69.

Hirsch

Bald nehm ich Eintritt«, maulte der asthmatisch keuchende Wachmann, der kaum in seine blaugraue Uniform passte. Geschweige denn in das Fahrzeug der Firma M&V Security, aus dem er sich vorhin mit gequältem Gesichtsausdruck geschält hatte.

Er zählte an einem absurd großen Schlüsselring den passenden Schlüssel für das Vorhängeschloss ab und öffnete es für Polizeihauptkommissar Hirsch und die zwei uniformierten Beamten, die ihn bei der Suche nach Felicitas Heilmann unterstützten. Ein Mann mit dem Gesicht eines Chorknaben und eine noch jünger aussehende Frau, alle frisch von der Polizeischule. Was man halt so zugeteilt bekam, wenn man von null auf plötzlich in Berlin eine Vermisstensuche anleierte. In Filmen knallte immer gleich ein schwarz vermummtes und bis an die Zähne bewaffnetes SEK-Team mit einem Rammbock durch die Tür. In der Realität zog man mit einem schnaufenden Obelix-Double und zwei Grünschnäbeln im Schlepptau durch muffige Kuhställe.

»Das ist jetzt schon das dritte Mal in vierundzwanzig Stunden, dass sich jemand für das Elend hier interessiert«, schimpfte der Wachmann, der sich als Helmuth Müller vorgestellt hatte. Im Augenblick hatte er große Mühe, mit dem Polizeihauptkommissar Schritt zu halten.

Mann, ich bring ja schon die Waage zum Quietschen, aber der kann einen Hula-Hoop-Reifen als Gürtel tragen, dachte Hirsch, als er sich zu dem Wachmann umdrehte.

»Wer war noch alles hier?«

Müller watschelte ihm wie ein Pinguin hinterher.

»Erst die Studenten gestern, die hier unerlaubt einen Porno drehen wollten. Dann der Bräutigam, der seine ausgebüxte Frau gesucht hat, und nun Sie.«

Hirsch gab den beiden uniformierten Begleitern ein Zeichen, sich aufzuteilen. Das Mädchen sollte vorne, der Jüngling im hinteren Teil der Halle suchen, während er das Gatter im letzten Drittel inspizierte, zu dem der Wachmann ihn jetzt geführt hatte.

»Ein Porno?«, fragte er mit Blick auf das Kamerastativ und die sekretverschmierte Krankenliege.

»Haben sie jedenfalls behauptet. Ich hab sie natürlich sofort rausgeschmissen.«

Natürlich.

»Und Sie haben das Zeug hier einfach so stehen lassen?« Hirsch zeigte auf Stativ und Liege.

Der Wachmann kratzte sich sein Doppelkinn und schnaufte: »Wieso nicht? Ich meine, hier liegt so viel Müll herum, und irgendwann machen sie das Kombinat doch eh platt. Frag mich ohnehin, weshalb ich hier den Wachonkel spielen soll.«

Hirsch begutachtete die verschmierte Plastikoberfläche der Liege und wunderte sich über einen Abdruck auf dem staubigen Spaltboden direkt daneben. Es sah aus, als ob hier vor Kurzem eine Kiste gestanden hätte.

»Was war mit Janek Strauss?«, fragte Hirsch.

»Mit wem?«

»Dem Verlobten, der seine Braut suchte.«

»Ach so, der!« Der Wachmann kratzte sich wieder. »Wusste nicht, dass der so heißt. Mann, der hat gestern Abend vielleicht einen Terz gemacht. Hab ihn aber nicht reingelassen. Ich meine, das ist verboten. Er hat ja keinen Durchsuchungsbefehl oder so was gehabt.«

»Beschluss«, korrigierte ihn Hirsch.

»Wie?«

»Das heißt Durchsuchungsbeschluss. Und als Zivilist hatte er den sicher nicht. Sie sind sich sicher, dass er Sie nicht mit einem anderen Dokument aus der Bundesdruckerei überzeugen konnte?« Hirsch rieb Daumen und Zeigefinger in eindeutiger Geste aneinander.

»Hey, ich bin ein ehrlicher Bürger.«

»Hm«, murmelte Hirsch zu sich selbst. »Und Trump ein Feminist.«

»Was war das?«

Hirsch winkte ab, gleichzeitig hörte er den jungen Polizisten aus einiger Entfernung durch die Halle rufen: »Herr Kommissar, das sollten Sie sich vielleicht mal ansehen.«

Hirsch trat aus dem Stallbereich in den Gang, durch den früher die Tiere und Futterwagen getrieben worden waren, und machte sich auf den Weg zu seinem Kollegen.

Er stand im äußersten Bereich der Baracke, etwa fünfzig Meter vom Eingang entfernt, und deutete auf eine Treppe, die nach unten führte.

»Was gefunden?«

»Ich fürchte, ja. Aber es wird Ihnen nicht gefallen.«

Hirsch borgte sich vom Wachmann eine Taschenlampe und stieg hinter seinem Kollegen die Gitterstufen nach unten, dem modrigen Geruch entgegen.

»An der anderen Seite, am Eingang, da, wo die Tuss…, also, wo Ihre Kollegin sucht, da gibt es noch einen anderen Kellerzugang«, hörte Hirsch den Wachmann hinter sich sagen, doch dafür interessierte sich der Kommissar vorerst nicht.

»Hier«, sagte der junge Polizist unnötigerweise.

Hirsch hatte auch so erkannt, was seine Aufmerksamkeit erregte.

»Ich bin ja nicht blind«, murmelte er und leuchtete auf die hölzerne Abdeckung, die unter Garantie den Abgrund im Boden verschlossen halten sollte, der nun vor ihnen gähnte.

Hirsch trat an die Kante und leuchtete in eine Art Schacht hinein.

Großer Gott …

Er hielt sich die Hand vor den Mund. Auch der junge Polizist keuchte, obwohl man im Grunde gar nicht so viel erkennen konnte. Nur erahnen.

Der Lichtkegel ihrer beider Lampen streifte erst ein rot durchtränktes Stück Stoff, dann den blutigen Rest des reglosen Körpers.

»Scheiße, verdammt«, dachte Hirsch, dann sagte er es laut, und schließlich sprach der Kommissar die Wahrheit aus, an der es keinen Zweifel mehr geben konnte: »Wir kommen zu spät.«