Es war 14:47 Uhr, als sie sich wieder hinlegte und um 14:50 Uhr wusste sie, dass schlafen unmöglich war. Dennoch war es gut zu liegen. Sie konnte spüren, wie das Adrenalin aus ihr wich, während ihr Körper sich entspannte. Das Klingeln in ihren Ohren wurde für einen Moment schwächer und hörte dann auf. Sie musste mit ihrem Kopf am Fußende des Bettes liegen, um vom Loch in der Matratze wegzubleiben, das anzeigte, wo eine Kugel fast ihr Leben beendet hätte.
Sie spielte die Szene in ihrem Kopf wieder und wieder ab. Sie sah den Mann, der leicht am Rand der Matratze saß. Er hatte anscheinend gerade die Waffe an ihren Kopf gesetzt, als sie aufgewacht war. Sie nahm an, ihre plötzliche Bewegung hatte ihn abgelenkt, gerade gut genug für die halbe Sekunde, die sie gebraucht hatte, um ihr Leben zu retten.
Er hatte eine Kostümmaske getragen, wie die Landstreicher in Omaha erwähnt hatten. Sie erinnerte sich auch, dass sie gesagt hatten, er schien wie einer von ihnen, ein weiterer Obdachloser auf der Basis seiner Kleidung und das er die Gegend kannte.
Vielleicht hat er die Gegend ausspioniert, dachte sie. Wenn er wirklich Menschen tötet, die im selben Wohngebäude lebten, dann muss er eine Auswahl treffen. Aber eine Frage bleibt: Warum hatte er so lange zwischen meinem Vater und Jimmy Scotts gewartet? Gibt es eine Bedeutung bei der Zeit oder war das alles nur wahllos gewesen?
Und warum hat er die Entscheidung getroffen, all diese Menschen zu töten? Gab es irgendeine Art von Missstand in seinem Leben, während er dort lebte? Oder gab es einen Vorfall, wegen dem er Rache will?
Es gab so viele offene Enden, die man sich zusammenspinnen konnte, besonders mit den Kopfschmerzen und dem gehen und kommen des Klingelns in ihren Ohren. Sie ging dann zu einer weiteren Sache über, die sich nie richtig für sie angehört hatte: Die Visitenkarte, die in Wanda Youngs Mund gesteckt hatte.
WILLKOMMEN ZUHAUSE, AGENTIN WHITE.
Zuhause.
Ein merkwürdiges Wort im Kontext, wie der Mörder es nutzte. Sie hatte nie mit irgendeiner Art von Zuneigung an Belton gedacht. Sie hasste es tatsächlich an den Ort zu denken und es hatte sie ein wenig deprimiert hier her zurückzukommen, sogar für den Fall.
Vielleicht war das seine eigene morbide, poetische Weise Belton als sein zu Hause zu bezeichnen. Hatte er versucht ihnen mitzuteilen, dass er ein Einheimischer war und damit versucht, die Lücken für sie zu füllen?
Aber der Geruch an ihm. Nein … er ist kein Einheimischer. Nicht wirklich. Er riecht wie jemand, der auf der Straße lebt. Und wenn er hier auf den Straßen in Belton leben würde, würde ihn jeder kennen – oder zumindest von ihm gehört haben.
Neben ihr vibrierte ihr Handy mit einem Text von Ellington. Wir haben eine weggeworfene Waffe im Wald eine Vierteilmeile vom Hotel entfernt gefunden. Keine Fingerabdrücke aber es wurde vor Kurzem damit geschossen. Scheint das er sie weggeworfen und sich irgendwo versteckt hat. Wir haben ihn noch nicht gefunden.
Er hat den Angestellten getötet, dachte sie. Er wollte mich umbringen. Um das zu tun, musste er einen Fluchtplan haben … irgendwo, wo er hingehen konnte.
Sie dachte darüber nach, dachte dass, wenn Belton eine Nummer an alten baufälligen Gebäuden, wie Elm Branch besaß, dann hätte er einige Orte, an denen er sich verstecken könnte. Aber Belton war hauptsächlich offene Felder und Wälder. Sicherlich versteckte er sich irgendwo im Wald. Und wenn das der Fall ist, dann müssen wir Spürhunde einsetzen.
Ich habe etwas übersehen, dachte sie. Etwas Einfaches …
Sie dachte eine Weile nach, versuchte alle Stücke in ein Bild zu drücken, das zumindest ein wenig Sinn machte.
Er hat im Gebäude meines Vaters gelebt, als mein Vater es noch verwaltete. Soweit scheint es, als wenn die Hälfte der Opfer dort ebenfalls gelebt hat. Etwas ist mit ihnen während dieser Zeit passiert … etwas Schlimmes, dass er Grund gesehen hat, meinen Vater und all die anderen Menschen zu töten.
Sie dachte an die Menschen, die in dem Gebäude zusammengelebt hatten, dass so klein, kompakt und so eng war. Sie konzentrierte sich darauf und es war dieser Gedankenzug, der sie bis 16:30 Uhr begleitete, als der Alarm, den sie auf ihrem Handy eingestellt hatte, sie aufweckte.
Sie setzte sich auf und wartete darauf, dass ihr Körper sich ohne Beschwerden präsentierte. Das Klingeln in ihren Ohren war weg. Die Kopfschmerzen waren noch da, aber schienen hauptsächlich ruhig zu bleiben. Sie fühlte sich müde, aber mental frisch. Anscheinend war liegen in der Dunkelheit und die Details eines Falles aufzuzählen, der sie seit Jahren plagte, eine gute geistige Übung – eine Art merkwürdige Meditation.
Sie schrieb Ellington eine einfache Nachricht und versuchte, sich wieder an die Führung zu setzen. Es ist 16:31 Uhr. Ich bin fertig. Wo bist du?
Er antwortete sofort. Sie sah die kleinen Punkte auf dem Bildschirm, die ihr sagten, dass er antwortete. In der Polizeistation antwortete er. Ich versuche herauszufinden, wo die Waffe herkommt. Komm her. Es gibt Kaffee.
Du liebst mich WIRKLICH antwortete sie.
Sie ging nach draußen, nickte ein Dankeschön zu den Polizisten, die sie bewacht hatten, und ging zu ihrem Auto. Die Sonne schien noch hell und erinnerte sie daran, dass wenn der Kopfschmerz wollte, konnte er jederzeit wieder auftauchen. Im Moment schien er damit zufrieden, niedrig in ihrem Hinterkopf zu grummeln. Sie dachte, sie würde versuchen so viel wie möglich zu schaffen, ehe er seine Meinung änderte.
***
Der Kaffee in der Belton Polizeistation war dunkel und gut. Es gab auch einen Teller, von dem sie sich gleich bediente, sie hatte nicht gemerkt, wie hungrig sie war, bis sie das Fleisch und das Brot sah. Als sie das Archiv betrat und Ellington dort mit drei weiteren Beamten vorfand, lächelte sie alle an und fragte: “Können wir den Raum eine Minute für uns haben, bitte?”
Die drei Beamten schienen froh eine Pause von den Akten zu bekommen, die auf dem Tisch ausgebreitet waren. Einer der Beamten war Beamtin Potter, die weibliche Beamtin, die Fredericks gestern Abend zu ihrem Zimmer begleitet hatte.
Gestern Abend dachte sie. Gott, es fühlt sich an wie letzte Woche. Ich muss wirklich schlafen, wenn das hier vorbei ist. Wie ein Vampirschlaf …
Als Beamtin Potter die Tür schloss, stand Ellington auf und kam zu ihr. Er umarmte sie und küsste sie auf die Stirn.
“Wie geht’s es dir?”
“Ich bin immer noch müde”, sagte sie. “Aber ich kann nicht einfach nichts tun.”
“Ich weiß. Aber diese Männer reißen sich den Arsch auf, du kannst nichts machen. Entweder du brütest über denselben Akten, über die wir schon den ganzen Tag brüten oder wir gehen nach draußen und suchen die Straßen nach dem Mann ab. Übrigens gibt es eine landesweite Fahndungsausschreibung für Greg Redman und die Hauptstrecke des Highways und drei alternative Strecken in die Außenbezirke von Belton und Elm Branch sind abgesperrt. Wenn er zu Fuß unterwegs war, als er vor dir geflüchtet ist, hat er es auf keinen Fall aus der Stadt geschafft, ehe die Sperren errichtet worden sind.”
“Er ist also irgendwo zwischen Belton und Elm Branch gefangen.”
“Genau. Wir müssen also einfach abwarten. Und wie der große Philosoph Tom Petty sagte, ist das das Schwerste.”
“Dann würde ich sagen gehen wir auf die Straße”, sagte sie. “Ich kann nicht mehr herumsitzen und Akten anschauen. Nachdem man mir beinahe den Schädel weggepustet hat, muss ich mich irgendwie bewegen.”
“Versteh ich. Aber ich fahre. Du siehst fertig aus.”
“Danke. Hattest du schon Glück und hast herausgefunden, wo die Waffe herkommt?”
“Nein. Aber es ist dasselbe Fabrikat und Model, das bei jedem einzelnen Opfer bis jetzt benutzt wurde. Natürlich wurde bei Wanda Young keine Waffe benutzt.”
“Komisch oder?”
“Ein wenig.”
Sie gingen aus dem Archiv und der Kopfschmerz begann, sich in ihrem Kopf zu regen. Sie zwang ihn schon fast mit purer Willenskraft wegzugehen und für eine Weile funktionierte das. Aber dann waren sie draußen in dem Nachmittagslicht und sie wurde wieder daran erinnert, wie schwach ihr Wille war … hinsichtlich der Kopfschmerzen und des Falls.
Ich übersehe etwas Offensichtliches, dachte sie während Ellington sie von der Polizeistation wegfuhr und auf die Straßen von Belton, wo es jetzt ein Polizeiauto an jeder Ecke gab.
Sie dachte zurück an ihre Reflektion, während sie sich im Motelzimmer ausgeruht hatte, aber es gab nichts, was sofort ersichtlich war.
Die Waffe? Die Maske? Die neuste Visitenkarte mit der Nachricht auf der Rückseite? Der Geruch? Der Angestellte? Das fehlende Stück ist irgendwo da draußen. Und die Antwort starrt mir direkt ins Gesicht.
Sie schaute auf die Ränder der Wälder, an denen sie vorbeifuhren, die Bäume wuchsen schon fast zwischen den Gebäuden und Häusern. Sie wusste, dass der Mörder da irgendwo draußen war, weniger als eine halbe Meile entfernt und das machte sie wütend. Und mit der Wut, die damit kam, war sie in der Lage hinter den Kopfschmerz zu sehen und sich wieder zu fangen.
WILLKOMMEN ZUHAUSE, AGENTIN WHITE.
Willkommen, Tatsache, dachte sie. In dieser Stadt zu sein fühlt sich so gefangen und frustriert an, als wenn ich nie gegangen wäre.