeiden.
Mackenzie ging um das Gebäude herum und nahm einen Weg entlang einer schmalen Straße, die zwischen den Wohngebäuden und was anscheinend einmal ein Kaufhaus gewesen war, entlanglief. Sie war sich nicht sicher warum, aber etwas daran in den Schatten dieser zwei Gebäude zu sein, die quasi ausgetrocknet und gestorben waren, ließen ihre Hand angespannt über ihrer Glock liegen.
Auf der Rückseite kam sie zu einem Parkplatz. Unkraut hatte an den meisten Stellen Risse zum Wuchern gefunden. Mehrere grüne Mülldosen lagen hier, Glasflaschen, Plastikmüll und andere Trümmer lagen darum verstreut. Es sah nicht so aus, als wenn hier kürzlich jemand gewesen war.
Die Rückseite des Gebäudes bot eine einzige Tür, durch die man gehen konnte. Diese war ebenfalls versperrt. Mackenzie suchte nach einem anderen Weg hinein und fand leicht genug einen. Eine alte verrostete Leiter hing von einer Feuertreppe herunter, befand sich aber nicht innerhalb ihrer Reichweite. Sie fühlte sich fast wie ein Kind, als sie einen der grünen Mülleimer heranzog und ihn unter die Leiter stellte. Sie kletterte vorsichtig darauf und konnte jetzt die Leiter erreichen und sie herunterziehen. Rostflocken regneten herab, als die Leiter quietschte, da ihre Bolzen und Riemenscheiben so lange ungenutzt gewesen waren.
Sie kletterte die Leiter zum ersten Stock hoch, eine Eisenstruktur, die sich viel zu dünn für ihren Geschmack anfühlte. Zum Glück war das erste Fenster zu dem sie kam, verzogen und kaputt. Es brauchte nur einen einzigen Tritt, um den Rahmen zu lockern. Sie nutzte das Ende ihrer Glock, um all die losen Glasstücke wegzuschlagen und duckte sich dann durch das Loch, wo das Fenster gewesen war.
Sie befand sich in einer kleinen zerstörten Wohnung. Der Ort roch nach Schimmel und etwas Verfaultem – etwas zwischen einem zersetzenden Tier und lang verfaultem Essen. Es war eine kleine Wohnung, ausgestattet mit einem Wohnbereich und einer Küche, die durch eine dünne Bar abgetrennt wurde, einem Schlafzimmer und einem kleinen Badezimmer. Wenn es nicht ein bisschen anders gewesen wäre, als ihr Vater es vor fast dreißig Jahren versucht hatte, war sie sich ziemlich sicher, dass er geschlagen worden war, bevor er überhaupt angefangen hatte.
Sie verließ die Wohnung und fand sich auf einem Flur wieder. Er wurde von dem staubigen Sonnenlicht beleuchtet, das durch die Fenster am Ende des Flurs schien. Der Flur enthielt zehn verschiedene Wohnungen, fünf auf jeder Seite. Von dem, was sie von außen gesehen hatte, hatte das Gebäude vier Stockwerke. Selbst wenn das Erdgeschoss von der Verwaltung eingenommen war, gab es immer noch viele Wohnungen für jemanden zu verwalten.
Sie nahm an, dass es eine Art Büro im ersten Stock gab (sie war gerade im Zweiten) und Mackenzie fand eine Treppe am westlichen Ende des Flurs. Während sie hinunterging, sah sie das Skelett einer Ratte zusammen mit versteinertem Kot. Tote Insekten schmückten die Treppen, aber zu ihrer Überraschung, gab es keine Zeichen von Vandalismus oder Landstreichern.
Ihr Verdacht war korrekt gewesen, der erste Stock enthielt nur zwei Wohnungen, eine öffentliche Toilette und einen kleinen Büroraum. Ein großer, aber hässlicher Tisch stand im Büro und nahm fast den gesamten Raum ein. Der Tisch war leer, bis auf den Staub, der darauf lag. Die Wände und die Decke waren reich an Spinnenweben und gesammelten Staub. Zwei alte Aktenschränke standen an der Wand und boten kaum Platz. Sie waren verschlossen, aber sie waren so alt, dass es nur ein wenig Kraft benötigte, um sie zu öffnen.
Es war kaum etwas drin. Alte Papierfetzen, ein paar alte Stifte noch mehr Staub und Dreck. Am Boden des Zweiten fand sie eine alte Rechnung. Sie war neunundzwanzig Jahre alt, eine Zahlung für eine Malerfirma. Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie die Unterschrift auf der Seite sah.
Benjamin White.
Sie legte es vorsichtig auf den staubigen Tisch und starrte darauf. Sie fühlte sich nicht unbedingt, als wenn man sie angelogen hätte, aber sie fragte sich, welche anderen Dinge, sie ebenfalls nicht über ihren Vater wusste. Klar, ein gescheitertes Gastspiel als Vermieter war nichts, womit man vor seinen Kindern angeben konnte, aber trotzdem … sie konnte nicht über das Gefühl hinwegsehen, angelogen worden zu sein.
Sie überprüfte die Schubladen an dem alten Tisch und fand nichts außer leere Akten und verstreute Büroklammern. Sie schloss die Letzte vorsichtig, ein wenig enttäuscht, dass das alles war, was das Gebäude zu bieten hatte. Sie lehnte sich gegen den Tisch, sah sich um und stellte sich ihren Vater in dem gleichen Raum vor, nur viel sauberer.
Der Staub schien schon fast vom Nachmittagslicht, dass durch ein großes Fenster im Hinteren des Raumes schien, zu glühen. Sie schaute aus dem Fenster und sah die Jefferson Straße, die parallel zur Spruce verlief. Jefferson war auch fast tot, die vier Gebäude die sie sehen konnte, waren alle verammelt und geschlossen.
Sie drehte sich um und schaute weg, sie wollte gerade gehen, als sie etwas aus dem Augenwinkel sah.
Nein, dachte sie. Unmöglich. Du bildest dir das ein …
Aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Langsam drehte sie sich wieder zum Fenster und ging näher heran. Sie sah sich die Straße an. Sie starrte auf die vier Gebäude. Zwei waren namenslos und es gab kein Anzeichen dafür, was sie einmal gewesen waren. Das Dritte jedoch hatte die Buchstaben noch im Fenster, der Name eines gescheiterten Geschäftes, das Elm Branch Juwelier hieß. Direkt daneben, verbunden ohne überhaupt eine Grenze einer Straße, war ein Laden mit einer verblichenen und zerrissenen Markise über der Tür.
Der Riss in der Markise hatte einen Teil des Firmennamens entfernt, aber es war genug übrig geblieben, um raten zu können.
Mackenzies Herz schien für fünf Sekunden aufzuhören zu schlagen, als sie auf die Markise und den unvollständigen Namen des Geschäftes schaute.
RKER ANTIQUITÄTEN
Als sich ihr Herz anfühlte, als wenn es wieder schlug, nahm Mackenzie einen tiefen Atemzug und rannte aus dem Büro ihres Vaters, in dem er einmal versucht hatte, Wohnungen zu vermieten.
***
Draußen nahm sie einen tiefen Zug frische Luft, sie war froh dem staubigen, säuerlichen Geruch des Wohngebäudes zu entkommen. Sie rannte über die Straße und schaute nicht einmal nach Verkehr, weil es keinen gab. Sie sah sich die Markise wieder an, nur um sicherzugehen, dass ihre Augen ihr keinen Streich spielten.
Sie sah immer noch die gleichen Buchstaben. Der Riss in der Markise folgend von RKER ANTIQUITÄTEN. Sie näherte sich dem Gebäude und trat unter die Markise. Es gab keine Vinyl Buchstaben auf dem Fenster oder den Türen, aber sie konnte genau sehen, wo es einmal gestanden hatte. Der Geist dieser Buchstaben war noch an der Glastür, der Kleber der Buchstaben haftete hartnäckig daran.
PARKER ANTIQUITÄTEN.
Es war zu lustig – so lustig, dass sie es sich selbst laut vorlas. “Parker Antiquitäten”, sagte sie und probierte die Wörter aus.
Es ist nicht Barker Antiquitäten, dachte sie, aber es ist verdammt nah dran. Könnte einer dieser weiteren Zufälle sein, die aufkamen.
Aber das war zu nah dran. Etwas daran zog an ihrem Herzen und ihrer Logik. Dieser Zufall konnte nicht ignoriert werden. Während sie noch auf die klebrigen Reste dieser Buchstaben auf der Tür starrte, zog sie ihr Handy heraus. Anstatt eine Nachricht zu schicken, nahm sie sich die Zeit Harrison dieses Mal anzurufen.
“Hey White”, sagte er nach dem dritten Klingeln. “Was kann ich für dich tun?”
“Du musst den aktuellen Namen und die Adresse von jemandem herausfinden, der einen Laden in Elm Branch Nebraska besessen hat, namens Parker Antiquitäten.”
“Hast du Parker gesagt?”
“Ja, das stimmt. Und wenn du das irgendwie beschleunigen könntest, das wäre toll.”
“Ich werde sehen, was ich tun kann.”
Mackenzie beendete den Anruf und schielte durch die Tür. Es war in demselben Zustand wie das Wohngebäude. Sie widerstand dem Drang, das Glas einzuschlagen und die Tür aufzumachen. Sicherlich war niemand hier, der sie sehen könnte, aber es wäre nicht richtig. Sie ging um den Block und fand eine Hinterstraße, die hinter jedem Gebäude entlang des Blocks lief. Als sie zur Rückseite von Parker Antiquitäten kam, fand sie eine robuste Tür vor, verschlossen und in anständigen Zustand. Sie hatte keine andere Mittel, um hineinzukommen, sie schob ihre Moral beiseite und ging wieder zur Vorderseite. Sie nutzte das Ende ihrer Waffe als Knüppel, zum zweiten Mal in einer halben Stunde und das Glas zerbrach direkt am Rahmen. Vorsichtig langte sie mit ihrem Arm hinein und legte ihn um den Griff der Tür. Sie fand ihn, aber musste hart drücken, ehe es sich bewegte.
Trotz des entriegelten Riegels war die Tür immer noch über dem Schlüsselschlitz verschlossen. Sie rollte ihre Augen und wurde ein bisschen rauer. Sie machte einen Schritt zurück und gab einen harten Tritt in den Rahmen, direkt unter der Tür. Der Türrahmen knackte und die Tür flog nach innen auf. Mackenzie zuckte zusammen und schaute die Straße hoch und runter, um sicherzugehen, dass niemand sie gesehen hatte.
Ohne Zeugen ging sie in den Laden und schloss die Tür hinter sich so gut sie konnte. Beim ersten Anblick, schien das Einbrechen und Betreten es nicht wert gewesen zu sein. Alle Fächer waren leer mit Ausnahme von mehr Staub und Spinnenweben. Obwohl dieser Laden viel besser roch als der Wohnkomplex, gab es immer noch einen dicken Geruch von Vernachlässigung in der Luft.
Sie ging hinter die Glastheke, der man die Zeit und das Alter ansah. Sie sah auch eine alte Ringschachtel, ein Fünfcentstück und eine Ansammlung von toten Insekten auf dem Boden. Sie untersuchte den Rest des Ladens und fand mehrere Visitenkartenboxen im Hinteren des Ladens. Sie waren bis obenhin vollgestopft mit alten Rechnungen, einige gingen sogar bis ins Jahr 1982 zurück. Alle Rechnungen zeigten die Aufschrift mit einem einfachen Parker Antiquitäten Logo.
Sie könnte alle Kisten durchsehen, aber sie wusste, dass die Chancen etwas Wertvolles zu finden sehr gering war. Sie ging zurück zur kürzlich beschädigten Vordertür und schaut hinaus. Sie konnte das große Fenster im Büro des Wohngebäudes sehen. Sie stellte sich die Silhouette ihres Vaters dort vor, hinter dem alten Tisch sitzend, wie er arbeitete.
Die Geschäfte sind zu nah beieinander, um kein Zufall zu sein. Es geht nur um einen Buchstaben … Parker und Barker. Etwas passt hier auf keinen Fall.
Sie schaute auf ihre Uhr. Es war 15:40 Uhr, nur zwölf Minuten waren vergangen, seit sie Harrison mit ihrer Anfrage angerufen hatte. Er war schnell, aber auch nicht so schnell. Um sich zu beschäftigen, ging Mackenzie in einen der Hinterräume des Ladens. Sie nahm an, dass dort die Ware gelagert wurde oder Waren, die nicht verkauft wurden. Sie fand noch mehr verstreute Utensilien in den Zimmern: eine alte Baseballkarte Preisliste, die Rückseite eines Ohrrings, mehrere Kleiderbügel.
Auf einem Regal im zweiten kleinen Raum, den sie überprüfte, fand sie eine kleine Kartenbox. Das Oberteil war abgenommen worden und der Boden saß fest darin. Innen lagen mehrere kleine Karten gegen das hintere Ende gelehnt und von Staub bedeckt.
Visitenkarten…
Sie nahm einen scharfen Atemzug, als sie sah, dass jemand eine Sammlung von alten Visitenkarten in die Box gelegt hatte – das Rolodex eines armen Mannes. Es gab wohl insgesamt so um die dreißig Visitenkarten. Sie blätterte sie durch und sah Visitenkarten für einheimische Läden, wie Autoläden, Versicherungen, Computer Reparaturen und Bauunternehmen. Dann ganz hinten sah sie etwas, dass sie innehalten ließ.
Die letzten Karten in der Box waren zwei alte unbenutzte Visitenkarten für Parker Antiquitäten.
Sie sahen genauso aus, wie diejenigen, von den sie besessen war, nur mit Barker Antiquitäten beschrieben.
Sie hatten dieselbe Vorderseite, dasselbe Layout, denselben Karton, identisch außer, dass das B ein P war.
“Was zum Teufel?”, sagte sie.
Sie hielt die Karten in der Hand und sah nur einen Unterschied. Diese Karten hatten eine extra Linie. Es war die letzte Linie auf der Karte, in einer kleinen Schrift geschrieben.
531-555-6077 / Tim Parker, Besitzer.
Es gab nur eine Nummer, die anzeigte, dass es wahrscheinlich eine Festnetznummer war. Wenn man sich den Laden ansah, bezweifelte, sie dass der Laden noch offen hatte, als die Handys die Welt erobert hatten.
Sie zog ihr Handy heraus und wählte Harrison erneut an.
“Ich hab noch nichts”, sagte Harrison. “Ich habe die IRS, die sich das ansieht. Ich dachte, sie könnten die Steuerbelege ziehen und damit bekommst du alles, was du brauchst.”
“Brech es ab”, sagte Mackenzie. “Ich glaube, ich habe gefunden, was ich brauche. Aber noch eine weitere Anfrage. Kannst du mir die aktuelle Adresse und die beruflichen Informationen über einen Mann namens Tim Parker, ursprünglich hier aus der Elm Branch Region herausfinden?”
“Oh ja, das ist viel einfacher. Gib mir fünf Minuten.”
Nachdem sie den Anruf beendet hatte, steckte Mackenzie eine der Visitenkarten ein. Nur um sicher zu sein, versuchte sie die Nummer auf der Karte anzurufen. Nach ein paar mal Klicken, erhielt sie eine Nachricht, die ihr sagte, dass die Nummer nicht mehr länger in Gebrauch war.
Sie untersuchte den Rest des Ladens und fand nichts von Interesse. Wenn es überhaupt etwas zu finden gab, dann die Tatsache, wie schnell viele kleine Städte in Amerika in so einem alarmierenden kurzen Zeitraum in den frühen Neunzigern untergegangen waren. Sei es wegen des Internets oder den größeren Unternehmen, die in den nächst größeren Städten Läden eröffnet hatten … es war eine unvermeidliche Tatsache.
Zu seinem Wort stehend, rief Harrison fünf Minuten später wieder an. “Tim Parker”, sagte er. Aktuelle Adresse ist 664 Moore Straße. Direkt hier in Elm Branch.
“Super. Danke Harrison.”
Während sie aus dem Laden eilte, fiel ihr auf, dass Harrison eine Art Institution geworden war - eine sehr verlässliche Informationsquelle, die sie als selbstverständlich hinnahm.
Genauso wie du Ellington so selbstverständlich hinnimmst, dachte sie.
Aber sie hatte jetzt keine Zeit sich von dem Gedanken runterziehen zu lassen. Sie eilte zu ihrem Auto, sie konnte praktisch diese Visitenkarten in ihrer Tasche fühlen, die sie herunterzogen, als wenn sie nicht nur kleine Papierstücke wären, sondern eine Bombe, die neben ihrer Haut tickte und jederzeit zu explodieren drohte.