Das war’s für mich«, hörte Mats Feli sagen. Sie atmete angestrengt, den Verkehrsgeräuschen im Hintergrund nach lief sie gerade über eine Kreuzung. »Ich beende das jetzt.«
Damit war sie nach Kaja die zweite Frau, die innerhalb weniger Minuten die Kommunikation mit ihm abbrechen wollte. Die letzte Rettungsleine, die zu reißen drohte.
Wobei Kaja vorhin kein Wort mehr zu ihm gesagt hatte. Seine ehemalige Patientin war wortlos aufgestanden und hatte in den Tunnelmodus geschaltet. Kein Augenkontakt, eingefrorene Mimik, roboterhafte Bewegungen beim Verlassen der Sky-Suite. Ein typisches Symptom schwerster seelischer Verletzungen und absolut nachvollziehbar, hatte Mats ihr mit dem Video doch eine psychische Handgranate zugeworfen. Wenn er schon irritiert war, wie mussten die Bilder dann erst auf Kaja gewirkt haben?
Der Kuss, die innige Umarmung des Attentäters, diese intime Verbindung – welchen Grund hatte sie gehabt, zu ihrem Peiniger zurückzugehen? Hatte Kaja so früh schon unter einer Wahrnehmungsverzerrung gelitten?
Unwahrscheinlich.
Die Zwangslage, in der sie sich befunden hatte, war eigentlich zu kurz gewesen, um diese emotionale Täter-Opfer-Beziehung zu begründen, die unter dem Namen Stockholmsyndrom bekannt war. Vermutlich würde Mats die Antwort nie erfahren, denn selbst wenn er diese Nacht überlebte, würde er wegen seiner Manipulationsversuche die Approbation verlieren und dürfte nie wieder als Therapeut arbeiten. Schon gar nicht mit Kaja Claussen.
»Ich leg jetzt auf«, hörte er Feli sagen.
»Nein, bitte, tu das nicht!« Mats öffnete den Wasserhahn im Badezimmer, das er aufgesucht hatte, weil er jeden Moment damit rechnete, sich zu übergeben. Das Licht zweier im Spiegel verschraubter Lampen wurde durch seidene Lampenschirme matt gefiltert, wodurch er weniger erschlagen aussah, als er sich fühlte.
»Bitte, Mats!«, stöhnte Feli. »Ich habe für dich die Nummer und sogar die Adresse des Mannes organisiert, der sehr wahrscheinlich etwas mit dem Verschwinden deiner Tochter zu tun hat. Die Arzthelferin, die mir die Visitenkarte von Klopstocks Fahrer gegeben hat, sagte, Franz Uhlandt wäre heute nicht zum Dienst gekommen. Was willst du denn noch? Ruf die Polizei und lass die Profis sich darum kümmern.«
»Das kann ich nicht. Nicht, solange ich mir nicht hundertprozentig sicher bin, wo Nele ist.«
»Weshalb?«
Mats hielt die linke Hand unter den Wasserstrahl und kühlte sich die Pulsadern. Dann riss er ein Bündel Kosmetiktücher aus einem Edelstahlspender neben dem Spiegel, wischte sich den Schweiß von der Stirn und schleppte sich zurück ins Wohnzimmer.
»Du erinnerst dich an Kaja Claussen? Die Schülerin, deren Selbstmordattentat du verhindert hast?«
»Du hast das geschafft, ich hab sie nur an dich vermittelt, Mats. Was ist mit ihr?«
»Sie ist Stewardess an Bord der Maschine, in der ich gerade bin.«
»Quatsch.«
»Doch. Und ja, das ist kein Zufall. Der oder die Täter – ich gehe davon aus, dass es mehrere sind – haben das Faber-Video ins Bordprogramm eingespeist.«
»Das Faber-Video?«, fragte Feli verwirrt.
»Die Aufzeichnung, auf der zu sehen ist, wie Kaja von dem Amokläufer vergewaltigt wurde. Die Veröffentlichung des Videos war der Auslöser dafür, dass sie ihren eigenen Amoklauf plante.«
»Okay, ja. Ich erinnere mich, wusste nur nicht, dass das Band diesen Namen hat.«
Mats griff sich die Fernbedienung und öffnete Kanal 13/10. Er musste nur dreimal eine Pfeiltaste drücken, und schon war er wieder zu der letzten Minute gesprungen. Wenige Sekunden vor dem unerklärlichen Kuss.
»Ein Dreivierteljahr war Kaja die Heldin der Schule, die sich opferte, damit andere überleben konnten. Bis ihr verschmähter Ex-Freund, Johannes Faber, das Band unter seinen Freunden streute. Kaja besorgte sich eine Waffe und kam mit dem Ziel in die Schule, ihn zu töten. Und alle anderen, die es gesehen und sie verspottet hatten.«
»Ja, ja, ich weiß das alles«, sagte Feli ungeduldig. »Aber ich verstehe nicht, was das mit Nele zu tun hat.«
»Ich soll Kaja mit dem Faber-Video konfrontieren«, gestand Mats und verschwieg, dass er das schon längst getan hatte.
»Wozu?«
»Ich soll sie triggern. Kajas autoaggressive Gedanken reaktivieren. Sie dazu bringen, sich selbst und alle anderen an Bord zu töten.«
Feli keuchte. »Das ist ein Scherz!«
»Nein.«
»Das ist nicht wahr, das ist …«
»Doch«, fiel er ihr ins Wort. »Das sind die Bedingungen des Erpressers. Nele stirbt, wenn ich das Flugzeug nicht zum Absturz bringe. Verstehst du, weshalb du meine letzte Chance bist? Der Name des Täters reicht mir nicht. Ich muss wissen, wohin Nele verschleppt wurde!«
Mats hatte das zigfach durchdacht:
Würde die Polizei schon vorher tätig werden, wäre er als Erpressungsopfer entlarvt, das ein Verkehrsflugzeug in Gefahr brachte. Von diesem Moment an dürfte die Besatzung kein Risiko mehr eingehen. Er würde sofort isoliert und an Bord womöglich sogar in Sicherungsverwahrung genommen werden. Dass der Erpresser davon Wind bekam und Nele tötete, bevor die Beamten sie fanden, war zum jetzigen Zeitpunkt ein viel zu großes Risiko.
Mats fror das Video ein, exakt in dem Moment, als die Kamera über die Bodenfliese der Dusche wischte, wo sich Johannes Faber versteckt gehalten hatte.
»Feli?«, fragte er, weil er nichts mehr von ihr hörte. Nur die Hintergrundgeräusche signalisierten ihm, dass die Leitung noch stand.
»Du bist ein Arschloch«, krächzte sie endlich.
»Ja«, stimmte er ihr zu.
»Weißt du, was du mir antust?«
»Dir?« Er hatte gedacht, sie spreche von Kaja, aber natürlich war es auch eine Zumutung, was er von ihr verlangte.
»Ich weiß, es ist dein Hochzeitstag. Aber Feli, bitte …«
»Scheiß auf den Hochzeitstag!«, schrie sie in den Hörer. »Menschenleben stehen auf dem Spiel. Hunderte, mein Gott. Und du hast mich zur Mitwisserin gemacht. Ich kann jetzt nicht einfach so tun, als wüsste ich von nichts. Jetzt muss ich die Polizei einschalten.«
Mats stöhnte auf und war versucht, seine Faust samt Fernbedienung in den Plasmabildschirm zu rammen.
»Nein, um Himmels willen, tu das nicht. Du tötest Nele.«
»Oh, Mats. Für dich ist deine Tochter natürlich mehr wert als alles andere auf der Welt, das verstehe ich. Aber für mich? Was, wenn ich Nele nicht finde? Ich kann dir doch nicht dabei helfen, ein einziges Leben zu retten, damit du am Ende dann doch eine ganze Maschine voll Menschen opferst, sollten wir sie nicht finden.«
Mats wurde schwindelig. Das Gespräch drohte ihm zu entgleiten.
»Aber das tust du doch gar nicht, Feli. Hör mir zu. Ich schwöre dir, ich halte mich von Kaja fern. Ich beuge mich nicht den Forderungen des Erpressers. Niemand hier im Flugzeug kommt zu Schaden.«
»Das soll ich dir glauben?«
»Ja«, log er weiter. »Vertrau mir. Ich bin kein Massenmörder.«
Doch. Und ein arglistiger, heimtückischer Lügner noch dazu.
Feli zögerte. Das Verkehrsrauschen im Hintergrund war nicht mehr da. Vielleicht saß sie in einem Taxi oder war in einen Hauseingang getreten. Mein Gott, was gäbe er jetzt dafür, direkt vor ihr zu stehen, ihre Hand zu halten und ihr persönlich klarzumachen, was alles auf dem Spiel stand.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Wenn du lügst und ich jetzt keinen verständige, muss ich später mit der Schuld weiterleben, Hunderte Seelen auf meinem Gewissen zu haben.«
»Ich lüge nicht, Feli. Schau mal, wir sind noch über sechs Stunden in der Luft. Wenn du jetzt die Behörden informierst, ist die Besatzung gewarnt, und die Täter erfahren, dass ihr Plan aufgeflogen ist. Dann töten sie Nele sofort. Sie und das Baby.«
»Wir müssten denen doch gar nichts von dir und dem Flugzeug erzählen. Nur, dass eine Schwangere vermisst wird. Und ich gebe ihnen den Tipp mit Uhlandt.«
»Ja, daran habe ich auch schon gedacht. Aber kannst du mir garantieren, dass der Erpresser nichts von den Ermittlungen erfährt?«
»Vielleicht weiß er schon von mir?«, wandte Feli ein.
»Ja, vielleicht. Aber du bist keine offizielle Bedrohung. Was immer der oder die Irren von mir wollen, es muss um etwas ganz, ganz Großes gehen. Etwas, was nicht an die Öffentlichkeit dringen darf. Und das wird es, sobald ich die Polizei einschalte. Ich habe Angst, dass es dafür noch zu früh ist. Bitte, Feli, ich flehe dich an. Verschaff mir noch etwas Zeit. Finde heraus, wohin dieser Franz Uhlandt meine Tochter gebracht hat, und dann, ich schwöre es, informieren wir die Polizei, und der Spuk hat ein Ende, okay?«
Feli blieb eine Weile stumm, und in der Pause hörte es sich an, als spiegelte die Telefonverbindung die monotonen Flugzeuggeräusche. Mats fühlte sich wie in einem Windkanal. Um ihn herum rauschte alles. Endlich sagte Feli: »Wie ich schon sagte: Du bist ein Arschloch, Mats.«
Dann legte sie auf, ohne ihm zu verraten, ob sie auf ihn hören oder die 110 wählen würde.
Mats ließ das Telefon fallen und schlug sich die Hände vors Gesicht.
Oh Gott, was mache ich nur? Was kann ich tun?
Er wischte sich die Tränen aus den Augen, dann suchte er nach der Fernbedienung, um dieses elende Standbild vom Bildschirm zu verbannen. Dabei sah er es aus den Augenwinkeln heraus.
Wegen seines Kopfschmerzes, der weiterhin hinter seinen Augen brodelte, der Übelkeit und der bleiernen Erschöpfung, die ihn lähmte, dauerte es eine Weile, bis ihm bewusst wurde, was sich ihm da überhaupt präsentierte.
Auf dem Monitor.
In dem Standbild.
Am unteren Rand, in der Dusche der Mädchenumkleide.
Auf der verwaschenen Fliese.
Dieses winzige, kaum zu erkennende Detail. Nur eingefangen, weil Mats das Video zufällig exakt in dieser Sekunde gestoppt hatte.
Ist es das, was ich denke?, fragte er sich und wünschte, er könnte das Bild größer zoomen oder wenigstens ausdrucken. Mats trat noch näher an den Monitor und machte einen folgenschweren Fehler. In der Hoffnung, das eingefangene Detail etwas besser sichtbar zu machen, indem er das Videofile direkt mit der Touchscreen-Funktion am Bildschirm ein wenig vor- oder zurückspulte, verlor er die Szene.
Das Abspielprogramm der Airline war viel zu grobmotorisch und machte immer Fünf-Sekunden-Sprünge. Was er hingegen benötigte, war eine verfluchte Zeitlupenfunktion!
Verdammter Mist.
Sosehr er sich auch anstrengte. Das Video wollte partout nicht mehr an jener Stelle stoppen, die er sehen musste, um seinen Verdacht bestätigt zu bekommen. Und dennoch war er sich sicher, dass er sich nicht getäuscht hatte.
Er hatte es gesehen, auch wenn es nicht einmal zwei Zentimeter groß gewesen war. Dieses »Etwas«, das Kajas Trauma erneut in ein ganz anderes Licht rückte.
Und auch wenn Mats in diesem Moment nicht hätte begründen können, weshalb er sich so sicher war, vertraute er seinem Bauchgefühl, dass die Entführer seiner Tochter einen verdammt großen Fehler gemacht hatten.