43.

HILFE! EINBRECH…«

Der Schrei der Rollstuhlfahrerin endete in erstickten, abgewürgten Lauten, weil Livio ihr die Hand vor den Mund presste. Sie war viel zu schwach, um ihn abzuwehren. Insgesamt schien sie nicht sehr viel mehr zu wiegen als der fliederfarbene Seidenpyjama, in dem sie steckte.

»Ganz ruhig, ganz ruhig«, sagte Felis Retter und ging in die Knie, um auf Augenhöhe mit der alten Frau zu sein. »Wir tun Ihnen nichts, haben Sie verstanden? Wir sind keine Einbrecher, und wir wollen Ihnen nichts Böses.«

Die Augen der Frau weiteten sich, und sie hörte auf zu schreien.

»Was machst du hier?«, fragte Feli den jungen Mann. In der Aufregung war sie zum Du übergegangen.

»Das frag ich dich«, antwortete Livio und drehte sich kurz zu ihr um. »Ich wollte dir nur dein Portemonnaie wiederbringen, das du in meiner Karre verloren hast.«

Feli tastete nach ihrer Jackentasche, die tatsächlich leer war.

Mittlerweile hatte die Rollstuhlfahrerin aufgehört zu schreien, und Livio wagte es, seine Hand zu lösen. »Ein Glück, dass ich dich einholen konnte.«

Die alte Frau hustete und wischte sich einen Speichelfaden von der Unterlippe.

»Zum Teufel, wer sind Sie?«

Feli ging ebenfalls vor ihr auf die Knie. »Mein Name ist Dr. Felicitas Heilmann«, sagte sie in der Hoffnung, mit der Erwähnung ihres akademischen Titels etwas Respekt und damit Vertrauen zurückgewinnen zu können. Anscheinend mit Erfolg.

»Sie sind Ärztin?«, argwöhnte die alte Frau.

»Ja.«

»Und was machen Sie dann hier in meiner Wohnung? Was haben Sie in meinem Badezimmer verloren?«

»Wir suchen Franz Uhlandt, wohnt er hier?«

»Heißt der Typ so?«, hörte sie Livio fragen, der mittlerweile wieder hinter den Rollstuhl getreten war. Mit einem Bein stand er im Bad, mit dem anderen im Flur. Feli erinnerte sich, dass er bei der Unterredung mit Klopstock nicht mehr dabei gewesen war.

»Meinen Franz?«, fragte die Rollstuhlfahrerin.

Jetzt erst hatte Feli die Ruhe, sich ihr Gesicht etwas genauer anzusehen. Sie war dünn, wie man es nur infolge einer schweren Krankheit wurde. Kaum Fettgewebe unter der Haut, die so fest über den Schädelknochen spannte, dass Feli Angst hatte, sie könnte wie ein Luftballon platzen, wenn man sie mit einem Fingernagel ritzte. Die Haare waren ihr bis auf wenige aschefarbene Büschel ausgefallen. Sollte sie früher einmal attraktiv gewesen sein, wofür die symmetrischen Gesichtszüge, die hohe Stirn und die gleichmäßigen Wangenzüge sprachen, musste sie jetzt beim Blick in den Spiegel umso mehr leiden. Das, woran sie litt, hatte die alte Dame jeglicher Schönheit beraubt.

»Wir glauben, Franz steckt in Schwierigkeiten«, sagte Feli, auf einmal von Mitleid erfüllt.

Die Alte lachte hohl. »Für diese Prognose brauchen Sie keine Hellseherin zu sein. Schwierigkeiten ist unser zweiter Familienname.«

»Gehen Sie eigentlich immer auf Fremde mit einem Hackebeil los?«, fragte Livio hinter ihr.

»Brechen Sie immer bei behinderten Menschen ein?«

Beim Anblick, wie die alte Frau den faltigen Hals verdrehte, bis sie Livio im Blick hatte, musste Feli unweigerlich an eine Schildkröte denken.

»Sie können von Glück sagen, dass ich keine Schrotflinte im Haus habe. Wie sind Sie überhaupt reingekommen?«

»Ihr Nachbar hat mir aufgeschlossen«, erklärte ihr Feli. »Sie haben nicht geöffnet, und er hielt mich offenbar für Ihre Altenpflegerin.«

Die Rollstuhlfahrerin schlug sich gegen den Kopf. »Petereit, dieser demente Idiot. Die war doch gestern schon da. So ein Schwachkopf. Ich hab ihn gebeten aufzuschließen, weil ich wegen der Medikamente manchmal das Klingeln nicht höre. Aber doch nicht heute. Mein Sohn hat mir befohlen, heute nicht zur Tür zu gehen, was auch immer passiert. Er hat mich gewarnt, dass jemand einbrechen könnte.«

»Franz ist Ihr Sohn?«, fragte Livio.

»Ich bin erst fünfundfünfzig. Ja, ich weiß. Sehe aus wie das Doppelte. Verdammter Knochenschwund.« Uhlandts Mutter winkte resigniert ab. »Mein Franz sagt, es liegt an der Milch.«

»Wie bitte?«

Sie sah Feli aus trüben Augen an und zuckte kraftlos mit den Schultern. »Er ist Veganer, wissen Sie. Hat sich in die fixe Idee verrannt, dass tierische Produkte uns alle krank machen. Vor allen Dingen Milch. Himmel, ich darf hier keinen Käse, keinen Joghurt, nicht mal einen Schokoriegel im Haus haben, seitdem er bei mir wohnt. Sagt, der Mensch wäre das einzige Säugetier, das nach dem Abstillen immer noch Milch säuft, und dass das die Ursache für meine Krankheit wäre. Ich glaub ja eher, das sind schlechte Gene. Aber mein Franz will davon nichts hören.«

Sie griff in ihre Speichen, um aus dem Badezimmer herauszurollen, aber Livio hielt sie fest.

»Wieso sollten Sie heute nicht an die Tür gehen und mit Einbrechern rechnen?«, wollte er wissen.

»Ist doch eh egal. Was rede ich hier eigentlich mit Ihnen? Hauen Sie ab, sonst rufe ich die Polizei.«

»Sie reden mit uns, weil wir Ihrem Sohn helfen wollen«, sagte Feli, die merkte, dass Livio ihr jetzt ebenso aufmerksam zuhörte wie Uhlandts Mutter. »Und Franz will unter Garantie nicht, dass Sie die Polizei einschalten. Eine Frau ist verschwunden. Eine schwangere Frau. Sie ist die Tochter eines Freundes, und ich habe die Befürchtung, Ihr Sohn könnte etwas damit zu tun haben.«

»So, könnte er?«

Uhlandts Mutter sackte spürbar in sich zusammen. Machte in ihrem Rollstuhl einen Buckel und sah auf ihre im Schoß gefalteten Hände. »Ein schwangeres Mädchen, sagten Sie?«

»Ja.«

Ihre Lippen bewegten sich, aber es dauerte eine Weile, bis Feli sie etwas sagen hörte; fast so, als hätte sie ihren Mund trainieren müssen, bevor sie es wagte, die Wörter auszusprechen. »Ich hab keine Ahnung. Franz hat was ausgeheckt, so viel ist sicher. Ich meine, ich will nicht schlecht über ihn reden. Er ist ein lieber Kerl, und er kümmert sich gut um mich. Aber seitdem er seinen neuen Freund kennengelernt hat …«

»Welchen Freund?«, fragte Feli.

»Ich hab ihn nie gesehen. Weiß nicht mal, ob es überhaupt ein Kerl ist, aber Franz hatte noch nie eine richtige Freundin. Er hat immer nur von einem Seelenverwandten gesprochen. ›Endlich jemand, der mich versteht, Mama‹, hat er gesagt. Und dass sie beide etwas planen, von dem die ganze Welt noch sprechen wird. Dafür hat er sogar Geld bekommen.«

»Wofür?«

»Was weiß ich? Ich glaube, es war für eine Videoausrüstung. Tag und Nacht hat er gearbeitet. Habe wirklich keine Ahnung, was er da ausbaldowert hat.«

Sie drehte sich zu Livio und sah an ihm vorbei zu der Tür, die dem Badezimmer gegenüber auf der anderen Seite des Flurs lag.

»Ich darf ja nie in sein Zimmer.«