27.

Feli

Die Ledersohlen ihrer knöchelhohen Stiefeletten klatschten wie Ohrfeigen auf den Treppenstufen des Ärztehauses.

Feli rannte nach draußen, stolperte beinahe über eine Frau, die mit ihrem Rollstuhl durch den Eingang wollte, und vergaß vor Aufregung, sich zu entschuldigen.

Rechts, links. Geradeaus. Sie blickte in alle Himmelsrichtungen, drehte sich im Kreis und sah ein halbes Dutzend Livios.

Einer überquerte gerade die Seestraße, ein anderer wartete rauchend an der Bushaltestelle, zwei gingen gemeinsam in einen Drogeriemarkt eine Ecke weiter.

Im Nieselregen und von Weitem sah jeder Dritte so aus, als ob er ein schlanker Halbitaliener mit dunklen Haaren sein könnte.

Verdammt, so genau hatte sie ihn sich auch wieder nicht angesehen, und dunkle Hosen und grauer Parka waren auch nicht gerade einzigartige Unterscheidungsmerkmale.

Mist, Mist, Mist.

Zerquetschte Finger, geklautes Telefon. Es gab immer mehr, was sie Janek zu beichten hatte. Und immer weniger Zeit bis zur Trauung.

Feli sah auf die Uhr und überlegte, wo der nächste Taxistand war, dann fiel ihr ein, dass sie dringend das Telefon sperren musste. Bankdaten, Kontozugang, sie hatte alles darauf hinterlegt, wenn auch verschlüsselt, aber wer wusste, welche kriminelle Energie in dem Taschendieb noch steckte?

Wütend wollte sie zurück zu der Arzthelferin und mit ihr gemeinsam Anzeige erstatten, schließlich kannte Solveig den Dieb und hatte alle Daten von ihm in ihrer Kartei.

Andererseits … Sie zögerte.

Mehr, als dass der Kerl Livio Kress hieß, würde sie von Solveig vermutlich auch nicht erfahren. Und bezeugen, dass er es gewesen war, der ihr das Handy aus dem Trenchcoat klaute, würde sie kaum, sonst hätte sie sofort etwas gesagt, als es passierte.

Mann, sie hatte es ja selbst nicht einmal bemerkt. Und alle anderen Daten fielen unter das Patientengeheimnis.

Aber Solveig hat ein Telefon!

Feli drehte sich zurück zum Eingang und wollte gerade die Tür zum Praxishaus öffnen, als ihr Blick das Schaufenster der Apotheke streifte, die in den Ladenräumen im Erdgeschoss untergebracht war.

Helles, fast weißes Licht fiel zwischen den Auslagen im Schaufenster auf das regennasse Pflaster. Sie sah einen Pappaufsteller in Form einer lachenden Frau, die sich über die Wirkung einer Fußpilzsalbe freute, direkt neben einem Ständer mit Magentropfen. Und schräg dazwischen, in einiger Entfernung im Verkaufsraum: Livio.

Das ist ja wohl die Höhe!

Er beugte sich über den Verkaufstisch zu einer blutjungen Apothekerin mit Kurzhaarfrisur und zeigte ihr ein Telefon. Mein Telefon.

Präsentierte es ihr wie ein Straßenverkäufer seine Ware. Grinsend und mit ausladenden Gesten.

Die Apothekerin schüttelte bedauernd den Kopf, woraufhin er es wieder wegsteckte. Offensichtlich hatte er gerade vergeblich versucht, es hier vor Ort zu Geld zu machen. Alles, was Feli hören konnte, als sie durch die elektrischen Schiebetüren hindurch in den Verkaufsraum spurtete, war: »Das, was Sie wollen, gibt es ohnehin nicht ohne Rezept.«

»Rufen Sie die Polizei!«, rief Feli.

»Was?«

»Wie bitte?«

Die Apothekerin und Livio starrten sie an. Auch die anderen Kunden, ein Mann mit Schniefnase und ein älteres Ehepaar, von denen sich die Frau auf einen Rollator stützte, drehten sich zu Feli herum und beäugten sie verwundert.

»Der Mann da hat mir mein Telefon gestohlen«, sagte sie zu der Kurzhaarigen und zeigte auf Livio.

»Gestohlen?«

Livio plusterte seine Backen auf wie ein Kugelfisch. »Das ist gelogen.«

»Und was haben Sie sich da gerade in Ihre Hosentasche gesteckt?«

»Meinen Sie das?« Livio zog ihr Telefon heraus.

»Also bitte, Sie geben es sogar zu.«

»Nein, tue ich nicht. Ich hab es eben im Rinnstein gefunden.«

Die Apothekerin konnte sich ein Stirnrunzeln nicht verkneifen, und auch Feli tippte sich an die Schläfe.

»Das glauben Sie doch selbst nicht. Sie wollten es hier verscherbeln.«

»Hören Sie, bitte …« Livio streckte ihr eine Hand entgegen, während die Apothekerin mit hochgezogenen Augenbrauen fragte: »Soll ich wirklich die Polizei rufen?«

»Nein!«, rief Livio hastig, dann sagte er zu Feli: »Bitte, überlegen Sie doch mal. Wenn ich es geklaut hätte, wäre ich dann nicht längst über alle Berge? Würde ich mich hier in diese Apotheke stellen? Ich wusste nicht, dass es Ihnen gehört, ich schwöre.«

»Hat er es Ihnen zum Kauf angeboten?«, fragte Feli die Apothekerin.

»Nicht direkt«, druckste diese herum. »Er fragte mich nur, ob ich jemanden kenne, der sich dafür interessieren würde.«

Livio klatschte lachend in die Hände. »Ein Missverständnis. Ich wollte wissen, ob einer der Kunden es als verloren gemeldet hat.« Er lächelte sein charmantestes Lächeln, doch Feli war alles andere als überzeugt.

»Ich bin mir sicher, wenn ich die Polizei frage, wird etwas gegen Sie vorliegen, oder?«

Livios Lächeln verschwand, und Feli nickte triumphierend. »Hab ich einen Nerv getroffen? Sie können mir viel erzählen. Wissen Sie was, ich wähle jetzt selbst die 110, und dann werden wir sehen, was die Beamten zu Ihrer Fundbüro-Version zu sagen haben.«

»Bitte, tun Sie das nicht.«

Livio trat ganz nah an sie heran und sah sich um. Erst als er sich sicher zu sein schien, dass ihn niemand hörte, flüsterte er eindringlich: »Sie haben recht. Ich hab schon genug Ärger am Hals. Bitte. Sie haben Ihr Telefon doch wieder. Lassen Sie mich gehen.«

»Wieso sollte ich das tun?« Feli fauchte wütend. »Damit Sie an der nächsten Ecke jemand anderen abziehen?«

Sie tippte 110 in ihr Handy und drehte sich von ihm weg.

»Weil ich Ihnen helfen kann«, hörte sie ihn hinter sich flüstern, noch bevor sie auf das grüne Hörer-Symbol gedrückt hatte, um die Verbindung herzustellen.

Sie warf ihm einen schrägen Blick über die Schulter zu. »Wie meinen Sie das?«

»Das Foto, das Sie Solveig eben gezeigt haben!« Livio deutete auf ihr Handy. »Bitte, lassen Sie die Polizei aus dem Spiel, und ich verrate Ihnen, wer das ist und wo Sie den Taxifahrer finden.«