29.

Nele

Wie schön. Ein Moment ohne Schmerzen. Die göttlichste Form reinsten Glücks.

Neles Atmung verlangsamte sich. Sie lockerte ein wenig die Muskeln und streckte Arme und Beine, so gut es auf der Pritsche ging.

Ihr Unterleib, eben noch ein einziger Krampf, entspannte sich spürbar, und das war eine Wohltat nach dem letzten Wehenintervall.

»Ich muss auf die Toilette«, stöhnte sie, was gelogen war. Mit der letzten Wehe hatte sie es nicht mehr zurückhalten können und sich erleichtert. Sie roch den Kot und den Urin zwischen ihren Beinen, und es störte sie nicht. Merkwürdigerweise ihren Entführer auch nicht. Er reichte ihr einen feuchten Lappen aus einem Eimer, den er neben die Kamera gestellt hatte.

Sie blinkte durchgehend, daher nahm Nele an, dass er alles aufzeichnete. Auch seine Monologe, mit denen er sie zwischen den Wehen nervte, die nun immer schneller kamen und immer heftiger wurden, was dafür sprach, dass die Eröffnungs- in die Austreibungsphase übergegangen war, oder? Nele konnte sich nicht mehr erinnern, weder an den Abschnitt in dem Geburtsratgeber, den sie ohnehin nur überflogen hatte, noch an die Informationen ihres Frauenarztes.

»Wussten Sie, dass Tiere Geburtsschmerz nicht kennen?«

»Bitte, lassen Sie mich in Ruhe«, sagte Nele und säuberte sich mehr schlecht als recht.

»Elefanten vielleicht, da berichtet man von Einzelfällen«, fuhr Franz fort. »In der Bibel steht, Gott habe Eva gestraft. Viel Mühsal will ich dir bereiten, wenn du Mutter wirst. Mit Schmerzen wirst du Kinder gebären«, zitierte er augenscheinlich einen Bibelvers. »Aber das ist natürlich Quatsch. In Wahrheit hängt es mit dem aufrechten Gang zusammen.«

Aufrecht?

Nele überlegte, ob sie die schmerzfreie Zwischenphase nutzen und von der Pritsche aufstehen sollte. Wie viel Zeit blieb ihr bis zur nächsten Wehe? Und wie schnell wäre sie am Ausgang?

»Dank des aufrechten Gangs haben wir Menschen die Hände frei, können viele intelligente Dinge gleichzeitig tun, wie etwa laufen und dabei ein Werkzeug tragen. Der aufrechte Gang forderte ein schmaleres Becken. Wir wurden aber auch intelligenter, ergo bekamen wir immer größere Gehirne, die durch immer engere Geburtskanäle müssen.«

»Anscheinend war das Becken deiner Mutter ein Nadelöhr«, fauchte sie, und es gelang ihr sogar ein zynisches Lachen. »Wär zumindest eine Erklärung dafür, wieso dein Gehirn bis zur Schwachsinnigkeit gequetscht wurde, du perverser Irrer. Lass mich gehen.«

Franz hatte keine Gelegenheit zum Antworten, denn plötzlich fuhr ein Güterzug durch den Industriestall. Zumindest klang es so, als versuchte ein altersschwacher Waggon auf einem schlecht geölten Gleis zu bremsen.

Nele schrie auf, aber das ging in dem kreischenden Widerhall, der durch die Stallungen wehte, völlig unter. Sie blickte zu Franz und sah in seinen Augen die gleiche Furcht, die sie selbst spürte.

»Was zum Teufel …«, flüsterte er, da spürte Nele den Windhauch auf dem Gesicht und wusste, was diesen mittlerweile wieder verstummten Krach verursacht hatte. Franz hatte sie vorhin durch eine kleine, aufgebrochene Einstiegstür geschoben, die sich innerhalb eines gewaltigen Rolltors an der Ostseite befand. Irgendjemand musste ebendieses elektrische Tor geöffnet haben; jemand, der dafür ganz offensichtlich die nötigen Arbeitsmittel besaß. Mit einer Fernbedienung oder einem Schlüssel ausgestattet. Und mit einer dröhnenden Bassstimme.

»Hallo? Ist da wer?«

Neles Augen weiteten sich. Ein vages Gefühl der Hoffnung breitete sich in ihr aus. Franz aber legte einen Finger auf die Lippen und imitierte gleichzeitig mit der anderen Hand die Bewegung eines Messers, mit dem er sich über die Kehle fuhr.

Sie hörte Schritte, dann einen weiteren Ruf: »Geben Sie sich zu erkennen, oder ich rufe die Polizei.«

»Kein Mucks, oder du bist tot«, sagte der Blick, mit dem Franz sie bedachte.

Doch Nele hatte keine Ahnung, wie sie seinen stummen Befehlen Folge leisten sollte.

Sie spürte ein erstes Ziehen in ihrem Unterleib. Die Wehenwellen würden sie jeden Moment wieder fluten, und dann würde sie gar nicht anders können, als ihren Schmerz in die Halle zu schreien. Selbst wenn Franz seiner geflüsterten Drohung Taten folgen lassen würde:

»Wenn du nicht still bist, muss ich dich ersticken.«