Da fast an jeder Ecke Verbindungen hergestellt wurden, schien es Mackenzie, dass die Dinge in DC jetzt auf Hochtouren liefen. Mackenzie erhielt weiterhin Updates von einem anscheinend endlosen Konferenzanruf, wo immer noch versucht wurde, die Identitäten der Landstreicher festzustellen.
Um 19:35 Uhr rief Harrison sie an, um sie wissen zu lassen, dass der Name eines anderen Obdachlosen festgestellt wurde: Aiden Biswell. Biswell war überall in Amerika unterwegs gewesen, nachdem er 1982 vom College in Texas abging. Er arbeitete in kleinen Firmen und Fabriken, bis er in den späten Neunzigern vom Radar verschwand. Sein Name kam überall in ganz Amerika in Polizeiberichten vor, wegen kleinen Diebstahls und unsittlicher Entblößung. Er wurde zuletzt in Omaha im Jahr 2010 gesehen, als ein guter Samariter ihn in die Notaufnahme begleitete, nachdem er von einem Auto angefahren worden war.
“Und hier ist die Verbindung für dich”, sagte Harrison, nachdem er alles über Biswell erzählt hatte. “Er war ein Bewohner des Wohngebäudes deines Vaters zwischen 1985 und 1986.”
Das war der letzte Hinweis, den Mackenzie brauchte. Das war mehr als Zufall. Sie versuchte die Bedeutung dahinter zu entschlüsseln, während Ellington sie zu ihrer vierten Runde in Belton fuhr auf der Suche nach irgendjemanden, der auch nur ein wenig verdächtig aussah. Sie wusste, dass es Spürhunde gab, die später aus Lincoln ankommen würden. Sie wusste auch, dass sogar Kirk Peterson angerufen worden war, um der Polizei bei ihren Straßensperren und Ermittlungen zu helfen. Der Letzte Fail-Safe, der eingesetzt worden war, bestand darin, dass, wenn die K-9-Einheit von Lincoln nichts aufzeigte, morgen früh ein Tür-zu-Tür-Angriff gestartet würde. All das wies auf solide Bemühungen hin und das Ende des Weges für ihren Mörder. Aber dennoch konnte Mackenzies Geist sich nicht nur alleine auf den Plänen ausruhen.
Etwas muss in diesem Wohngebäude zwischen 85 oder 86 passiert sein”, sagte sie zu Ellington. “Was immer es war, Greg Redman fühlt sich als Opfer. Wenn es also einen Polizeibericht gibt, dann wäre er wohl nicht als die schuldige Partei aufgelistet.”
“Das ist einer der Möglichkeiten, die Fredericks Männer überprüft haben, sobald sie Redmans Namen bekommen haben. Er hat zu der Zeit keine Vorstrafen gehabt. Er hatte eine im Jahr 1981, weil er in einen Streit in einer Bar verwickelt war. Er hat auch ein paar Notizen in seinen Aufzeichnungen von der High School wegen aggressivem Verhalten.”
Mackenzie hatte all diese Informationen ebenfalls gelesen – aber das war alles viel zu gewöhnlich für Menschen, die eventuell zu Mördern wurden. Die Sache, die wirklich nicht zu dem Fall von Redman passte, war, dass so ein langer Zeitraum zwischen seinem ersten Mord (ihrem Vater) und seinem Zweiten vergangen war.
“Vielleicht müssen wir uns seine Verhaftungen von Verdächtigen anschauen”, sagte sie. “Vielleicht ist etwas in dem Gebäude passiert, aber Redman war nicht darin involviert. Vielleicht fühlte er sich nur als Opfer.”
“Das ist ein guter Gedanke”, erwiderte Ellington.
“Tu mir einen Gefallen, bitte ja?”, fragte sie. “Lass uns zum Motel zurückzufahren. Ich habe irgendwie das Gefühl, etwas übersehen zu haben … etwas ganz simples, direkt vor meiner Nase.”
“Irgendetwas im Motel?”
“Ich weiß nicht. Ich … verdammt. Dieser Kopfschmerz und ich bin müde … ich fühle mich dumm.”
Ellington nickte, während er schnell mitten auf der Straße wendete. Er machte die Scheinwerfer an, da es langsam dunkel in der Stadt wurde.
“Wir müssen diese Kopfschmerzen untersuchen lassen. Ich werde dich zum Arzt zwingen, wenn das hier alles vorbei ist.”
Sie hatte auch schon daran gedacht. Sie hatte diesen Erschöpfungskopfschmerz manchmal, aber dieser hier fühlte sich anders an. Sie fragte sich, ob er vielleicht schlimmer geworden war, nach dem lauten Knall der Pistole direkt neben ihrem Kopf. Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, fühlte sie sich ein wenig unwohl, seit sie so knapp dem Zusammentreffen entkommen war.
Zehn Minuten später waren sie wieder im Motel. Mackenzie ging langsam hinein, machte das Licht an und schaute sich um. Sie stellte sich den Mörder vor, der durch das Zimmer ging und direkt mit der Waffe in seiner Hand auf sie zuging. Sie fühlte Ellington hinter ihr, der im Türrahmen stand.
“Ist das einer der Momente, in denen du alleine sein musst?”, fragte er.
Sie nickte nur und schaute sich im Zimmer um.
“Es sind ein paar Polizisten im Büro und machen den Tatort mit dem Angestellten sauber”, sagte er. “Ich werde ihnen helfen, wenn ich kann. Sag mir Bescheid, wenn du hier fertig bist.”
Wieder sagte sie nichts. Sie schaute auf das Bett, das noch unberührt war, seit sie dort fast erschossen worden war. Die Spurensicherung war hier gewesen, während sie mit Ellington auf der Polizeistation gewesen war und hatte die Kugel, die für ihren Schädel gedacht war, aus der Matratzenfeder genommen, da es sich zwischen die Matratze gebohrt hatte. Sie hatten auch zwei lose Haare gefunden, beide wahrscheinlich von ihr, aber sie wurden dennoch getestet. Sie erwarteten morgen früh Ergebnisse.
Sie begann im Zimmer umherzugehen, von einer Ecke in die andere. Jetzt hatte sie ein wenig mehr Einblicke in den Mörder, sie konnte sich besser hineinversetzen in die Art, wie er dachte.
Ein Mann mit aggressiven Neigungen in seiner Vergangenheit. Etwas hat ihn um den Verstand gebracht, während er in einem kleinen, schäbigen Ort mit mindestens hundert anderen Menschen wohnte. Hat einen mit Absicht getötet. Dann viele Jahre später hat er wieder getötet, auf dieselbe Art, wie beim ersten Mord. Hat Visitenkarten hinterlassen, um sicherzugehen, dass wir wissen, dass die Morde miteinander verbunden sind.
Das alles fügte sich zu einer unbehaglichen Antwort zusammen. Der Mörder war auf jeden Fall verwirrt, aber auch sehr schlau. Noch mehr, er war anscheinend stolz auf seine Morde. Er nutzte diese Visitenkarten, um jedes seiner Opfer als seins zu identifizieren. Und jetzt, wo er fühlte, dass das Ende nahte, wurde er noch dreister.
Er war in dieses Zimmer gekommen, hatte den Angestellten getötet und war direkt hier hergekommen, um sie zu töten.
WILLKOMMEN ZUHAUSE, AGENTIN WHITE …
Sie ließ sich auf dem Bettrand fallen und stieß ein lautes Seufzen aus. “Was zum Teufel habe ich übersehen?”, fragte sie sich selbst.
Ein wenig zittrig lag sie auf dem Bett. Sie legte ihren Kopf so, wie er gelegen hatte, als der Mörder reinkam. Sie schloss ihre Augen und versuchte sich ihren Vater in derselben Position vorzustellen. Schlafend und nicht wissend, dass jemand im Zimmer war. Dann dachte sie an den Rest des Hauses, während er geschlafen hatte … zwei Mädchen schlafend in ihren Zimmern, ihre Mutter auf dem Sofa. Sie sah das Haus in seinem aktuellen Zustand, der kurze Ausflug von neulich war ihr immer noch frisch im Gedächtnis. Der Staub, die Verwahrlosung, die Schlange im Keller.
Dann sah sie den Mann mit der Maske über seinem Gesicht. Er sah auf sie herunter, als wenn er keine Angst vor ihr hatte. Derselbe Mann, der all diese Visitenkarten hinterlassen hatte. Derselbe Mann, der ihren Vater getötet hatte.
WILLKOMMEN ZUHAUSE…
Langsam setzte sich Mackenzie auf.
Der Staub, die Verwahrlosung, die Schlange.
Der Mann auf dem Bett, wie er sich leicht auf die Matratze setzte, die Waffe an ihrem Kopf. Weiße Augen, eine Maske, der Geruch von dreckigen Straßen, einer obdachlosen Person…
Nur vielleicht war das nicht richtig. Der Geruch war bemerkbar, sicherlich. Aber für einen Moment hatte sie es fast als etwas anderes erkannt, sogar noch, ehe sie sich der Gefahr in dem Moment bewusst wurde.
Die Schlange im Keller … der Geruch.
Keuchend setzte Mackenzie sich auf, griff nach ihrer Glock und rannte in das Büro, um Ellington zu suchen.
Es fühlte sich wie eine vage Vermutung an … aber etwas passte daran.
Es machte irgendwie auf merkwürdige Art Sinn.
Ellington sah sie kommen und lächelte sie an. “Du hast es herausgefunden, oder?”
“Ich weiß nicht. Aber ich habe eine Ahnung.”
“Müssen wir Fredericks anrufen?”
“Noch nicht”, antwortete sie. “Ich will erst sicher sein.”
“Okay. Wo gehen wir hin?”
WILLKOMMEN ZUHAUSE, AGENTIN WHITE, dachte sie.
“Zu dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin”, antwortete sie.