52.

Nele

Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder, die Wahnvorstellungen wurden schlimmer. Oder Franz war vom Baumarkt zurückgekommen, mit der Seilwinde und den Gurten, die er besorgt hatte, und schob in diesem Moment den Deckel wieder vom Eingang des Kadaverschachts weg. Auf jeden Fall wurde es hell. Viel zu hell für Neles an die Dunkelheit gewöhnte Augen.

Geblendet schloss sie die Lider, und trotzdem schien es ihr, als stäche ihr der Strahl durch die Haut in die Pupillen.

»Wer ist da?«, krächzte sie. Nicht sehr viel lauter als ein Fisch hinter dickem Aquariumglas. Dann hörte sie wieder die Stimme, die auf einmal viel zu deutlich und aufgeregt war, um nur ein Traum sein zu können.

»Nele, bist du das da unten?«, fragte sie.

Nele riss die Augen wieder auf. Blinzelte die Tränen weg und mit ihnen den Heiligenschein über der Person, die ihr zur Rettung erschienen war und mit der sie von allen Menschen auf dieser Welt am wenigsten gerechnet hätte.

»Gott sei Dank. Hilf mir, bitte, rette mich!«

Dass sie noch immer nicht klar denken konnte, zeigte sich daran, dass Nele der Name nicht einfallen wollte, aber es war ja auch schon viel zu lange her, dass sie etwas mit dieser Person zu tun gehabt hatte.

Zweihundert Jahre etwa, wenn nicht mehr.

Und nun tauchte sie gerade jetzt auf. Wie war das möglich?

»Hat mein Vater dich geschickt?«, fragte sie, denn er war der Einzige, der sich vermutlich gerade um sie Sorgen machte und hoffentlich Himmel und Hölle in Bewegung setzte, um sie zu finden.

Allerdings war sie sich nicht sicher, wie viel Zeit vergangen war und ob er überhaupt schon gelandet war.

»Hilf mir!«

Die Laute blieben am Sandpapier ihrer Kehle hängen. Dennoch versuchte sie es noch einmal, flüsterte »Bitte«, was ebenso hilflos wirkte wie ihr Versuch, die Hand nach oben zu strecken. Sie lächelte sogar, meinte es zumindest zu tun, jedenfalls bis zu dem Moment, in dem das Unmögliche geschah und das Grauen in ihr noch einmal eine neue Dimension erreichte.

Es war der Moment, da sie nur dieses eine, letzte Wort hörte:

»Verrecke!«

Dann war das Licht wieder weg, und die Abdeckung des Schachts schloss sich mit einem hörbaren Schaben über ihrem Kopf. Bewegt von jemandem, der ihre letzte Hoffnung gewesen war.

»Verrecke!«

Nie zuvor hatte sie so viel Wut und Hass in einem einzigen Wort gehört.

Nie zuvor eine Dunkelheit gespürt, die sie erdrückte wie die Wassermassen der Tiefsee.

Nie zuvor war Nele dem Tod so nahe gewesen.