66.

18 Stunden später

Als er klein war, ängstigte ihn sein großer Bruder einmal mit einem Gedankenspiel, das Mats sein Leben lang nicht mehr loslassen sollte.

»Stell dir einmal das Nichts vor«, hatte Nils gesagt, während sie auf der Wiese des Teufelssees lagen, den sie in jenen Sommerferien täglich aufsuchten.

»Wie soll das gehen?«

»Fang damit an, dir diesen See hier, die Wiese und den kleinen Strand wegzudenken.«

»Okay.«

»Dann stell dir vor, es gibt auch uns nicht mehr, wir sind fort.«

Als Nächstes sollte Mats Berlin von der Landkarte seiner Vorstellungen radieren, dann Deutschland, Europa, schließlich die gesamte Erde. Am Ende waren das Sonnensystem, die Planeten, das Universum und schließlich alle Galaxien aus seiner Vorstellungswelt getilgt.

»Was siehst du jetzt?«, hatte ihn sein Bruder scheinheilig gefragt.

»Ein tiefes, schwarzes Nichts.«

»Schön. Und nun denk dir auch das weg.«

»Wie soll das gehen?«

»Lass dieses Nichts schrumpfen, auf einen einzigen, winzigen Punkt. Und den lässt du verschwinden.«

Mats hatte mit geschlossenen Augen auf der Wiese gelegen und sich vergeblich damit abgemüht, den so einfach klingenden Anweisungen seines großen Bruders zu folgen.

»Ich kann es nicht«, sagte er. Wann immer der Punkt verschwunden war, blieb noch diese schwarze, endlose Leere, die er unmöglich verschwinden lassen konnte.

Denn er konnte das Nichts durch nichts ersetzen.

»Siehst du«, hatte er seinen Bruder triumphierend sagen hören. »Wir können uns nicht nichts vorstellen. Denn das Nichts ist keine endlose Leere, sondern das Nichtvorhandensein derselben. Das Nichts«, schloss er, »ist ein verschwundenes Loch.«

Mats hatte damals am Teufelssee nicht alles verstanden, was sein älterer, klügerer Bruder ihm verdeutlichen wollte. Jetzt aber war er sich sicher, dass er genau diesen Ort gefunden hatte, von dem sein Bruder meinte, er wäre unvorstellbar.

Er befand sich exakt in seinem Zentrum, in jenem verschwundenen Loch. Umgeben von nichts außer dem Nichtvorhandensein jeglichen Lebens.

Mats konnte nichts sehen. Sosehr er sich auch bemühte, die Augen zu öffnen, er hatte den Kontakt zu seinen Lidern verloren, so wie er den Kontakt zu allen Muskeln, Gliedmaßen, zu seinem gesamten Körper verloren hatte. Sprechen, schlucken, würgen, nichts funktionierte mehr.

Auch sein Tastsinn war wie abgeschaltet. Normalerweise spürte ein Mensch die Kleidung auf seiner Haut nur dann, wenn er es wollte, aber er konnte sie spüren, wenn er sich darauf konzentrierte. Mats fühlte überhaupt nichts. Kein Jucken, kein Kratzen, keine Berührung, nirgendwo. Es war, als schwebe er nackt in einem Vakuum, unfähig, sich selbst zu berühren. Mit dem Verlust seines Augenlichts und des Tastsinns war er zugleich stumm und taub geworden. Alles, was er hörte, waren seine Gedanken, nicht einmal die körpereigenen Geräusche waren mehr da, das zirkulierende Blut, die Darmperistaltik, die Atmung, nichts. In ihm war es schmerzhaft still.

Beraubte man einen gesunden Menschen eines seiner Sinne, so hieß es in der Theorie, würden andere Sinne dessen Funktion überkompensieren. Blinde hörten besser, taube Menschen konnten mit den Augen winzige Gefühlsveränderungen im Gesicht ihrer Mitmenschen wahrnehmen.

Bei Mats, dem nichts mehr außer seinen Gedanken zur Verfügung stand, schien das Angstempfinden die dominierende, treibende Kraft seines Bewusstseins geworden zu sein. Er hörte nicht, wie er gierig atmete, er spürte nicht, wie das Adrenalin ihn erregte, aber er fühlte, wie die Panik seinen Verstand zersetzte.

Wo bin ich? Was ist mit mir geschehen?

Die Gedanken schrien in seinem Kopf, unhörbar laut, ohrenbetäubend stumm.

Plötzlich änderte sich alles.

Mats konnte noch immer nichts sehen, nichts sagen, nichts spüren, aber er hörte etwas.

Zuerst ein Summen, ähnlich dem einer Ultraschallzahnbürste. Ein elektrisches Knistern, es wurde lauter und erinnerte nun an eine synthetische Grille, und es war der schönste Klang, den er sich vorstellen konnte, denn es war ein Klang.

Der Beweis, dass er nicht länger durch das verschwundene Loch fiel, sondern in Kontakt stand. In Kontakt mit einer angenehmen, ernsten Stimme, die sich aus dem Summen entwickelte.

»Herr Dr. Krüger? Können Sie mich hören?«, sagte die Stimme, und Mats versuchte zu antworten. Versuchte zu schreien, die Augen aufzureißen, mit den Armen zu rudern, aber er hatte bereits vergessen, wie das ging.

»Es tut mir sehr leid, aber Sie haben eine schwere Hirnstammschädigung erlitten«, hörte Mats die Stimme. Die schrecklichste aller Wahrheiten.

Locked-in. Als Arzt kannte er natürlich die Diagnose, auch wenn die Stimme sie nicht offen aussprach. Einmal, weil diese grausamen Worte keinem Mediziner leichtfertig über die Lippen kamen. Und auch, weil der Befund normalerweise das Ergebnis tage-, wenn nicht wochenlanger Untersuchungen war. Aber Mats war Spezialist. Er konnte sich selbst analysieren und begriff, dass sein Gehirn beinahe jegliche Verbindung zu dem Rest seines Daseins verloren hatte. Der Stecker war gezogen. Er war lebendig begraben in seinem eigenen, nutzlosen Körper.

»Mein Name ist Dr. Martin Roth, ich bin der Leiter des Park-Klinikums. Wir sind uns einmal auf einem Symposium begegnet, Dr. Krüger. Ich kümmere mich mit einem Team von Neuroradiologen und Chirurgen um Sie. Aktuell werden Sie beatmet, und wir haben als unterstützende Maßnahme mit EEG-Elektroden ein Human-Brain-Interface hergestellt.«

Mats nickte, ohne zu nicken. Im Geiste sah er die kleinen Plättchen auf den ausrasierten Stellen seines Schädels, die Kabel, die vom Kopf zu den Computern führten. Viel zu oft hatte er Patienten in seiner klinischen Praxis mit diesen schwersten Schädigungen erlebt, nach einem Stammhirninfarkt etwa. Die Brücke war beschädigt, der Pons, jener Bereich zwischen dem Mittel- und Markhirn, der den Hirnstamm des Zentralnervensystems bildete. Bei einigen Patienten konnte nur noch über die Messung von Hirnströmen eine Basiskommunikation aufrechterhalten werden. Atypisch war, dass er offenbar alles um sich herum hören konnte. Die meisten Locked-in-Patienten konnten zwar sehen, jedoch nichts hören. Bei ihm war es anscheinend umgekehrt, und das war eine weitere Hiobsbotschaft. Es bedeutete, dass zusätzlich zum Stamm- auch das Okzipitalhirn beschädigt sein musste.

»Sie tragen einen Kopfhörer, über den Sie meine Stimme hören. Er filtert störende Außengeräusche«, hörte er Dr. Roth sagen. »Sie sind sich dessen vielleicht nicht bewusst, aber Sie können noch Ihre Lidmuskeln kontrahieren, also ein Blinzeln imitieren. Versuchen Sie es bitte einmal.«

Mats folgte den Anweisungen von Dr. Roth, der sich hörbar freute. »Sehr gut. Lassen Sie uns eine einfache Verabredung treffen. Ich stelle Ihnen ausschließlich Ja/Nein-Fragen. Bitte blinzeln Sie einmal für Ja. Zweimal für Nein. Haben Sie das verstanden?«

Mats blinzelte dreimal und hörte Roth lachen.

»Sie haben Ihren Humor nicht verloren, das ist hervorragend.«

Mats hörte eine männliche Stimme im Hintergrund, die ihm vage bekannt vorkam, die er aber nicht wiedererkannte.

»Wir haben Besuch, den ich Ihnen gleich vorstellen werde«, erklärte Dr. Roth, der vermutlich über ein Mikrofon mit ihm kommunizierte. »Zuvor aber wollen Sie sicherlich wissen, was Ihnen passiert ist.«

Mats blinzelte.

»Auf Sie wurde geschossen. In einem Flugzeug. Sie haben die Kugel direkt in den Kopf bekommen, sie zerstörte die Verbindung von Ihrem Stammhirn zum Rückenmark.«

Normalerweise hätte Mats bei dieser Diagnose die Augen geschlossen, versucht, seine Tränen zu unterdrücken, vielleicht geschrien, mindestens aber schwer geschluckt. Doch nicht einmal das war ihm möglich, da er seine Zunge nicht mehr fühlte.

»Die Polizei hielt Sie zuerst für einen Amokläufer, aber das hat sich mittlerweile geklärt.« Dr. Roth räusperte sich. »Sie sind ein Held. Sie haben sich auf die Attentäterin gestürzt und damit Schlimmeres verhindert. Nur weil Sie die Stewardess unter sich begraben haben, konnten die Piloten die Cockpittür öffnen und die Frau entwaffnen. Die Maschine ist sicher in Berlin gelandet. Alle Menschen an Bord haben überlebt.«

Die Grille zirpte wieder, vermutlich ein Störgeräusch bei der Übertragung vom Mikro zum Kopfhörer, doch bevor es lauter wurde, fuhr der Chefarzt des Park-Klinikums fort: »Alle Passagiere mit Ausnahme der Frau, die von der Täterin erschossen wurde.«

Amelie Klopstock, dachte Mats. Die Erinnerungen an das Geschehen im Flugzeug waren so klar und präsent, als hätte er vor einer Minute noch in dem Flieger gesessen. Tatsächlich aber musste er schon Stunden, wenn nicht Tage auf der Intensivstation liegen.

»Sie sind vor zwei Stunden schon einmal aufgewacht«, hörte er Roth sagen, als hätte der seine Gedanken gelesen. Und vielleicht tat er das ja auch. Die moderne Medizin wusste noch viel zu wenig über das Syndrom, hatte aber große Fortschritte erzielt. Immerhin war es mittlerweile sogar möglich, mit Locked-in-Patienten zu kommunizieren, die nicht einmal mehr blinzeln konnten. Dazu brauchte es allerdings Wochen und Monate der Übung, bis man die Scans richtig deuten konnte, die entstanden, wenn man die Schwerstverletzten ellenlangen Interviews unterzog, während diese in einer MRT-Röhre lagen.

»Stunden nach Ihrer Einlieferung bemerkten wir, dass wir über den Lidschlag mit Ihnen kommunizieren können. Jedoch erinnerten Sie sich an nichts. Die Verletzung hatte zu einer völligen Amnesie geführt. Aus diesem Grund entschieden wir uns zu einer neuartigen, noch nie zuvor erprobten Diagnosemethode. Ich bat meinen Kollegen Professor Haberland um Hilfe. Wie Sie vielleicht wissen, ist er auf Hypnoseanwendungen spezialisiert. Da Ihr Geist absolut funktionsfähig ist und Sie im klinischen Sinne wach sind, Dr. Krüger, haben wir Sie hypnotisiert. Vielleicht können Sie sich an die Einleitung des Verfahrens nicht mehr erinnern, aber wir hoffen, dass es im Ergebnis funktioniert hat. Damit Sie den Flug in Ihrer Erinnerung noch einmal erleben, haben wir Sie über das Interface mit verschiedenen Sinneseindrücken konfrontiert. So spielten wir über die Ohrhörer die typischen Triebwerkgeräusche vom Start und während des Fluges ab. Ihr Bett ist hydraulisch und bewegt sich mit den sanften Vibrationen, die eine Flugzeugbewegung simulieren. Um Ihren Geruchssinn zu stimulieren, haben wir Ihnen ein mit Raumspray getränktes Stäbchen direkt in die Nase eingeführt.«

Mats erinnerte sich an den Duft der Klimaanlage, an den Geruch des Blutes – und an das Parfum.

Katharinas Parfum!

»Die alles entscheidende Frage, Dr. Krüger, ist jetzt: Hat es funktioniert? Konnten wir Sie mithilfe der Hypnose noch einmal in die letzten Stunden an Bord des Flugzeugs zurückversetzen? Können Sie sich jetzt erinnern?«

Mats blinzelte einmal.

»Gut, sehr gut. Das ist fantastisch. Sie fragen sich sicher, weshalb wir dieses aufwendige Verfahren gewählt haben.«

Das verschwundene Loch wurde von einem Blitz erhellt, als hätte jemand ein Foto in seinem Gehirn geschossen. Eine elektrochemische Reaktion als Folge einer kleinen Mikrofonrückkopplung, als Dr. Roth sagte: »Professor Klopstock wird Ihnen alles erklären.«