45.

Wow.«

Salina drehte sich einmal um die eigene Achse und hauchte leise ihre Bewunderung, wahrscheinlich, um das gerade erst wieder eingeschlafene Baby auf ihrem Arm nicht aufzuwecken. Vielleicht auch, weil es ihr bei diesem Anblick tatsächlich die Stimme verschlagen hatte.

Er hatte kurz Sorge gehabt, dass sich ihm ein Crewmitglied in den Weg stellen würde, weil es ihm nicht erlaubt wäre, andere Gäste mit nach oben zu nehmen, aber sie waren auf ihrem kurzen Weg über die Treppe niemandem begegnet.

»Das ist ja unglaublich!«

Mats sah sich mit ihr gemeinsam in der Sky-Suite um. Für ihn war dieser Luxus einfach nur obszön, gerade in Anbetracht der Tatsache, dass er diese fliegende Hotelsuite in eine Kommandozentrale des Albtraums verwandelt hatte, von der aus er die psychologische Kriegführung gegen Kaja und alle Passagiere plante. Ahnungslose wie Salina Piehl hingegen musste der Anblick von schwenkbaren Ledersesseln, einem eigenen Duschbad und einem Schlafzimmer mit Doppelbett schier erschlagen.

»Jetzt verstehe ich, weshalb Sie mir 7A abgetreten haben. Hier würde ich auch lieber mitfliegen«, flüsterte sie staunend und schüttelte sofort den Kopf. »Tut mir leid, das sollte jetzt nicht anmaßend klingen. Ich bin sehr froh, dass Sie so großzügig sind.«

»Keine Sorge«, beruhigte sie Mats. »Ich bin es, der sich hier bedanken muss.«

Er rollte den weiterhin unbenutzten Servierwagen beiseite und brachte einen der beiden Sessel in eine 180-Grad-Liegeposition. Salina verstand die Maßnahme und bettete ihr Baby mitsamt der Kuscheldecke auf den Sitz. Das Flugzeug glitt ruhig durch die Nacht, doch sie entschloss sich, ihr schlafendes Kind anzuschnallen, indem sie den Gurt sanft über dessen Brust spannte, bevor sie zu Mats trat, der gerade den Monitor anschaltete.

»Worum geht es denn?«

»Um einen Notfall, wenn ich so sagen darf«, begann Mats und rekapitulierte die Geschichte, die er sich auf dem Weg in die obere Etage ausgedacht hatte und ihr nun auftischen wollte.

»Ich bin Psychiater und wegen eines hochkomplizierten Falles auf dem Weg nach Berlin. Ich habe das Behandlungsvideo eines Patienten erhalten, das ich hier oben nicht so genau studieren kann, wie ich möchte.«

»Verstehe«, sagte Salina, sah aber nicht so aus.

»Es ist kompliziert, und ich darf Ihnen wegen des Arztgeheimnisses das Video selbstverständlich nicht zeigen.« Hier wurde Mats bewusst vage und schwammig. »Es ist für mich von größter Wichtigkeit, dass ich mir einen Teil des Videos genauer ansehe. Eine Mikroexpression des Patienten.«

»In Zeitlupe?«, fragte Salina.

»Ganz genau. Die Technik hier an Bord erlaubt das leider nicht. Aber mithilfe Ihrer Kamera …«

Salina nickte verstehend. »Sie wollen den Monitor abfilmen und sich das Ergebnis hinterher in Slow Motion ansehen?«

»Besser noch in Einzelbildern.«

»Okay, kein Problem.«

Mats sah ihr fest in die Augen und bemerkte, dass Salinas Sommersprossen deutlicher auf der blassen Haut zu erkennen waren als noch vorhin. Das lag nicht nur daran, dass sie mittlerweile nicht mehr so gut geschminkt, sondern auch, dass sie aufgeregt war. Verständlich. Er hatte sie aus dem Schlaf gerissen, in das Luxus-Wunderland dieser fliegenden Zweizimmerwohnung entführt und bat sie um eine ungewöhnliche Mithilfe bei der Therapie eines ominösen Patienten. Es war ein Wunder, dass sie ihm die Funktionsweise der Kamera zeigte. Und nicht nur den Vogel.

Der Apparat, den sie samt Stativ dem Flight-Case entnahm, war nicht besonders schwer zu verstehen, dennoch schrieb sich Mats die wichtigsten Schritte Punkt für Punkt auf. Nachdem er sicher war, alles verstanden zu haben, bat er sie, das Wohnzimmer zu verlassen.

»Sie machen Scherze?«

»Es tut mir leid. Ich muss wegen des Arztgeheimnisses darauf bestehen.«

Salina rieb sich nervös die Hände, als ob ihr kalt wäre. Offenbar war es ihr überhaupt nicht recht, ihn mit ihrer Kamera alleine zu lassen.

»Sie steht sicher auf dem Dreifuß. Ich bewege sie nicht vom Fleck«, versprach Mats.

»Na gut«, sagte Salina nach weiterem Zögern, schien jedoch gar nicht glücklich darüber, mit dem Baby ins Schlafzimmer umzuziehen.

Er wartete ab, bis sie die Tür geschlossen hatte, und sprang auf Kanal 13/10 sofort in die neunte Minute. Zu dem Moment kurz bevor Kaja zurückgekommen war, um den Attentäter zu küssen.

Ab Sekunde 552 ließ er das Bild laufen und startete die Digitalkamera, die bereits auf den Wandmonitor ausgerichtet war.

Jetzt, beim zweiten Mal, war er sich der Brisanz seiner Entdeckung noch sicherer.

Er stoppte erst die Wiedergabe, dann die Aufzeichnung und ließ die eben angefertigte Aufnahme noch einmal auf dem bierdeckelgroßen Klappdisplay der Kamera ablaufen. Er wartete etwa eine halbe Minute ab, bevor er auf Pause drückte. Von da ab skippte er in Sekundenschritten vorwärts, und wenig später hatte er den Ausschnitt erreicht, den er sehen wollte.

Er musste noch nicht einmal in den Einzelbildmodus schalten. Das Standbild auf dem Display war perfekt.

Und tragisch.

Das gibt es doch nicht.

Mats fühlte ein Trommeln in seiner Brust, als würde in ihm kein Herz, sondern ein wilder Troll wohnen, der dringend aus seinem Körper wollte.

Salina hatte ihm gezeigt, wie er mithilfe eines HDMI-Kabels aus ihrem Koffer die Digicam mit dem Monitor verbinden konnte. Das funktionierte problemlos, weswegen das verstörende Bild jetzt in unerwartet guter Auflösung auf dem 55-Zoll-Monitor prangte.

Mit schweißnassen Händen zog er sein Telefon heraus und fotografierte das eingefrorene Standbild im Monitor.

Die Füße.

Auf der verwaschenen Fliese.

Auf der der Kameramann stand, der Kajas Vergewaltigung bis zum bitteren Ende gefilmt hatte.

Und der nicht Johannes Faber hieß und auch kein Mann war.

Sondern eine Frau mit camouflagefarbenem, grünem Tarnnagellack an den Füßen.

So wie ihn an jenem Tag alle drei Freundinnen als Erkennungszeichen ihrer Clique getragen hatten.

Ausgerechnet!

»Kann ich endlich wieder rauskommen?«, hörte er Salina hinter der Schlafzimmertür rufen.

Mats schluckte, aber der bittere Geschmack in seinem Mund wurde nur noch stärker. Alle seine Wahrheiten, all das, was er bislang über Kaja und ihre Therapie geglaubt zu haben meinte, waren mit diesem Bild auf den Kopf gestellt.

Noch schlimmer: Das Foto, das er jetzt auf seinem Handy bei sich trug, diese einzelne Aufnahme war womöglich die tödlichste Waffe an Bord dieses Flugzeugs.

»Ja, natürlich«, antwortete er der Mutter, löschte das Video auf ihrer Kamera und schaltete den Monitor aus, gerade in dem Moment, als er hinter sich einen sanften Lufthauch spürte.

Er fuhr herum und sah nur noch, wie die Tür zur Sky-Suite mit einem sanften Klick ins Schloss fiel.

Mats verharrte einen Moment in Schockstarre, viel zu lang, denn als er sich wieder gefangen hatte, als er zum Ausgang gerannt war und die Tür aufgerissen hatte und den Gang entlang zur Sky-Bar spähte, um zu sehen, wer ihn eben beobachtet, wer ihm über die Schulter geschaut hatte – da war dort längst niemand mehr in Sicht.