71.

Livio

Er wusste nicht, welcher Teufel ihn hier ritt, aber er konnte nicht einfach zu Hause vor dem Fernseher sitzen bleiben und so tun, als hätte er nichts gesehen.

Wobei Livio sich nicht einmal sicher war, ob er überhaupt etwas gesehen hatte. Gestern. Als er noch einmal zum VEB-Fleischkombinat zurückgefahren war, um nach Feli zu sehen.

Schön, ein elfenbeinfarbenes Taxi, das mit abgeschraubtem Schild ein aufgegebenes Industriegelände verlässt, war schon etwas merkwürdig.

Aber vielleicht hatte der Fahrer dort nur eine Lieferung abzugeben oder hatte Drogen kaufen oder Müll entsorgen wollen, da gab es Hunderte Möglichkeiten. Allerdings hatte Feli gesagt, dass der Typ, nach dem sie suchten, den Chauffeur für Klopstock spielte und sie deshalb nach einem Taxi auf dem Gelände der ehemaligen Fleischfabrik hatten Ausschau halten sollen. Auch die Tatsache, dass er jetzt ohne Fahrgast über vierzig Kilometer Richtung Norden in die brandenburgische Walachei gegurkt war, um hier am Arsch der Welt bei einer weiteren Industriebrache zu halten, machte die Sache nicht weniger mysteriös.

Allerdings hatte Livio hier sonst nichts Verdächtiges sehen können, nachdem er ihm im gebührenden Abstand gefolgt war. Weder hatte der Taxifahrer seinen Kofferraum geöffnet und eine Leiche oder sonst was herausgeholt, noch hatte er Schreie gehört oder gar Kampfhandlungen beobachtet. Er war im Gegenteil noch nicht einmal ausgestiegen.

Der Fahrer war einfach eine Stunde sitzen geblieben, hatte stur in die Gegend gestarrt, und irgendwann war es Livio dann doch zu dumm geworden.

Wird schon alles gut gehen, hatte er sich gedacht, den Rückwärtsgang eingelegt und war wieder nach Hause gefahren.

Das war gestern.

Und heute bin ich noch bekloppter.

Der Gedanke an Feli und einen möglicherweise geisteskranken, unberechenbaren Taxifahrer hatte ihn nicht mehr losgelassen, zumal die Ärztin noch immer nicht an ihr Handy ging. Es war ausgeschaltet.

Am Tag der Hochzeit und danach?

Nein, Livio konnte es sich noch so sehr einreden, dass sie ihre Flitterwochen-Ruhe haben wollte, sein Bauchgefühl war mit dieser Selbsthypnose nicht zu beruhigen.

Was, wenn der Fahrer ihn gestern bemerkt hatte? Er war ja nicht gerade darin ausgebildet, Menschen zu beschatten, und vielleicht war der Sicherheitsabstand doch nicht groß genug und er insgesamt zu auffällig gewesen?

Einen kurzen Moment hatte er wirklich mit dem Gedanken gespielt, die Polizei anzurufen, doch das war nicht die schlaueste Idee für jemanden, den die Bullen wegen seines Vorstrafenregisters auf dem Kieker hatten. Feli selbst hatte es ihm zudem mehrfach verboten, und wer weiß, vielleicht sehe ich ja nur Gespenster, und es ist alles bestens?

Wobei, nein. Danach fühlte es sich nicht an.

Als die innere Stimme mit ihren »Da ist was faul«-Rufen keine Ruhe geben wollte, hatte er sich heute Nachmittag noch einmal auf den Weg hier raus gemacht, den ganzen langen Weg ins Oberhavelland, und sich letztlich kaum darüber gewundert, dass das Taxi noch immer vor der Scheune stand.

Im Grunde war er sich dessen sogar sicher gewesen. Sein Bauchgefühl hatte ihn noch nie im Stich gelassen.

Hier lief gerade etwas entsetzlich schief.

Der Fahrer des Taxis, das seit gestern keinen Millimeter mehr gefahren war, saß selbstverständlich nicht mehr am Steuer.

Er bewegte sich. Langsam, aber zielstrebig.

Von seinem Versteck hinter den alten Wassertanks beobachtete Livio, wie der langhaarige, schlaksige Studentenverschnitt aus einem Bauwagen stieg und über den matschigen Hof der Anlage schlurfte, bis er in einem grau verwitterten Klinkerbau verschwand. Mit einem gelben Plastikkoffer in der einen und einer Kamera in der anderen Hand.

Verdammt, was hat der vor?

Sosehr sich Livio auch anstrengte, hier von seinem Platz aus konnte er keinen Blick ins Innere des Gebäudes werfen, als der Taxifahrer die Tür öffnete.

Er sah weder Felicitas noch Nele.

Aber wenn er sich nicht irrte, dann hörte er eine von beiden gerade um ihr Leben schreien.