Wird es überleben? Kann es so etwas überleben?
Die Klinge war vergessen und spielte keine Rolle mehr. Nele konnte in ihrer Panik nur noch eine einzige Gedankenfrage formulieren: Aber mein Arzt hat doch schon vor Wochen gesagt, ab jetzt wäre das Baby lebensfähig, oder nicht?
Der errechnete Geburtstermin lag vierzehn Tage in der Zukunft.
Bei einem Kaiserschnitt war das Ansteckungsrisiko für das Baby noch einmal geringer, deswegen hatte man den Termin für die Operation zur Vorsicht nach vorne gezogen. Um genau das zu verhindern, was jetzt geschah: dass der natürliche Geburtsvorgang einsetzte.
Kann man nach einem Blasensprung überhaupt noch operieren?
Nele wusste es nicht. Sie hoffte nur inständig, dass ihr Murkel (so nannte sie das Wesen in ihr) gesund zur Welt kam.
Verdammt, wann kommt das Taxi?
Noch acht Minuten.
Und die würde sie brauchen.
Nele stand auf und hatte das Gefühl, komplett auszulaufen.
Schadet das dem Kind? Ein grauenhaftes Bild schoss ihr durch den Kopf: von ihrem Baby, das in ihrer Bauchhöhle vergeblich nach Luft schnappt wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Sie stakste zur Haustür und griff die Kliniktasche, die dort schon gepackt auf ihren Einsatz wartete.
Wechselwäsche, weite Hosen, Nachthemden, Strümpfe, Zahnbürste und Kosmetika. Dann natürlich den Beutel mit den antiviralen Medikamenten. Selbst Windeln hatte sie eingepackt, Größe 1, auch wenn es die ganz sicher im Krankenhaus gab. Aber Juliana, ihre Vorsorge-Hebamme, hatte gesagt, man könne nie zu gut vorbereitet sein, auch wenn es immer anders käme, als man denkt. Und das tat es jetzt.
Mein Gott.
Angst.
Sie schloss die Tür auf.
Nele hatte noch nie eine solche Angst um jemand anderen als um sich selbst gehabt. Und sich noch nie so allein gefühlt.
Ohne den Erzeuger. Ohne die beste Freundin, die gerade auf Tournee mit einer Musical-Gruppe in Finnland war.
Im Treppenhaus hielt sie kurz inne.
Sollte sie sich umziehen? Die nasse Jogginghose fühlte sich an wie ein kalter Waschlappen zwischen ihren Beinen. Sie hätte nachschauen sollen, welche Farbe das Fruchtwasser hatte. Bei Grün dürfte sie sich gar nicht bewegen, oder war es gelb?
Aber wenn es die falsche Farbe war und sie sich jetzt schon bewegt hatte, sollte sie es doch lieber nicht noch schlimmer machen, indem sie jetzt zurückging, um sich etwas Trockenes anzuziehen. Oder doch?
Nele zog die Haustür zu. Beim Runtergehen hielt sie sich am Treppengeländer fest, froh, dass ihr so früh noch niemand entgegenkam.
Sie schämte sich, auch wenn sie nicht wusste, wofür, denn eigentlich war eine Geburt doch etwas Natürliches. Doch ihrer Erfahrung nach wollten die wenigsten unmittelbar in diesen Vorgang mit einbezogen werden. Und sie hatte keine Lust auf scheinheilige oder verlegene Hilfsangebote von Nachbarn, mit denen sie sonst kaum ein Wort wechselte.
Unten angekommen, schloss sie die Eingangstür auf und trat in die nach Laub und Erde riechende Herbstluft. Es musste gerade aufgehört haben zu regnen.
Der Asphalt der breiten Hansastraße glänzte im hellen Licht der Straßenlampen. Eine Pfütze hatte sich vor dem Bordstein gebildet, und in der wartete – Gott sei Dank – schon das Taxi. Vier Minuten vor der Zeit. Aber keine Sekunde zu früh.
Der Fahrer, der an seinen Mercedes gelehnt in einem Buch gelesen hatte, legte den dicken Band durch die geöffnete Scheibe auf den Beifahrersitz und fuhr sich durch die schulterlangen dunklen Haare. Dann eilte er ihr entgegen, als er bemerkte, dass mit ihrem schlurfenden Gang etwas nicht zu stimmen schien. Vermutlich dachte er, sie wäre verletzt oder ihre Tasche so schwer, dass sie sich leicht nach vorne gekrümmt halten musste. Vielleicht war er aber auch einfach nur höflich.
»Morgen«, begrüßte er sie knapp und nahm ihr die Tasche ab.
»Zum Flughafen?«
Er berlinerte leicht, und sein Atem roch nach Kaffee. Sein Pullover mit V-Ausschnitt war ihm eine Nummer zu groß, genauso wie seine Cordhose, die ihm bei jedem Schritt über die schmalen Hüften zu rutschen drohte. Die halb offenen Birkenstock-Sandalen und seine Steve-Jobs-Brille vervollständigten das Klischee des Taxi fahrenden Soziologiestudenten.
»Nein. Ins Virchow. Wedding.«
Er lächelte wissend, als sein Blick über ihren Bauch streifte.
»Alles klar. Kein Problem.«
Er hielt ihr die Tür auf. Wenn er ihre durchnässte Hose bemerkt hatte, war er zu höflich, um es zu erwähnen. Vermutlich hatte er schon sehr viel Ekligeres auf seinen nächtlichen Touren gesehen und deshalb seine Rücksitze mit einem Plastiküberzug ausgestattet.
»Dann wollen wir mal.«
Nele stieg ins Auto mit der Sorge, etwas Wichtiges vergessen zu haben, obwohl sie die Kliniktasche umklammert hielt, in der auch ihr Handy, das Aufladekabel und das Portemonnaie steckten.
Mein Vater!
Während das Auto losfuhr, rechnete sie die Zeitverschiebung um und entschied sich für eine SMS. Nicht, dass sie Scheu hatte, ihren Vater um diese Uhrzeit in Buenos Aires anzurufen. Aber sie wollte nicht, dass er die Sorge in ihrer Stimme hörte.
Nele überlegte, ob sie ihm von dem Blasensprung schreiben sollte, aber wozu ihn unnötig beunruhigen? Und außerdem ging ihn das nichts an. Er war ihr Vater, nicht ihr Vertrauter. Dass sie ihn bei sich haben wollte, hatte keine emotionalen, sondern rein praktische Gründe.
Er hatte Mama im Stich gelassen. Jetzt sollte er es wiedergutmachen, indem er Nele mit dem Murkel unterstützte – und wenn sich seine väterlichen Hilfeleistungen nur auf Botengänge, Einkaufen und finanzielle Hilfeleistungen beschränkten. Das Kind würde sie ihm sicher nicht anvertrauen. Sie hatte ihn ja noch nicht einmal vor der Entbindung sehen wollen und ihm quasi befohlen, frühestens am Tag der Operation anzureisen.
»Es geht los!«, tippte sie in ihr Handy und schickte die Nachricht ab. Kurz und knapp. Sie wusste, die fehlende Anrede würde ihn verletzen. Und ein wenig schämte sie sich für ihre gefühlskalte Art. Aber dann musste sie an die Augen ihrer Mutter denken. Offen, leer, die Todesangst wie eingraviert, die sie vor ihrem Ende so ganz alleine durchlitten haben musste, und dann wusste Nele, dass sie noch viel zu nett zu ihm war. Er durfte sich glücklich schätzen, dass sie auf ihren Therapeuten gehört und den Kontakt zu ihm nach Jahren wieder aufgenommen hatte.
Nele blickte nach vorne und entdeckte einen grünen Wälzer, in dem der Fahrer vorhin geblättert hatte und der jetzt zwischen Handbremse und Fahrersitz klemmte.
Pschyrembel.
Also kein Soziologie-, sondern ein Medizinstudent.
Dann wunderte sie sich.
»Hey«, sagte sie. »Sie haben vergessen, die Uhr anzustellen.«
»Wie, was? Ach … verdammt.«
Der Student nutzte eine rote Ampel, um auf sein Taxameter zu klopfen. Anscheinend war es kaputt.
»Das ist jetzt schon das dritte Mal …«, schimpfte er.
Von hinten näherte sich ein Motorrad.
Nele drehte sich zur Seite, als es direkt neben ihrem Fenster hielt. Der Fahrer trug einen verspiegelten Helm, weswegen sie nur sich selbst sah, als er sich zu ihr herunterbeugte. Seine Maschine blubberte wie ein brodelnder Lavasee.
Verwirrt und ängstlich sah Nele wieder nach vorne.
»Es ist grün!«, sagte sie mit kieksender Stimme.
Der Student blickte von dem Taxameter hoch und entschuldigte sich.
Neles Augen wanderten wieder zur Seite.
Der Motorradfahrer wollte nicht anfahren. Stattdessen tippte er sich wie zum Gruß an den Helm, und Nele meinte das diabolische Lächeln zu spüren, das der Kerl ganz sicher unter dem Helm aufgelegt hatte.
David, schoss es Nele durch den Sinn.
»Die Fahrt geht auf mich.«
»Wie bitte?«
Der Student zwinkerte ihr im Rückspiegel zu und legte den Gang ein. »Ihr Glückstag. Das Taxameter ist im Eimer, Sie müssen nichts zahlen, Nele.«
Das letzte Wort des Fahrers schnitt durch die Luft direkt in ihren Verstand.
»Woher …?«
Woher kennt er meinen Vornamen?
»Wer sind Sie?«
Nele registrierte, dass sie langsam voranrollten, direkt hinter der Ampel nach rechts in eine Einfahrt.
»Wo sind wir hier?«
Sie sah einen aufgerissenen Metalldrahtzaun, im Hintergrund ragten zwei gemauerte Industrieschornsteine wie leichenstarre Finger in den dunklen Himmel.
Das Taxi schaukelte über Bodenwellen in der Einfahrt eines längst aufgegebenen Fabrikgeländes.
Nele griff zur Tür. Rüttelte am Griff.
»Halten Sie an. Ich will aussteigen.«
Der Fahrer drehte sich um und starrte auf ihre geschwollenen Brüste.
»Keine Sorge«, beschwor er sie mit dem Lächeln, das so unpassend schüchtern und harmlos wirkte.
Die fünf Worte, die folgten, erschütterten Nele mehr als alles, was sie bislang in ihrem Leben gehört hatte: »Ich will nur Ihre Milch.«
Eine innere Faust krampfte sich mit aller Macht in die empfindlichste Stelle ihres Unterleibs.
»Haah!«, schrie sie dem Studenten entgegen, der sie im Rückspiegel ansah, während die Scheinwerfer einen verrosteten Wegweiser streiften.
Zu den Ställen, las Nele ab.
Dann erreichte die Wehe ihren ersten Höhepunkt.