57.

Denk nach!

Mats war schon auf dem Weg nach draußen, kehrte dann aber wieder um. Er wollte sich zwingen, methodisch vorzugehen, den Gedankensturm beruhigen, nicht kopflos durch das größte Flugzeug der Welt rennen und panisch nach einem Selbstmordattentäter Ausschau halten. Es gab nur einen einzigen Menschen, den er für fähig hielt, sich opfern zu wollen, aber ebendiese Person war die einzige, die er ausschließen konnte: Kaja.

Sie hatte eben im Lift gestanden, als ihn die Stimme anrief. Ohne die Lippen zu bewegen, ohne Handy am Ohr. Es konnte auch keine Aufzeichnung gewesen sein, denn er hatte einen Dialog mit dem Erpresser geführt.

Mit dem Selbstmörder?

Mats setzte sich hin, schrieb: »Was ich sicher weiß«, und wollte Punkte notieren wie:

– Nele ist entführt und leidet.

– Das Video wurde nicht von Johannes Faber gefilmt.

– Klopstock verdient an einem Absturz wegen seiner psychologischen Tests.

Aber zu so viel Selbstbeherrschung und Vernunft war er nicht in der Lage.

In seinem Kopf tobte nur eine einzige Gewissheit, und die lautete: »DIE STIMME IST AN BORD

Und ebendiese Erkenntnis trieb ihn letztlich doch aus der Suite, an der verwaisten Sky-Bar vorbei in den hinteren Bereich des Obergeschosses.

Zunächst in die obere Businessclass, dreißig Sitze, belegt mit schlafenden, lesenden oder Filme schauenden Passagieren. Wegen der zugezogenen Fenster war es überall so dunkel wie im Nachttier-Bereich eines Zoos. Im folgenden Bereich der Premium-Economy war es nur unbedeutend heller, denn auch hier war das Kabinenlicht ausgeschaltet, aber es gab mehr Sitze und damit mehr Monitore, die im Dunkeln fluoreszierten.

Wonach halte ich Ausschau?

Mats sah alte Männer, junge Frauen und schlafende Kinder. Doch woran erkannte man einen suizidwilligen Erpresser, dessen Motiv man nicht verstand?

Er hatte nicht die geringste Ahnung, wusste, dass es völlig sinnlos war, die fünfhundertfünfzig Quadratmeter großen öffentlichen Passagierbereiche abzusuchen, zumal der Täter ja auch im Cockpit oder Frachtraum sitzen konnte und ganz bestimmt nicht in der Öffentlichkeit mit einem Stimmwandler vor dem Mund telefonierte.

Und dennoch konnte er nicht tatenlos dasitzen und nichts tun. Er war wie ein Torwart, der wusste, dass er kaum eine Chance hatte, einen Elfmeter zu halten, der sich aber dennoch für eine Seite entscheiden musste, weil es keine Option war, wie angewurzelt stehen zu bleiben.

Je weiter Mats nach hinten kam, die gesamten fünfundsiebzig Meter des Flugzeugs durchschritt, desto voller wurde es. Im hintersten Economy-Bereich waren auf einer Fläche, die ihm vorne in der Sky-Suite allein zur Verfügung stand, zwanzig Passagiere untergebracht. Insgesamt zweihundert Fluggäste, von denen die überwiegende Mehrheit in der Lage wäre, zum Waschraum zu gehen und von dort aus mit einem Vocoder vor dem Mund ein Telefonat zu führen. Männer, Frauen, Deutsche, Spanier, Araber, Amerikaner, Weiße, Schwarze, sogar Jugendliche kamen in Betracht.

– Nervosität

– übermäßiges Schwitzen

– fahrige Bewegungen

– zitternde Hände

Mats erinnerte sich an einige Standardsymptome, die Selbstmordattentäter hin und wieder zeigten, jedoch nicht immer. Wenn der- oder diejenige die Angst mit Drogen oder Hypnose ausgeschaltet hatte, konnte er ganz normal wirken, bis er den Zünder seines Sprengstoffgürtels auslöste.

Außerdem war es Quatsch, die Erkennungsmaßstäbe, die selbst bei politisch motivierten Attentätern nur eingeschränkt funktionierten, auf einen höchstwahrscheinlich geistesgestörten Menschen anwenden zu wollen.

Er hatte das Ende des Flugzeugs erreicht und wechselte bei den hinteren Toiletten auf die andere Gangseite. Nun marschierte er wieder Richtung Cockpit. Musterte Hinterköpfe, Oberschenkel, roch alte Socken, Blähungen und Erfrischungstücher und wusste: Das war alles völlig sinnlos.

So sinnlos wie das Verhalten seines Erpressers.

Wenn die Stimme wirklich an Bord war und tatsächlich ihren eigenen Tod in Kauf nahm, wozu brauchte sie dann dieses komplizierte Konstrukt? Weshalb nutzte sie ihre offensichtlich vorhandenen intellektuellen und planerischen Fähigkeiten nicht dazu, das Flugzeug selbst zum Absturz zu bringen?

Wieso Nele? Kaja?

Wieso ich?

»Weil sie keine Bombe oder ein Attentat braucht, sondern einen psychologischen Zwischenfall!«, gab er sich selbst die Antwort.

Ein »herkömmlicher« Absturz, nach einer Geiselnahme etwa, würde nur Auswirkungen auf die mechanischen Sicherheitsvorkehrungen beim Check-in haben.

Hier sollte mit Kaja ein psychologischer Sprengsatz gezündet werden, den kein Röntgenscanner der Welt entdecken würde. Und genau dafür brauchten sie ihn.

Das Einzige, was er noch nicht wusste, war, wie die Welt davon erfahren sollte, wie es ihm gelungen war, die psychologische Bombe zu aktivieren. Doch er befürchtete, dass ihm das sehr bald klar werden würde.

Mats hatte die Treppe erreicht, die in Höhe von Reihe 33 nach unten führte, etwa am Ende des vorderen Drittels.

Sie mündete unten bei der großen Bordküche zwischen der Premium-Economy und der Touristenklasse. Vor den Toiletten saßen zwei Flugbegleiter bei den Notausgangstüren und unterhielten sich leise. Sie nahmen von Mats keine Notiz.

Und auch sie kommen infrage.

Oder Valentino, an den Mats denken musste, als er sein unlogisches Verhalten fortsetzte und im Gang stehend den Blick über die Passagiere gleiten ließ.

Es dauerte nicht lange, und seine Augen schraubten sich fest.

Und das, obwohl es zunächst nichts Ungewöhnliches zu sehen gab. Aber sein seelischer Seismograf hatte offenbar Schwingungen eines Bebens registriert, das noch ausstand und das weniger sensible Menschen vermutlich nicht spüren konnten.

Schwingungen, die ihr Epizentrum in Reihe 47 hatten.

Die gesamte Fensterreihe war jetzt leer, alle drei Sitze, inklusive 47F, den Mats für sich reserviert hatte und der beim Einstieg von dem Schlafenden blockiert gewesen war. Er war immer noch nicht wieder an seinem Platz, doch das war es nicht, was seine Aufmerksamkeit erregte.

Sondern die Mittelreihe, Platz 47J. Der erste Sitz am Gang.

Mats näherte sich langsam, pirschte sich an wie ein Raubtier, das seine schlafende Beute nicht aufscheuchen will, da passierte es: Der Passagier, der eben noch mit halb offenem Mund und geschlossenen Augen reglos das Kinn Richtung Kabinendecke gereckt hatte, zog unter seiner Wolldecke ein Telefon hervor, warf einen Blick auf das Display und steckte es zurück, bevor er wieder so tat, als würde er weiterschlafen.

Trautmann, schoss Mats der Name wie ein Schlachtruf durch den Kopf. Der Mann, der angeblich dank einer »Zwölftausend-Dollar-Tablette« den gesamten Flug verschlafen wollte, hatte erstaunlich luzide Wachphasen.

»Trautmann«, hörte Mats sich selbst schreien, nachdem er erst an ihm vorbeigelaufen war und sich ihm nun wieder von hinten näherte. Erschrocken nicht nur über die eigene Lautstärke, sondern auch über die bedingungslose Konsequenz seines Handelns. Sein ganzes Leben lang war er darauf konditioniert gewesen, Konflikte verbal zu lösen oder ihnen aus dem Weg zu gehen. Nun fühlte er, wie seine Hand ganz automatisch den Weg in seine Hosentasche fand. Wie sie die kleine Plastikbox herauszog, die »Zahnseide« herauslöste, und dann war es so, wie Patienten es häufig in ihren Nahtoderfahrungen beschrieben: dass er sich aus seinem eigenen Körper herauszulösen schien und sich selbst, über sich schwebend, dabei beobachtete, wie er die Schlinge von hinten um den Hals des vermeintlich Schlafenden zog. Und dabei schrie: »Wo ist Nele? Was hast du mit meiner Tochter gemacht?«

Nicht einmal eine Sekunde später lag Mats mit gebrochener Nase auf dem Boden des Gangs und hatte eine Pistole an der Schläfe. Dann wurde alles schwarz.