74.

Nele

Nele sah, wie Franz zuerst die Kamera fallen ließ und dann neben ihr blutüberströmt zusammensackte. Er gab keinen Laut von sich, nicht einmal ein ersticktes Stöhnen, als er mit dem Gesicht ohne jegliche Abwehrbewegung frontal auf den Stahlboden schlug.

Das splitternde Geräusch der brechenden Nase und die aufknackende Schädeldecke erinnerten sie an den grauenhaftesten Moment im Schacht. Als sie sich der Rettung schon einmal sicher gewesen war und das Dunkel über ihr sich ein wenig lichtete, weil jemand die hölzerne Abdeckung entfernt hatte.

Jemand, der all ihre Hoffnungen mit nur einem einzigen Wort zerstörte, indem er »Verrecke« rief und dann das Verlies wieder schloss.

Ebendieser Jemand, der jetzt zurückgekommen war, um sie noch einmal zu verraten.

»David«, wollte Nele den Namen ihres Ex-Freundes brüllen, aber ihrem Mund entrang sich nicht sehr viel mehr als ein zerbrochenes Flüstern, so sehr schnürte ihr die Angst die Luft ab.

»Livio«, korrigierte er sie lächelnd. »Ich nenne mich jetzt wieder bei meinem richtigen Namen. Ich hab keine Lust mehr auf billige Zaubertricks. David Kupfer hat ausgedient.«

Er schmiss den Ziegelstein neben dem toten Franz zu Boden, wischte sich den Staub von seinen Handschuhen an der Jeans ab und sah sich im Kühlraum um.

»Wieso?«, schrie sie ihn an.

»Das fragst du noch? Du hast mich angesteckt, du Schlampe.«

Er zitterte vor Wut, Adern pochten an beiden Schläfen. »Nicht nur, dass du mir ein Balg andrehen wolltest. Ich muss jetzt auch ein Leben lang in die Wedding-Klinik, wie du. HIV-positiv. Das ist deine Schuld.«

In einem weiteren Anfall des Jähzorns packte er den toten Franz beim Kragen, riss seinen Körper nach oben und zerrte ihn in Neles Richtung.

»Dann war das hier alles dein Plan?«, sagte sie fassungslos.

Sie fragte sich, wie es sein konnte, dass er sich in kürzester Zeit von einem gewaltbereiten Stalker in einen aktiven Mörder verwandelt hatte.

»All das, weil ich dich angesteckt habe? Und weil du für dein Baby nicht zahlen willst?«

»Spinnst du?« Er riss Franz einen halben Meter weiter. »Ich hab mit dem Irren nichts zu schaffen. Aber er ist ein Gottesgeschenk. Deine gerechte Strafe.«

Spucke sammelte sich beim Sprechen in seinen Mundwinkeln.

»Als du mich rausgeschmissen hast, wollte ich dich nur ärgern und hab ›Geschenke‹ in deiner Wohnung verteilt.«

Nele erinnerte sich an die Rasierklinge zwischen den Polstern.

»Doch als ich dann meine Diagnose bekam, wollte ich dich so platt sehen wie die Reifen, die ich zerstochen habe.«

Und so tot wie die Ratte, die du mir im Körbchen vor die Tür gestellt hast.

»Aber ich hatte keinen Plan. Im Unterschied zu dem Spinner hier. Mann, du hast es anscheinend echt drauf, uns Männern auf den Sack zu gehen. Keine Ahnung, wieso er so sauer auf dich war, aber was er hier mit dir anstellt, gefällt mir gut.«

»Wieso bist du zurückgekommen?«

»Weil ich Sorge hatte, dass der Psycho das hier nicht bis zum Ende durchzieht. Und siehe da, es ist so, wie ich es befürchtet habe: Du bist tatsächlich noch am Leben. Apropos, wo ist Feli?«

»Wer?«

Er ließ die Leiche fallen, etwa einen halben Meter von dem Bett entfernt, an das Nele gefesselt war.

»Felicitas Heilmann. Die Ärztin, die dich gesucht hat.«

»Die lässt du in Ruhe!«

»Sagt wer? Du vielleicht?« Livio winkte ab. »Mach dir keine Sorgen. Ich hab zwar mein Standardprogramm abgezogen, damit sie mir auf den Leim geht. Die ›Charmanter Gauner weckt Beschützerinstinkt‹-Nummer läuft doch immer wieder bei euch Hühnern.« Er grinste dreckig. »Aber ich wollte ihr nicht an die Wäsche. Nur, dass sie mich zu dir führt. Und jetzt will ich, dass sie die Schnauze hält. Also, wo steckt sie?«

Neles Magen zog sich zusammen. Auf einmal spürte sie eine heftige Traurigkeit in sich. Die Tatsache, dass sie allein und verlassen und verloren war, hatte sich ihr noch nie so deutlich offenbart.

»Mach mit mir, was du willst, Livio. Schlag mich, wie du mich früher geschlagen hast, du jähzorniges Stück Scheiße. Ich werde nicht die einzige Person verraten, die mir geholfen hat.«

»Wie denn geholfen?«

Livio griff sich den Stein vom Boden, mit dem er Franz erschlagen hatte, und Nele redete schneller in der entsetzlichen Erwartung, in wenigen Sekunden das Schicksal ihres Entführers zu teilen.

»Franz hat sie übel mit einer Eisenstange verletzt, aber sie war noch in der Lage, mir bei der Entbindung zu helfen. Es gab Probleme mit der Nabelschnur. Ohne sie wäre ich draufgegangen. Feli hat mich versorgt.«

Livio blieb zwei Armlängen von ihr entfernt stehen. Der Stein wechselte von einem Handschuh in den anderen.

»Hast du ihr von mir erzählt? Weiß sie, wer ich bin?«

Nein, verdammt. Glaubst du, wir hatten Zeit für lange Unterhaltungen?, dachte Nele wütend, aber sie wusste natürlich, was Livio mit dieser Frage eigentlich herauszufinden versuchte. Er wollte wissen, ob es mit Feli eine Mitwisserin gab, die bezeugen konnte, dass er Nele im Loch gefunden und im Stich gelassen hatte.

Dass er ein Mörder war, der die Taten eines anderen für seine Zwecke ausnutzte.

»Ja«, log Nele daher. »Ich habe Feli alles von dir erzählt. Sie weiß, wer du bist. Wenn du mich jetzt tötest, weiß die Polizei, wer es war, und du sitzt ein Leben lang hinter Gittern.«

Livio stutzte kurz, dann lachte er schallend. »Du lügst. Ich kenne dich zu gut.«

Immer noch kichernd, zog er Franz erneut nach oben, diesmal packte er ihn an den langen Haaren, griff ihn dann unter den Armen und stieß ihn Nele entgegen, die unter dem Gewicht ihres toten Entführers auf dem Metallbett begraben wurde.

Angeekelt wand sie sich unter ihm, schob den reglosen Körper von der Liege.

»Du willst es so aussehen lassen, als ob es Franz war?«, schrie sie, als sie sich befreit hatte, vom Blut des Entführers besudelt. Sie wischte sich wie besessen mit der einen freien Hand über das Gesicht, verschmierte damit aber alles. »Glaubst du im Ernst, damit kommst du durch? Den Kindsvater verdächtigen sie als Ersten.«

Livio schüttelte den Kopf und zeigte auf die Kamera am Boden. »Es gibt ein Video, wie der Typ dich quält. Und es existiert keine einzige Verbindung zwischen mir und dem Irren.« Er lachte wieder zynisch. »Ja, ich glaube, damit komme ich durch.«

Livio warf den Stein neben Franz’ Leiche zu Boden. So weit entfernt von Nele, dass sie nicht an ihn rankam. Aber nah genug, um den Ermittlern zu suggerieren, dass sie ihren Entführer aus Notwehr getötet hatte, während der sich ihr unvorsichtig näherte.

Die Frage ist nur, was Livio mit mir vorhat?, dachte Nele panisch. Will er mich auch erschlagen? Oder einfach noch einmal zurücklassen?

Sie sah zur Tür und musste gegen ihren Willen lächeln.

»Außerdem war ich extrem kooperativ«, sagte Livio, doch sie hörte ihm kaum noch zu. »Du hast mich noch vor unserer Trennung bei deinem Frauenarzt als Kindsvater angegeben. Ich bekam heute einen Anruf von einer Schwester aus dem Park-Klinikum. Dein Vater liegt dort im Koma.«

»Was?« Jetzt hatte er wieder ihre volle Aufmerksamkeit. »Was hast du da gerade gesagt?«

»Sie wollen irgendwie den Kontakt zu ihm herstellen und haben mich nach deinem Parfum gefragt.«

Mein Vater liegt im Koma?

»Was ist passiert?«

Livio gab ihr keine Antwort, oder er hatte ihre Frage falsch verstanden, jedenfalls sagte er nur: »Er liegt wohl im Sterben. Ich dachte mir, dein alter Herr will ganz bestimmt nicht mit der Erinnerung an seine aidskranke Nuttentochter den Löffel abgeben. Hab ihnen gesagt, es wäre Shangril, der Ekel-Duft, den du als Andenken an deine Mutter in deinem Bad aufbewahrt hast. Erinnerst du dich daran, wie du mich mal gezwungen hast, daran zu riechen? Als ob mich interessiert hätte, wonach deine Mutter gestunken hat, als sie noch lebte. Na ja, am Ende war es ja doch zu etwas gut. Shangril wird nicht mehr hergestellt, aber ich war sogar so zuvorkommend und hab denen die Adresse eines Restposten-Ladens in Friedrichshain verraten.«

Nele schloss die Augen. Nach all den Schmerzen, die sie in den letzten Stunden hatte erleiden müssen, körperlichen wie seelischen, nach all dem, was ohnehin schon an ihrem Verstand gezerrt und gerissen hatte, war sie mit der Vorstellung, dass nun auch ihr Vater im Sterben lag, an die Grenze ihrer Leidensfähigkeit gestoßen.

»Du hast einen großen Fehler gemacht«, war alles, was sie noch sagen konnte. Leise, ruhig, wie in einer problembehafteten, aber völlig gesitteten Unterhaltung.

»Mit dem Parfum?«, fragte Livio.

»Nein, mit dem Stein.«

»Ich trage Handschuhe, da sind keine Fingerabdrücke drauf.«

»Das meine ich nicht. Franz hatte ihn als Türstopper benutzt.«

Sie beobachtete, wie Livio zum Ausgang blickte. Sah, wie seine Augen sich weiteten, wie sie ihm fast aus den Höhlen zu fallen drohten, während er registrierte, was ihr schon vor einer Weile aufgefallen war: Die Tür der Kühlkammer war ins Schloss gefallen. Und damit verriegelt.

Rasch drehte Livio sich um, war mit zwei schnellen Schritten am Ausgang und tastete das Aluminiumblatt ab.

»Die Mühe kannst du dir sparen«, flüsterte Nele und beugte sich mit allerletzter Kraft nach unten. Streckte ihren freien Arm nach der Leiche aus.

Livio suchte derweil vergeblich nach einem Griff oder einem anderen Öffnungsmechanismus. Aber da war nur ein in die Tür eingelassenes Loch für einen Sicherheitsschlüssel.

»Wir sind gefangen. Und zwar in einem luftdicht versiegelten Gefängnis«, sagte Nele, obwohl sie sich dessen nicht sicher war. Aber nach all der Angst, die sie hatte ausstehen müssen, fühlte es sich gut an, den Spieß umzudrehen und bei Livio Panik auszulösen.

»Nein. Neeeeein. Nein, das kann nicht sein«, brüllte er und schlug und trat wie ein Besessener gegen die Tür.

Nele hatte unterdessen gefunden, was sie wollte, und zog ihre Hand aus der Tasche von Franz’ Anorak zurück.

In diesem Moment drehte Livio sich zu ihr um, und sie erstarrte in der Bewegung.

»Was hast du da?«, wollte er von ihr wissen.

Sie krampfte die Finger ihrer gefesselten Hand zusammen.

»Ist das ein Schlüssel?«, mutmaßte ihr Ex, und sie schüttelte wenig überzeugend den Kopf.

»Na klar. Der Psycho hat einen Schlüssel bei sich.«

Mit irrem Lachen kam Livio ihr entgegen, und Nele rutschte, so gut es ging, auf dem Bett von ihm ab.

»Gib ihn mir.«

Livio schlug ihr in den Magen und beugte sich zu ihr herab. Sie stöhnte auf, gab aber nicht nach. Er bog ihre Finger auf, die sie geschlossen hielt, aber gegen seine Kraft kam sie nicht lange an.

»Was ist das?«, fragte er verblüfft, als sie ihm endlich den Inhalt ihrer Handfläche präsentierte.

»Kaugummis«, sagte sie wahrheitsgemäß.

Die hatte Franz in seiner Jackentasche gehabt. Nele hatte sie mit der rechten, freien Hand gegriffen und in ihre linke getan.

»Kein Schlüssel?«, fragte Livio, blass vor Enttäuschung.

»Nein«, sagte Nele, erschöpft, aber zu allem bereit.

»Kein Schlüssel. Wir werden hier gemeinsam sterben.«

Dann zerschnitt sie ihm den halben Augapfel, die Wangenpartie und zerfetzte Livios Halsschlagader mit dem Teppichmesser, das sie ebenfalls in der Tasche ihres Entführers gefunden hatte.