Schaaaaaahhhhh!
Die Wehe zeigte ihr eine neue Dimension des Schmerzes, die mit nichts zu vergleichen war, was sie bislang erlebt hatte.
Und dabei befürchtete Nele, dass dies erst der Anfang war. Auf einer Skala von eins bis zehn vielleicht eine Zwei, und schon diese Stufe fühlte sich an, als würde in ihrem Unterleib ein Lötkolben lebendig.
Hecheln? Oder tief einatmen?
Verdammt, hechelten in den beknackten Filmen nicht immer alle?
Sie hatte keinen Vorbereitungskurs belegt, weshalb auch? Bei einem Kaiserschnitt kam es ja wohl kaum auf Atemtechniken an, zumal der in ihrem Fall in Vollnarkose vorgenommen werden sollte, um das Baby nicht durch Geburtsblutungen zu gefährden.
Oh Gott … Die Entführung, das Grauen, der Schmerz … all das hatte die Gefahren einer natürlichen Entbindung für ihren Murkel völlig verdrängt.
Nur ist das hier alles andere als natürlich.
Angebunden in einem Kuhstall. Begafft von einem Irren mit Dackelblick und Pennerfrisur.
»Schaaaaaa …«, entfuhr es ihr erneut.
Sie hatte selbst keine Ahnung, was sie da eigentlich in die leere Halle brüllen wollte, in der es keine Wehenschreiber, keine Pulsmessgeräte, nicht einmal Handtücher gab. Nur den Psychopathen hinter der Kamera, der nicht aufgehört hatte zu weinen, während er ihre Qualen filmte.
Am liebsten hätte sie ihm das Objektiv vom Ständer getreten, aber das ging wegen ihrer gefesselten Beine nicht.
Immerhin hatte der Verrückte es noch nicht für nötig befunden, ihr die Jogginghose nach unten zu ziehen. Als Medizinstudent, wenn er denn einer war, musste ihm klar sein, dass es da ohnehin noch nichts zu sehen gab.
Ihr graute vor dem Gedanken, dass sie hier keiner finden und retten würde und ihr Entführer es irgendwann dann doch tun würde. Sie entblößen.
»Schaaaaahhhhhaaaahhhh …« Ihr Schrei erstarb. Erleichtert fühlte sie, wie die letzte Wehe nachließ und hoffentlich wieder eine längere schmerzlose Periode eingeläutet hatte, bis der nächste Schwung ihr den Schweiß durch alle Poren treiben würde.
»Wieso?«, schrie sie ihn an, als sie wieder bei Atem war. »Was willst du von mir?«
Und wieso flennst du wie ein kleines Kind? Wischst dir ständig Tränen und Rotze aus der Nase?
»Es tut mir leid«, sagte ihr Entführer erstaunlich liebevoll.
»Dann bind mich hier los.«
»Das kann ich nicht.«
»Bitte, es ist ganz einfach. Schneid den Kabelbinder durch …«
»Dann lernen sie es nie.«
»Wer lernt was?«
»Sie. Alle. Die Bevölkerung.«
Er trat hinter der Kamera vor. »Ich will das eigentlich nicht. Ich hab nichts gegen Sie. Oder gegen Ihr Baby.«
»Sie heißt Viktoria«, sagte Nele und war selbst überrascht. Die Siegreiche. Überlebende. Der Name hatte nicht auf ihrer Shortlist gestanden, aber er war passend, zumindest für ein Mädchen. Für einen Jungen würde sie ihn zu Viktor ändern. Es war gut, dass sie die Zukunft beim Namen nannte. Es fühlte sich besser an, dass der Entführer das Wesen in ihr nicht als Objekt, sondern als einen Menschen mit Namen und Gefühlen begriff.
»Sie stirbt, wenn ich nicht in einer Klinik entbinde.«
»Sie lügen.«
»Nein, ich habe Aids. Ich kann Viktoria anstecken. Ohne Kaiserschnitt stirbt sie.«
Der Entführer nahm seine Nickelbrille ab. »Das … das wusste ich nicht.«
Er wischte sich die Gläser an seinem Pulloversaum ab und setzte sie sich wieder auf. »Aber dennoch. Ich kann jetzt nicht zurück.«
Nele hätte am liebsten geschrien, zwang sich aber dazu, diese absurde Unterhaltung so ruhig wie möglich zu führen, damit das lose geknüpfte Band zu ihrem Entführer nicht abriss.
»Verrätst du mir deinen Namen?«
»Franz.«
»Schön, Franz. Ich verpetze dich nicht. Ich schwör es. Ich hab es selbst nicht so mit den Behörden. Lass mich nur gehen, bitte …«
»Nein.« Franz fuhr sich durch die Haare. »Das kann ich nicht. Hier geht es nicht um uns. Nicht um Sie, um mich oder um Ihr Baby. Es geht darum, erst Ihnen und dann der Welt die Augen zu öffnen.«
»Mir? Was habe ich denn getan?«
»Ich hab Ihren Müll durchsucht.«
»Und?«
Er ging kurz aus dem Stall und kam mit einem gelben Sack wieder zurück.
»Hier«, sagte er und griff hinein. Er schwenkte eine leere Milchtüte, als wäre sie das wichtigste Beweisstück in einem Indizienprozess.
»Keine Sorge. Ich will nur Ihre Milch.«
Hatte er das vorhin wirklich gesagt?
»Was ist damit?«
»Sie haben sie getrunken.«
Nun konnte Nele doch nicht mehr an sich halten und wurde laut. »Haltbare Bio-Vollmilch, 3,5 Prozent? Ja! Mein Gott, ist das etwa ein Verbrechen?«
Er zog verächtlich die Mundwinkel nach unten. »Dass Sie wagen, das zu fragen, zeigt, wie nötig das hier alles ist.«
»Was alles?«, fragte sie ihn. »Was hast du mit uns vor, Franz?«
»Das werden Sie gleich spüren«, sagte ihr Entführer, griff sich den Müllbeutel und ließ sie im Stall zurück.